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Willkommen im Pott!

 

© Kirsten Neumann/ ddp
© Kirsten Neumann/ ddp

Ruhrpott oder kurz Pott nennen viele Menschen das Ruhrgebiet. Im nächsten Jahr soll ganz Europa dorthin schauen, denn dann wird die Region Europäische Kulturhauptstadt. Henning Sußebach erzählt, was dort so besonders ist

Ruhrgebiet – manchmal reicht ein einziges Wort, und die Menschen haben ganz viele Bilder vor Augen. Wenn Erwachsene zum Beispiel das Wort Ruhrgebiet hören, kommt ihnen so einiges in den Sinn, alles gleichzeitig und sehr durcheinander: Bergleute mit kohlrabenschwarzen Gesichtern. Seltsame Ortsnamen wie Castrop-Rauxel und Wanne-Eickel. Aufregende Fußballspiele zwischen Vereinen wie Borussia Dortmund und Schalke 04. Wütende Demonstranten vor rostroten Fabriken. Und ganz viel Kultur (auch wenn man sich Kultur nicht so gut vorstellen kann). Manches von dem, was Erwachsene über das Ruhrgebiet denken, stimmt heute gar nicht mehr, anderes ist übertrieben. Richtig ist aber, dass die Bergleute von früher einiges mit der Kultur von heute zu tun haben. Und das kam so:Dort, wo heute über fünf Millionen Menschen leben (mehr als in Berlin!), war vor zweihundert Jahren: fast nichts! Der Fluss Ruhr schlängelte sich beschaulich durch ein bewaldetes Tal. Städte wie Duisburg und Dortmund hatten nur 5000 Einwohner. Die meisten Menschen in der Gegend waren Bauern. Doch es gab etwas ganz Besonderes unter ihren Äckern: Kohle. Ein schwarzer Stein, der brennt und glüht. Viele Jahrhunderte lang heizten die Bauern damit ihre Häuser, sonst interessierte sich sich niemand für die Kohle. Um das Jahr 1840 passierte dann etwas, was man heute »Industrialisierung« nennt: Die Menschen errichteten große Fabriken, in denen sie Maschinen bauten. Oder Lokomotiven. Dafür brauchten sie Eisen. Und um das harte Eisen in die Form einer Lokomotive zu kriegen, mussten sie es einschmelzen. Dafür brauchten sie Kohle.

Foto: Keystone/Getty Images
Foto: Keystone/Getty Images

In kurzer Zeit wurden im Ruhrgebiet ganz viele Bergwerke gebaut, »Zechen« genannt. Im Jahr 1920 gab es 196 dieser Zechen, in denen tief unter der Erde fast eine halbe Million Bergleute arbeiteten – kohlrabenschwarz kamen sie nach Dienstschluss wieder ans Licht. Nicht nur die Bergmänner waren damals dreckig, sondern auch die Luft und die Flüsse.
Menschen von weither strömten herbei, um im Ruhrgebiet Geld zu verdienen. Die Dörfer wurden immer größer und wuchsen ineinander, zum Beispiel Castrop und Rauxel oder Wanne und Eickel. Die neuen Bewohner kamen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus anderen Ländern wie Polen. Deshalb haben viele Familien im Ruhrgebiet bis heute Namen wie Wyputta oder Szymaniak.

Foto: Fred Ramage/Keystone Features/Getty Images
Foto: Fred Ramage/Keystone Features/Getty Images

Die Arbeit im Bergwerk war gefährlich. Manchmal stürzten Tunnel und Schächte ein, Menschen starben. Die Bergleute waren sehr stolz auf ihre Leistung, trugen eigene Uniformen und sangen eigene Lieder. Die Besitzer der Bergwerke wurden reich. Einige bauten Zechen, die so schön waren wie Kirchen oder Ritterburgen. So entstand im Ruhrgebiet eine ganz eigene Kultur.
Doch nach nur wenigen Jahrzehnten gab es eine große Krise. Kohle aus anderen Teilen der Welt war plötzlich billiger. Sie kam auf Schiffen und mit Zügen nach Deutschland. Deshalb mussten fast alle Zechen schließen, später auch die Stahlwerke. So kam es zu wütenden Demonstranten vor Fabriken. Etwa 700 000 Arbeitsplätze gingen verloren. Die Politiker im Ruhrgebiet mussten sich etwas Neues ausdenken: Sie bauten Universitäten und Forschungsparks und nannten das »Strukturwandel«. Sie merkten auch, dass man in den alten, leeren Zechen und Fabriken gut Theater spielen oder Konzerte geben kann. Die Zeche Zollverein in Essen ist sogar zum »Weltkulturerbe« ernannt worden. Weltkulturerbe sind auch die Pyramiden in Ägypten.

Foto: Kirsten Neumann/ ddp
Foto: Kirsten Neumann/ ddp

Das klingt so, als habe das Ruhrgebiet die Krise ganz gut überstanden. Im nächsten Jahr wird es sogar Europas Kulturhauptstadt sein, mit noch mehr Theater und Konzerten. Doch leider hilft das nicht allen. Zwar haben viele Bergleute und Fabrikarbeiter wieder einen Job gefunden. Und darauf sind alle im Ruhrgebiet wieder sehr stolz. (Auch darauf, dass die Luft nicht mehr dreckig ist und dass Angler in der Ruhr wieder Lachse fangen. Denn diese Fische findet man nur in sauberem Wasser.) Doch noch immer sind im Ruhrgebiet mehr Menschen arbeitslos als im Rest Deutschlands. Deshalb wissen viele Leute dort bis heute nicht so recht, ob es ihnen gut geht oder schlecht. Und auch nicht, ob sie alle zusammengehören oder nicht – obwohl ihre Städte zusammengewachsen sind.

Foto: Torsten Silz/ ddp
Foto: Torsten Silz/ ddp

Wenn in der Fußball-Bundesliga zum Beispiel Dortmund gegen Schalke spielt, reden die Menschen tagelang darüber. Oft nicht nett. Dortmunder sagen: »Die Nacht ist schwarz wie Schalker Zähne.« Und die Schalker weigern sich, das Wort »Dortmund« zu benutzen. Sie sprechen von der »Stadt in der Nähe von Lüdenscheid«. Das soll eine Beleidigung sein, denn Lüdenscheid ist eine eher kleine Stadt in der Nähe von Dortmund.
Diese Fußballstreitigkeiten gehören inzwischen auch zur Kultur. Genau wie die Sprache im Ruhrgebiet, wo manche Männer ihre Frauen »Föttken« nennen (was ein anderes Wort für Popo ist) und manche Frauen ihre Männer »Dreckschippengesicht«. Das klingt wieder nach Arbeit. Und erklärt das Ruhrgebiet sehr gut: Alles, was dort bedeutsam ist, haben die Menschen in ziemlich kurzer Zeit selbst geschaffen. Die Zechen, die Sprache, sogar die Berge. Das waren früher Halden, auf denen Bergleute Steine abkippten. Heute wächst Gras darüber.
Gerade weil im Ruhrgebiet alles von den Menschen gemacht ist, hängen die Leute sehr daran. Und sind schnell sauer, wenn andere ihre Heimat nicht sooo toll finden. Zum Beispiel, weil das Ruhrgebiet, der Name sagt es schon, nur »Gebiet« ist. Kein Rheintal und kein Riesengebirge. Das darf man aber nur schreiben, wenn man selbst »von da wech is«, wie wir im Ruhrgebiet sagen.