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Freie Bahn für Neonazis

 

Neonazis schwenken am Samstag (13.02.2010) eine Fahne hinter einer Polizeikette auf dem Schlesischen Platz vor dem Bahnhof Neustadt in Dresden.
Neonazis im Februar 2010  hinter einer Polizeikette vor dem Bahnhof Neustadt in Dresden © dpa

Europas größter Aufmarsch von Rechtsextremisten hat klein begonnen: Zu siebt, rühmt sich der heutige NPD-Mann Holger Szymanski, seien sie 1996 oder 1997 vom Hauptbahnhof über die Prager Straße zur Frauenkirchenruine gezogen. Er war gerade zum Jurastudium aus Görlitz nach Dresden gekommen und hatte den sächsischen Landesverband der Jungen Landsmannschaft Ostpreußen (JLO) mitgegründet. Wenn der Mann, der inzwischen Chefberater der NPD-Landtagsfraktion ist, von den Anfängen der Nazi-Demos erzählt, klingen sie wie harmlose Schulbubenstreiche. Mal habe man sich am 13. Februar unter die Trauernden auf dem Altmarkt gemischt und die Vertreibungen aus den Ostgebieten nachgestellt, mal einen Sarg über den Platz getragen. Die ersten Demonstranten habe wegen all der Polizisten ringsum wohl kaum ein Dresdner erblickt.

Seit einigen Jahren sind die »Trauermärsche« unübersehbar, Tausende Neonazis aus dem In- und Ausland nehmen teil. Das habe sich irgendwie so ergeben, heißt es aus der Szene. Doch das rasante Wachstum der Aufmärsche war kein Zufall: Einerseits agierten die Rechtsextremen geschickt. Andererseits ließ die Stadtverwaltung ihnen freie Bahn, und die Formen des Dresdner Gedenkens boten reichlich Gelegenheit zum Andocken.

Bereits 1990 kam der britische Holocaust-Leugner David Irving zu einem Vortrag in den Kulturpalast, präsentierte seine überhöhten Opferzahlen als »geschichtliche Wahrheit«, Hunderte Zuhörer applaudierten. 1991 und 1992 reiste der damalige NPD-Chef Günter Deckert an und verteilte zum Jahrestag der Bombardierung revisionistische Flugblätter. »Die Aktion wurde von den Dresdnern freundlich aufgenommen«, erinnert er sich. Kein Wunder, Irving und Deckert und alle ihre rechtsextremen Nachfolger bedienen das weit verbreitete Geschichtsbild einer »unschuldigen Kunst- und Kulturstadt«, die »sinnlos zerstört« worden sei. Dieser Mythos wurde 1945 noch von Goebbels’ Reichspropaganda etabliert, in der DDR übernommen und ist bis heute präsent.

Die Stadt genehmigte gar eine Route nahe der 1938 zerstörten Synagoge

In Wahrheit war Dresden ein wichtiger Eisenbahnknoten, beheimatete Rüstungsbetriebe und wies unter allen deutschen Städten die höchste Dichte an NSDAP-Mitgliedern auf. In der Frauenkirche gaben seit 1938 die Hitler-treuen und antisemitischen Deutschen Christen den Ton an. Das in Dresden übliche »stille Gedenken« an die Bombennacht bestreitet all dies nicht – aber es redet eben auch nicht darüber. Und es widerspricht nicht, wenn Neonazis um die deutschen Opfer trauern. So konnten Republikaner und Wiking-Jugend jahrelang und weitgehend unbehelligt am Bauzaun der Frauenkirche Kränze niederlegen.

Die Idee zu einem »Trauermarsch« hatten schließlich örtliche JLO-Aktivisten. »Eigentlich wollten wir nur daran erinnern, dass unter den Bombenopfern auch eine Menge Flüchtlinge aus dem Osten waren«, sagt ein Mitglied des damaligen Bundesvorstandes, der heute als Verlagsangestellter in Hamburg arbeitet. Ihm ist unangenehm, was sich über die Jahre in Dresden entwickelt hat. Damals aber, sagt er, war man in der Zentrale der winzigen Jugendorganisation der Ostpreußen-Vertriebenen erfreut, dass in Sachsen etwas passierte. Als er selbst mal zu einem der Märsche fuhr, war er entgeistert wegen der vielen Skinheads. Aber da sei die Unterwanderung bereits komplett gewesen.

1998 liefen 60 Neonazis samt Transparent »Das war kein Krieg, das war Mord«, 1999 kamen schon 150 Leute. Über ein Verbot habe man nicht nachgedacht, »da keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bestand«, zitierte die Sächsische Zeitung damals den Sprecher der Stadt. Man habe aber »harte Auflagen« erlassen – etwa »die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung«. Im Jahr 2000 zogen bereits 500 Demonstranten durch Dresden, an der Spitze erstmals Szenegrößen wie Franz Schönhuber oder Horst Mahler. Die Stadt hatte eine Route nahe der 1938 zerstörten Synagoge genehmigt.

»In Dresden laufen Sachen, die im Rest der Republik undenkbar sind«

An vielen anderen Orten gelang es Bürgern und Behörden, Neonazi-Aufmärsche zurückzudrängen. In Leipzig oder Jena gab es so lange Widerstand, bis die Rechtsextremisten kapitulierten. Auf dem Soldatenfriedhof von Halbe (Brandenburg) organisierte ein breites Bündnis aus Anwohnern, Prominenten und Landtagspolitikern Blockaden. Im bayerischen Wunsiedel führte der CSU-Bürgermeister über Jahre den erfolgreichen Widerstand gegen Rudolf-Hess-Gedenkmärsche an. Ganz anders Dresden. »Mein Ansatz war, die Rechten nicht einmal zu ignorieren«, erinnert sich Herbert Wagner, Oberbürgermeister von 1990 bis 2001. »Ich wollte die nicht aufwerten, und große Protestaktionen verschaffen Aufmerksamkeit.« Ruhe in der Stadt war oberste Beamtenpflicht.

2002 nutzten 1000 Neonazis die ungestörte Möglichkeit zum Marschieren, zwei Jahre später 2000. Spätestens mit dem Landtagseinzug der NPD wurde die Organisation professionalisiert. Seit 2005 liegen die Teilnehmerzahlen bei über 5000; das ganze Spektrum der Szene ist vertreten: von Burschenschaftern und Neonazi-Kameradschaften bis zu Gästen aus Schweden, Ungarn, Portugal.

»Die Stadt hat Gegenaktivitäten nicht nur nicht unterstützt, sondern phasenweise behindert«, sagt Ralf Hron vom sächsischen DGB. »In Dresden laufen Sachen, die im Rest der Republik undenkbar sind.« Protestierer, selbst aus bürgerlichen oder kirchlichen Gruppen, würden als Krawallmacher hingestellt. Organisatoren von Gegenaktivitäten bekämen »ständig Steine in den Weg gelegt«, erführen die genehmigten Demo-Routen der Rechtsextremen erst im letzten Moment oder gar nicht. Bis heute stünden in seiner Garage tausend Plakate mit dem Slogan »Diese Stadt hat Nazis satt« – die Stadt habe ihm das Aufhängen trickreich untersagt. Während NPD und die JLO, die sich mittlerweile Junge Landsmannschaft Ostdeutschland nennt, jahrelang attraktive Marschstrecken bekamen, wurden Antifa-Demos konsequent aus dem Zentrum verdrängt. »Vielleicht war die eine oder andere Vorgabe nicht so glücklich«, sagt rückblickend Ex-Oberbürgermeister Wagner. Er habe sich halt »um den Ruf der Stadt gesorgt« und im Übrigen stets für »leise Töne« gestanden. Aber »so, wie es sich heute darstellt, da muss man lauter werden«.