Einer aktuellen Studie zufolge zweifeln 90 Prozent der US-Amerikaner an Darwins Evolutionstheorie. Das brachte mich auf die Idee, die Theorie einmal mathematisch zu betrachten. Um es gleich vorweg zu sagen: Es geht mir nicht darum, Darwin zu diskreditieren oder den Anhängern des Schöpfungsglaubens Argumente zu liefern. Ich bin aber auf eine paradoxe Situation gestoßen.
Das Überleben der Schwächsten
Wir können dies im Setting eines Duells mit drei Duellanten mathematisch veranschaulichen. A sei ein unfehlbarer Schütze, der immer trifft. B habe eine Treffer-Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent, trifft also im Schnitt acht Mal bei zehn Schüssen. C habe eine Treffer-Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent. Sie stimmen mir sicher zu, wenn ich sage, dass C der untüchtigste der drei Duellanten ist.
Das Duell wird so lange fortgesetzt, bis nur noch einer steht. Es schießt immer nur ein Schütze, der stets durch Losentscheid ermittelt wird. Hat jemand Glück, ist er mehrmals hintereinander dran. Jeder Schütze kann sein Ziel frei wählen.
Nehmen wir einmal an, A und B würden, falls sie noch eine Wahl haben, ständig auf C schießen und C auf B. Das ist die „Schwächste-Gegner-Strategie“. In diesem Fall wählt der jeweilige Schütze stets seinen schwächsten Gegner als Ziel aus. Mithilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie lässt sich berechnen, dass A, B und C die Überlebenswahrscheinlichkeiten 58 Prozent, 35 Prozent und 7 Prozent besitzen. Nicht überraschend hat A die besten Chancen und für C sieht es eher deprimierend aus.
Deshalb kommt C ins Grübeln. Und er entscheidet sich, wenn A und B noch stehen, nicht mehr auf B, sondern auf A zu feuern. Bleibt alles andere gleich, ändern sich damit die Überlebenschancen von A, B, C auf 43 Prozent, 48 Prozent, 9 Prozent. Also konnte C seine Überlebenschancen etwas steigern.
Wer ist der Tüchtigste?
Das war zu erwarten. Was aber überraschend ist: Nicht mehr der beste Schütze A hat jetzt die größte Überlebenswahrscheinlichkeit, sondern B.
Und das ist noch nicht alles. Sich C zum Vorbild nehmend, entschließt sich jetzt auch B nicht auf C, sondern auf A zu feuern. So kann er seine Überlebenswahrscheinlichkeit ebenfalls steigern, von vormals 48 Prozent auf 54 Prozent. A und C liegen abgeschlagen bei 24 Prozent und 22 Prozent.
Sie ahnen es bereits. Auch der unfehlbare Schütze A kann seine Strategie verbessern, indem er nicht mehr C als Ziel wählt, sondern B. Dann haben wir die „Stärkste-Gegner-Strategie“, bei der jeder Schütze stets seinen stärksten Gegner als Ziel auswählt.
Kann A damit seine Führungsrolle bei den Überlebenswahrscheinlichkeiten zurückerobern? Nein: Eine Wahrscheinlichkeitsrechnung führt für A, B und C auf die Chancen 29 Prozent, 35 Prozent und 36 Prozent.
Schwäche als Vorteil
Das Ergebnis ist paradox. Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Der mit Abstand beste, ja sogar unfehlbare Schütze A, hat die schlechtesten Chancen im Überlebenskampf. Und nicht allein das: der mit Abstand schlechteste Schütze C ist der wahrscheinlichste Gewinner.
Übrigens ist die „Stärkste-Gegner-Strategie“ die für alle Beteiligten sinnvollste Verhaltensweise: Keiner kann durch alleiniges Abweichen von dieser Strategie seine Chancen verbessern. Mathematiker sprechen von einem Nash-Gleichgewicht. Diese Gleichgewichtsstrategie führt hier evolutionär nicht zum „Überleben des Tüchtigsten“, sondern vielmehr und widersinnigerweise zum „Überleben des Schwächsten“. Wir sehen also, dass und wie die übermächtige Stärke des Starken sich in manchen Situationen leicht zu einer eklatanten Schwäche auswachsen kann.