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Wann ist ein IS-Anschlag ein IS-Anschlag?

 

Der Anschlag auf den Wettbewerb für Mohammed-Karikaturen in Garland im US-Bundesstaat Texas ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich dschihadistisch motivierte Terrorattacken, vor allem solche, die im Westen passieren, immer schwieriger kategorisieren lassen. Anders gesagt, beziehungsweise gefragt: Wann ist ein IS-Anschlag eigentlich ein IS-Anschlag? Und vor allem: Was bedeutet das überhaupt?

Nehmen wir den konkreten Fall. Einer der beiden mutmaßlichen Attentäter hat vor dem Anschlag offenbar über Twitter verbreitet, dass er und sein Komplize dem IS-Anführer al-Baghdadi den Treueeid geschworen hätten. Dieser Treueeid muss traditionell eigentlich persönlich geleistet werden, aber der IS ruft Anhänger schon seit Langem dazu auf, diese sogenannte Bay’a gewissermaßen virtuell abzugeben. Derzeit deutet denn auch tatsächlich nichts darauf hin, dass die Texas-Attentäter jemals in Syrien oder im Irak gewesen sind.

Zugleich berichtet CNN, dass der besagte Attentäter über Twitter im Austausch mit einem britischen IS-Kämpfer stand, der sich tatsächlich im Nahen Osten aufhält. Dieser Kämpfer verbreitete unmittelbar nach dem Anschlag, ebenfalls über Twitter, dass „zwei unserer Brüder“ soeben einen Angriff auf die Mohammed-Karikaturen-Ausstellung ausgeübt hätten.

Gestern dann verbreitete der IS über seinen Radiosender al-Bayan, dass „zwei Soldaten des Islamischen Staates“ den Anschlag in Texas ausgeführt hätten.

Viele Medien haben diese Nachricht aufgegriffen, allerdings bemerkenswert unterschiedlich eingeordnet:

 

Bild.de schrieb: „Texas-Terror: ISIS bekennt sich“

tagesschau.de titelte: „IS will Anschlag begangen haben“

welt.de formulierte es so: „IS prahlt mit Anschlag“

ZEIT ONLINE schrieb: „Die Terrormiliz behauptet, ihren ersten Anschlag in den USA verübt zu haben …“

 

Es ist aufschlussreich, sich die IS-Erklärung im Original anzusehen. Wörtlich heißt es dort (aus dem Arabischen übersetzt):

„Zwei Soldaten des Islamischen Staates haben eine Ausstellung in Texas in den USA angegriffen, bei der es einen Wettbewerb mit verunglimpfenden Zeichnungen des Propheten gab. Die Brüder eröffneten das Feuer auf die Ausstellung, was zur Verletzung eines der Polizisten führte, deren Aufgabe der Schutz der Ausstellung war. Die beiden Brüder wurden bei einem Schusswechsel getötet. Wir bitten Gott, sie im höchsten Paradies aufzunehmen und wir sagen zu Amerika, der Schutzmacht des Kreuzes, dass die kommenden (Anschläge) raffinierter und bitterer sein werden. (…)“

 

Nichts in dieser Erklärung deutet darauf hin, dass der IS über Täterwissen verfügt. Nicht einmal die Namen der Attentäter werden genannt. Kein einziges Detail taucht in dem Text auf, das nicht längst auf CNN oder Al-Jazeera gelaufen wäre.

Was bedeutet das?

Es bedeutet, dass der IS findet: Die vorliegenden Informationen reichen aus, um sicher zu sein, dass die Täter im Auftrag des IS handeln wollten. Der Anschlag sollte ein IS-Anschlag sein, die Täter haben ihm dem IS quasi angeboten – und der IS hat dieses Angebot angenommen. Vielleicht wusste die IS-Führung auch etwas mehr, etwa über den erwähnten britischen IS-Kämpfer. Es ist zum Beispiel denkbar, dass der Brite mit den Attentätern vorab kommuniziert hat, und dass die Attentäter auf diese Weise den IS schon einmal wissen ließen: Ja, wir haben da etwas geplant, wir wollen das im Namen des IS tun.

Dass aber der IS den Anschlag geplant, finanziert oder in Auftrag gegeben hat, darauf gibt es bislang keine Hinweise. Es würde sich, falls es dabei bleibt, um genau die Art von Terrorangriff handeln, die der IS seit Jahr und Tag herbeizureden versucht (und manchmal eben mit Erfolg): autonom geplant, autonom ausgeführt, anschließend im Namen des IS reklamiert.

Aber noch einmal zurück zur Ausgangsfrage: Ist ein solcher Anschlag überhaupt ein IS-Anschlag?

Ich finde: eher ja. Auch wenn es korrekter wäre zu sagen, dass es ein Anschlag im Namen des IS ist, den der IS sich anschließend zu eigen gemacht hat. Aber auf meiner Liste von IS-Anschlägen würde ich ihn trotzdem führen.

Zugleich finde ich es jedoch wichtig, die Anschläge auf dieser Liste in zwei Gruppen einzuteilen: IS-inspirierte Anschläge auf der einen Seite (der Texas-Anschlag würde, wenn sich die Sachlage nicht ändert, dorthin gehören) und vom IS tatsächlich geplante und organisierte Anschläge auf der anderen Seite (und auf dieser Liste stehen bisher nur Anschläge in der islamischen Welt, keine im Westen). Diese Unterscheidung ist hilfreich, wenn man den IS unter zwei Gesichtspunkten betrachten möchte: Wozu ist er, aus sich selbst heraus, organisatorisch in der Lage? Und: Wie groß ist seine Fähigkeit, Anhänger aus der Ferne, über Propaganda und Ideologie, zu Anschlägen zu motivieren?

In der Summe ändert das wenig. Aber es lässt sich auf diese Weise ein etwas genaueres Bild vom IS und seinen Kapazitäten zeichnen. Im Moment etwa würde eine solche Betrachtung zu der Einschätzung führen, dass der IS zwar Anschläge im Westen herbeiführen kann, aber bisher nicht unter Beweis gestellt hat, dass er in der Lage ist, ausgewählte Ziele zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt zu treffen.

Für die Gefahreneinschätzung bedeutet das wiederum: IS-inspirierte Anschläge von Individuen oder Kleingruppen sind an fast jedem Ort und Zeitpunkt im Westen denkbar; die Gefahr gezielter Großanschläge im Westen durch den IS ist hingegen vermutlich geringer.