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Schreibwettbewerb: Die Herzensdiebe

 

© Sabine Wilharm
© Sabine Wilharm

Von Paula Elena Hoffmann (10 Jahre)

Schreiend rannte Florian aus dem Haus. Tränen liefen ihm über die Wange. Nein. Nein, es konnte einfach nicht passiert sein. Doch das unmögliche war geschehen. Seine Eltern trennten sich! Einfach so! Ohne ihn zu fragen! Und das obwohl sie erst vor zwei Wochen ihren Sommerurlaub geplant hatten! (Sie waren sehr spontan.)Und wohin wollte er nun gehen? Nach Hause bestimmt nicht! Oben am Fenster sah er schon seine Mutter stehen, und dann wie sie seinen Vater anschrie. Wenig später hörte man Gepolter im Treppenhaus und Florian kam zu dem Entschluss, dass es an der Zeit war, abzuhauen.
Er würde zum Hauptbahnhof rennen und sich dort in irgendeine S-Bahn setzen, die ihn weit fort von hier bringen würde. Außerdem fiel er dort in der Menge nicht so auf.
Beim Rennen über geteerte Straßen und gepfastert Gehwege wurde für ihn deutlich spürbar, dass er barfuß aus dem Haus gerannt war. Es erschien ihm wie eine halbe Ewigkeit, bis er endlich in dem Getummel vom Hauptbahnhof verschwand. Er stieg in die nächstgelegene S-Bahn, wobei ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Er war wahnsinnig. Einfach durchgeknallt. Verrückt. Von zu Hause ausgerissen! Doch er brauchte nur an die Beziehung seiner Eltern zu denken und er wusste, dass es die richtige Entscheidung war. An alles andere dachte er lieber nicht.
Die Fahrt war eine einzige Katastrophe. Er zweifelte immer mehr an seinem Plan und traute sich dennoch nicht, bei den Haltestellen auszusteigen und zurückzufahren. Zudem fühlte er sich schrecklich mies zwischen den fein gekleideten Leuten, während er barfuß war!
Endlich hatte er die Endhaltestation erreicht und stieg aus. Zögernd sah er sich um. Weiter hinten war ein Dorf und darauf steuerte er jetzt zu. Er wusste auch nicht genau warum. Er ging durch einen kleinen Buchenwald. Es war schön hier, viel schöner als zuhause in der Stadt.
Plötzlich hörte er Stimmen. Sie sprachen leise miteinander, fast flüsternd. Florian erschrak. War das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Er beschloss, herauszufinden, was sie sagten. Langsam schlich er näher. Sie faselten irgendwas von Zauberformeln, wovon er nichts verstand. Er wollte gerade wieder weggehen, als die eine Stimme rief: »Wer immer uns da belauscht, soll sich zeigen!«
Wie ein Blitz durchfuhr es Florian. Langsam kroch er hinter dem Busch hervor, der ihm doch so guten Schutz geboten hatte. »Äh, hallo, ich bin Florian«, brachte er stotternd hervor. Das Mädchen betrachtete ihn skeptisch, Gott sei Dank, es waren Kinder! Es waren drei. Drei gegen einen. Aber vielleicht waren sie ja gar nicht gegen ihn. Der Junge war etwas 5 Jahre alt, hatte ein Piratenkostüm an und versteckte sich hinter dem Rücken des anderen Mädchens. Sie war etwa 10 und auch sie trug ein Kostüm. Allerdings kein Piratenkostüm, sondern das eines Indianers. Und dann war da noch dieses Mädchen, das die ganze Zeit das Wort führte und dessen Alter er nicht so recht bestimmen konnte.
»Ich bin Selina«, sagte das Mädchen. »Und das sind«, sie wies mit einem Kopfnicken auf die anderen beiden Kinder, »Lilly und Rico. Sie sind Geschwister.« Rico traute sich jetzt langsam hinter dem Rücken seiner Schwester hervor und betrachtete Florian neugierig. »Aha«, sagte Florian. Wahrscheinlich fragten sie sich jetzt, woher er kam. Da sie sehr nett wirkten, beschloss er, ihnen die Wahrheit zu sagen.
»Ich bin von zu Hause ausgerissen, weil meine Eltern sich scheiden lassen wollen.« Mehr hatte er nicht vor, zu erzählen. »Und woher kommt ihr?« Die beiden Mädchen wechselten einen unsicheren Blick. »Ach, äh, wir sind gern ein bisschen im Wald«, meinte Stena darauf leichthin. »Wohnt ihr drüben im Dorf?«, fragte Florian. »Also, ich meine, kennt ihr da welche, die ein Zimmer vermieten?« Er wusste auch nicht, warum er das fragte. Selina lachte, »weder noch!« Enttäuscht blickt Florian zu Boden. Das waren Kinder, die mit ihren Eltern einen Sonntagsausflug machten und ihm nicht helfen konnten. Doch dann hörte er Lilly, das andere Mädchen, im Flüsterton sagen: »Selina, seine Eltern trennen sich! Vielleicht kann er uns helfen!« »Aber wir dürfen unser Geheimnis keinem anderen sagen!« Mehr verstand Florian nicht, aber es hörte sich spannend und für seine Lage positiv an.
Lilly ging zu ihm. Zu ihrer rechten Selina und auf der anderen Seite ihr kleiner Bruder Rico. »Wir haben dir etwas Wichtiges und absolut Geheimes zu erzählen«, sagte sie mit wichtiger Miene. Aufgeregt trat Florian von einem Fuß auf den anderen Sie weihten ihn in etwas scheinbar so Wichtiges ein, und das, obwohl sie sich erst seit ein paar Minuten kannten! »Wir sind …«, sie kam jetzt mit dem Gesicht ganz nah an das von Florian, »wir sind eine geheime Zaubererbande.« Florian blieb vor Staunen der Mund offen stehen. »Das ist ja toll! Und was macht man so als Zaubererbande?«, fragte er ehrfurchtsvoll. »Man muss zum Beispiel gegen die Bösen kämpfen!«, sagte Lilly. Sie sprach darüber, als wäre das so normal wie Zähne putzen. »Wobei wir deine Hilfe brauchen könnten«, ergänzte Selina etwas spitz. »Wie kann ich euch denn helfen?«, fragte Florian erstaunt. Doch Selina schien seine Frage überhört zu haben. Denn sie rief jetzt einen anderen Namen: »Murtibal.« »Murtibal, wo steckst du denn?«, rief sie und suchte in den Büschen. Wobei es sie anscheinend überhaupt nicht störte, dass ihr langer gelber Mantel, den sie trotz der Sommerhitze trug, einige Risse abbekam. »Murtibal ist unser Zaubertier«, meinte Lilly, die mit Rico an der Hand hinter ihnen herstürmte. »Und«, fügte sie noch leise hinzu, »er ist etwas launisch«. Endlich hatte Selina das Tier gefunden. Murtibal reichte Florian etwa bis zur Hüfte und hatte den Körper eines Eichhörnchens. Er trug einen Schnurrbart und er hatte, was Florian sehr komisch vorkam, so etwas wie eine Lupe über den Augen, die wie Fühler vom Kopf abstanden (sic). »Wer ist denn das?«, fragte Murtibal mürrisch und deutet auf Florian. »Äh, ja, ich bin Florian«, sagte der und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, das das Tier, welches er noch nie gesehen hatte, ihn von oben bis unten kritisch musterte. »Das ist Murtibal, unser Hellseher«, sagte Selina. »Aha, er kann also die Zukunft voraussagen?« »Nein, nein«, lachte Lilly, »obwohl mir die Idee wirklich gefällt. Er kann«, sie überlegte, »durch die Lupe über seinem Kopf kann man durchsehen. Und dann sieht man alles viel größer.« »Und weshalb heißt er dann Hellseher?«, fragte Florian. »Also, Nachts leuchtet so eine Lampe im Glas, weshalb man auch dann gut sehen kann«, erklärte Lilly. Langsam gingen sie wieder zum Lager der Kinder, das aus einem Koffer bestand. Florian gefiel der Koffer, von außen war er braun und eher unscheinbar. Doch von innen war mit rosa Samt ausgelegt, der mit einem winzigen blauen Muster verziert war. Der Koffer war groß und diente anscheinend allen drei Kindern als Schlafplatz. Er kletterte mit Lilly hinein, wobei er fast den einen Bücherstapel umstieß. »Der gehört Selina« meinte Lilly. »Sie ist bei uns die Schlaue.« Ja, das konnte Florian sich nur zu gut vorstellen. Auch ihre Kleidung wirkte geheimnisvoll. Und ihr Gesicht blieb immer ausdruckslos. Nur das rätselhafte Lächeln, dem man nichts entnehmen konnte, blieb. Man wusste nie, was sie dachte, und Florian ertappte sich dabei, das beängstigend zu finden. Lilly und Selina waren unterschiedlich wie Tag und Nacht: Lilly der Tag, Selina die Nacht. Lilly war offen und lustig. Florian fand, dass sie eigentlich auf eine Blumenwiese gehörte.
Auf dem Boden des Koffers lag Rico. Florian hatte gar nicht gemerkt, wie er verschwunden war, und fummelte (??) an einer Ecke herum. »Er ist unser Erfinder«, erklärte ihm Lilly. »Und was bist du?« Florian sah sie fragend an. »Naja, ich mache Tricks und verdiene damit auf den Märkten ein bisschen Geld.« Florian hatte auch mal einen Zauberkasten zum Geburtstag bekommen. Aber nur die Hälfte der Tricks hatte wirklich funktioniert. Doch Lilly war ja anscheinend ein Zauberkind und brauchte für sowas bestimmt keinen Zauberkasten.
Auf einmal sagte Selina: »So, jetzt müssen wir die aber auch erzählen, wofür wir dich brauchen.« Florian zuckte zusammen. Stimmt! Daran hatte er ja gar nicht gedacht, so viel Aufregendes gab es hier. »Wir müssen die Herzensdiebe besiegen.« Lilly bekam vor Übermut ganz rote Flecken im Gesicht. »Die Herzensdiebe?« Florian sah die beiden Mädchen fragend an. »Also, die Herzensdiebe nehmen die Herzen weg, sorgen für Streit und Unruhe«, erklärte Selina, wesentlich ruhiger als Lilly. »Und deine Eltern trennen sich ja, das hat garantiert was mit den Herzensdieben zu tun«, schrie jetzt wieder Lilly. Ah, langsam verstand Florian, was Lilly und Selina von ihm wollten. Er sollte ihnen etwas von dem Streit seiner Eltern erzählen – aber darüber wusste er ja gar nichts. »Naja, ich weiß auch nicht, warum sich meine Eltern gestritten haben«, meinte er verlegen und ließ sich auf dem Kofferrand nieder. Die beiden Mädchen tauschten einen verzweifelten Blick aus und taten es ihm nach. »Naja, jedenfalls wissen wir, dass man sie durch Essig besiegen kann«, sagte Selina und fügte noch seufzend hinzu, »doch über ihren aktuellen Standort wissen wir nichts«. »Aber sie sind in der Stadt«, warf Lilly ein, viel leiser als sonst. Anscheinend hatten sie sich große Hoffnungen von ihm gemacht. »Wenn man fliegen könnte …«, meine Florian verträumt, »dann würde man sie bestimmt finden«. »Das ist es!«, ertönte es von Rico. Florian hatte ihn schon wieder nicht bemerkt. »Ich bringe den Koffer zum Fliegen. Erst hatte ich ja ans Rollen gedacht, aber fliegen ist wirklich gut.«
Nach einer halben Stunde waren die Kinder fertig. Eigentlich sah der Koffer unverändert aus. Florian hatte keine Ahnung, was passiert war, da die Kinder ihn nicht hatten zusehen lassen.
»Äh, Du«, sagte Florian verlegen zu Lilly. »Was machen wir eigentlich da oben, von dort aus können wir die Herzensdiebe doch nicht sehen.« – Hast du Murtibal vergessen?«, entgegnete Lilly genervt. Natürlich hatte er Murtibal nicht vergessen. Wie denn auch, bei all dem Gemeckere? Er hatte nur seine Gabe vergessen. Doch Florian hörte nicht auf, weiter nach Problemen zu suchen. »Und wenn wir die Herzensdiebe sehen, wie kriegen wir denn dann den Essig dahin?« Jetzt antwortete Rico, zum ersten Mal. »Dafür haben wir Janko!« Und zu Florians großem Erstaunen holte er jetzt unter seinem viel zu großen Piratenhut einen kleinen braunen Hund hervor. Er war kaum größer als Florians Hand und trug einen winzigen blauen Rucksack. »Darin ist Essig«, erklärte Selina ihm. »Mit einem Pfeil wird Janko zu den Herzensdieben geschossen, ein Tropfen genügt, um sie alle zu töten.« Florian schluckte. Janko war ja ganz schön mutig.
Er stieg in den Koffer. Zusammen wurde es ganz schön eng hier. Langsam hoben sie ab. Sie schwebten. Ein wunderbares und zugleich schreckliches Gefühl. Jetzt wurde alles für den Angriff klar gemacht: Lilly drückte ihm Pfeil und Bogen in die Hand (auf dem Pfeil saß Janko), Murtibal postierte sich vor Selina, damit sie die Herzensdiebe finden konnte und Lilly kramte ihre Karten heraus. Wahrscheinlich als Beschwörung, oder so.
»Jetzt!«, keuchte Selina, »noch ein bisschen weiter rechts, ja genau so!«. Er ließ los. Jetzt flog (sic) tief hinunter und war ohne Murtibal schon bald nicht mehr zu sehen.
Sie, die Herzensdiebe, Herrscher aller dunklen Mächte, hatten gute Arbeit geleistet. In der Stadt hatten sie heute wieder 783 569 Streite ausgelöst. Ein paar davon vielleicht sogar lebenslänglich. Der Chef wollte seinen Kollegen gerade zuprosten, als ihm ein feiner Duft in die Nase stieg. Er kannte diesen Geruch. Letztes Mal konnte er sich davor retten, doch diesmal gab es keinen Ausweg. Es war Essig! Sie fühlten, wie er nach ihnen griff. Und dann spürten sie nichts mehr. Sie lösten sich auf.
Florian würde wieder zu seinen Eltern zurückkehren. Jetzt waren sie ja nicht mehr zerstritten. Die ganze Welt lag in Frieden und Harmonie. Janko war auch wieder aufgetaucht. Keiner wusste, wie. Florian fiel der Abschied von allen schwer. Doch er wusste, dass sie ein Band zusammen hielt. Das Band des Friedens.