Achtung: Pathoswarnung.
Ich bin Journalist geworden, weil ich an das Prinzip der Öffentlichkeit glaube. Es ist zwar nicht erwiesen, dass die Menge weiser ist als der einzelne. Es gibt sogar genug Beispiele, die das Gegenteil plausibel erscheinen lassen. Nicht nur in der Geschichte: Es gibt auch heute immer wieder Hetzmassen, shit storms, Konsensdruck und Einheitsdenken – viele Phänomene, gegen die der mutige, unangepasste Einzelne (der wir oft genug nicht sind) hochgehalten und geschützt werden muss.
Aber ungeachtet dessen ist das Prinzip der Öffentlichkeit ein hoher Wert. Die Rationalität politischer und gesellschaftlicher Entscheidungen hängt daran, dass deren Gründe öffentlich zur Debatte gestellt und die Folgen frei diskutiert werden können. Ohne Öffentlichkeit keine Selbstkorrektur unserer Gesellschaft. Wir bilden uns Kenntnisse über Personen, Verfahren, Institutionen, Motive, Programme, Kosten und Konsequenzen in der Öffentlichkeit (durch die Medien). Wir verständigen uns über Absichten, Mittel und Ziele unseres gemeinsamen Handelns, aber auch und gerade über Divergenzen und Interessengegensätze.
Ich arbeite seit genau 20 Jahren im klassischen Medium der Öffentlichkeit: der Zeitung mit ihren uralten Formen des Leitartikels, des Feuilletons, der Kritik, der Reportage. Ich habe schon mehrere Zeitungskrisen überlebt und bin darum etwas abgebrüht angesichts der jetzigen: Vertriebswege und Formen werden sich ändern, aber die Funktion der freien Öffentlichkeit ist so elementar für jede freiheitliche Gesellschaft, dass mir um den Journalismus nicht bang ist.
Seit fast zehn Jahren tummele ich mich auch in neuen Formen der Öffentlichkeit, dank meinem Arbeitgeber, der es duldet und die Sache finanziert. Über 1.800 Beiträge sind auf diesem Blog veröffentlicht worden, und dazu sind über 170.000 Kommentare erschienen. Bei den Seitenaufrufen liegen wir satt über 4 Millionen, und dabei ist nicht einmal von Anfang an gezählt worden. Es ist eine andere, aufreibende Form von Öffentlichkeit, die ich zu schätzen gelernt habe, auch wenn manches daran gewaltig nervt.
Man wird hier gezwungen, sich viel direkter mit Einsprüchen und Widersprüchen auseinanderzusetzen. Als ich letztens auf einer Reise Kommentare zu einem Blogeintrag las, dachte ich: es ist ein wenig, als ob das deine inneren Stimmen sind. Diese Kommentatoren bringen deine Selbstzweifel zum Ausdruck, und zwar viel krasser, als du es je tun würdest. Ist doch gut so! Manche von denen benutzen dich als punching bag für ihre eigenen Aggressionen. Sie schlagen auf dich ein, um an deinem Exempel ihre eigenen Selbstzweifel niederzukämpfen. Manche scheinen dich regelrecht zu hassen, aber dennoch kommen sie jeden Tag wieder, um sich an dir (oder was sie dafür halten) abzuarbeiten. Eigenartig.
Anonymität ist ein Problem, da sie in unseren Verhältnissen nicht zum Schutz der Meinungsfreiheit vor irgendwelchen Autoritäten (staatlich, familiär, traditionell) nötig ist. (Im Iran, in China, in weiten Teilen der arabischen Welt ist sie natürlich unabdingbar.) Allzu oft wirkt sie als Ermächtigung zur ungehemmten Aggression, zum Heckenschützen-Gepöbel. Aber wir üben ja alle noch mit diesem neuen Medium, ein Comment wird sich herausbilden. Die Exzesse werden verschwinden und uns allen mächtig peinlich sein.
Das Internet ermöglicht starke Selbstselektion. Man sucht und findet nur noch seinesgleichen und klopft sich im Kreis auf die Schulter. Das ist das Problem solcher Blogs wie „Achse des Guten“ und stärker noch „PI“. Linke Pendants gibt es wahrscheinlich, sie fallen mir aber bezeichnender Weise nicht ein. Das Internet ist eher ein „rechtes Medium“, wie mir scheint. Anti-elitär, anti-intellektuell, die Neigung zu selbstselektionierenden Meinungsverstärkung fördernd – nicht so sehr den Zweifel, den Einspruch, das Ausprobieren und Ausloten anderer Gedanken. Das ist ein bisschen schade, denn es gibt ja doch so viel zu entdecken. Sagenhaft, in welche Denk-Welten man da eintauchen kann. Aber vielleicht passiert ja auch gerade das auf diese agonale Weise, die hier in den Kommentarspalten üblich ist.
Manchmal muss ich tageweise wegschauen, um mich nicht zuviel aufzuregen und unproduktiv zu werden. Man ist als Blog-Betreiber sehr exponiert. Fehler, Meinungsumschwünge, Inkonsistenzen werden einem gnadenlos vorgehalten. Ist schon in Ordnung: Es schärft die Selbstwahrnehmung. Man muss sich dann öfter entscheiden, auch gegen den Mainstream bei einer Position zu bleiben. Oder aber einzuräumen, dass man sich getäuscht hat, oder von einem Eindruck aus der Kurve getragen wurde. Lernen auf offener Bühne ist schmerzhaft und greift die natürliche Eitelkeit an, ohne die sich niemand derart exponieren würde.
Das Bild mit den „inneren Stimmen“ ist natürlich eine Frechheit meinerseits. Es soll ja auch nur die Wirkung des Kommentarbereichs auf mich beschreiben. In Wahrheit sind da viele sehr eigene Stimmen dabei, die sich oft auch gar nicht an mich richten, sondern untereinander Streit austragen, der für mich wiederum lehrreich ist. Oft genug gebe ich hier nur den Anlass für eine Konversation ab, die sich dann von mir und dem Blogtext entfernt. Auch das ist ok.
Ich will weiterhin nahezu nichts löschen, niemanden dauerhaft blockieren und ein maximal großes Meinungsspektrum zulassen, bis an den Rand des Justitiablen. Persönlich beleidigende, saudumme oder meine Zeitung (die es möglich macht, dass wir uns treffen) herabsetzende Kommentare lösche ich ohne weitere Begründung. Wir sind hier liberal, aber nicht doof, oder feige.
Und ich möchte die Gäste in diesem Debatten-Partykeller durch solche Eingriffe auch sanft daran erinnern, dass wir hier nicht unter uns sind, sondern dass wir eine neue Form der Öffentlichkeit bauen, Stück um Stück, Post um Post, Kommentar um Kommentar.
Dieses Blog wird viel gelesen – und von vielen Lesern ernst genommen -, was mich überaus freut. In der letzten Woche erst habe ich zwei Mal Post von der VGWort bekommen, aus der hervorging, dass (alte) Texte aus diesem Blog in Schulbüchern (!) bzw. Unterrichtsmaterialien-Heften nachgedruckt worden sind. Cool. Dies auch zur Erinnerung an die lieben Mitblogger: das Imperium liest mit.
Die Erfahrung, die ich mit dem Medium Blog mache, sind in einem Zitat von Margret Boveri, der großen Journalistin, sehr schön aufgehoben. Darum stelle ich es hier ans Ende, auch wenn es etwas pathetisch klingt:
„Ich fühle mich fähig, entgegengesetzte Elemente in mir zu beherbergen und jedem zu seinem Recht zu verhelfen. Der Preis dafür ist, daß ich auf die Frage, ob ich links oder rechts, konservativ, liberal oder revolutionär sei, keine Antwort weiß. Die Koinzidenz der Gegensätze ist mir als eine immer neu zu bewältigende Aufgabe klargeworden. Wenn ich mich zu einer Partei bekennen soll, dann zu der, die nicht das Entweder-Oder, sondern das Sowohl-als-Auch bejaht. Das ist nicht die Bereitschaft zu einer Abfolge von faulen Kompromissen. Es entspringt der Überzeugung, daß wir im Ausharren in der Polarität der Gegensätze die unauflösliche Tragik des menschlichen Lebens erfahren können, die nicht mit gutem Willen und nicht mit dem Verstand aufzulösen ist, in der wir aber, sofern wir sie anerkennen, wenn auch noch so selten einmal den Schlüssel finden mögen, der die Gegensätze bindet und löst.“