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„Das hat schon Bedrohungspotenzial“: extrem rechte Gewalt in Erfurt

 

Drohgebärde als TShirt-Motiv, Foto Kai Budler
Drohgebärde als T-Shirt-Motiv © Kai Budler

Die Michaelisstraße in der historischen Altstadt Erfurts ist nur etwa 400 Meter lang, doch die steigende Zahl extrem rechter Übergriffe sorgt bei den Anwohnern für Besorgnis. Seit dem Überfall unter Sieg Heil Rufen auf Besucher des Kunsthauses in der Straße häufen sich die Berichte über An- und Übergriffe von Neonazis in der Thüringer Landeshauptstadt. Eine Anwohnerversammlung zeigte jetzt: rechtsextreme Gewalt ist auch in der Altstadt nichts Neues, sie wurde von der Öffentlichkeit nur bislang nicht wahrgenommen.

Noch am Tag der Versammlung in der Michaeliskirche heißt es in den Medien: „Zwei Verletzte nach Angriff von rechtem Schlägertrupp in Erfurt“. Sechs Personen mit „Verbindungen zur rechten Szene“ hatten am Vortag eine Frau und einen Mann in der Innenstadt zusammengeschlagen. Auch in der Michaelisstraße sei es schon seit längerem zu Übergriffen von Neonazis gekommen, Schüsse habe sie in der Altstadt auch schon gehört, erklärt eine Besucherin der Versammlung und fügt hinzu: „Das hat schon Bedrohungspotenzial“. Andere Anwohner befürchten einen „Angstraum Michaelisstraße“ und berichten: „Die Präsenz der Rechtsextremen ist schon extrem“.

Warnung vor Neonazis in Erfurt, Foto Kai Budler
Warnung vor Neonazis in Erfurt, Foto Kai Budler

Eine Entwicklung, die Dirk Teschner vom Kunsthaus schon vor dem Überfall Mitte Juli beobachtet hat. Seit etwa zwei Jahren provozierten erkennbare Neonazis vor der Einrichtung und versuchten den öffentlichen Raum zu besetzen, berichtet er. Dass diese Provokationen in Gewalt münden können, mussten die Gäste des Bildungskollektivs BiKO bereits einen Monat vor dem Überfall am Kunsthaus erfahren. Nur wenige Meter von der Einrichtung entfernt griffen etwa 25 Neonazis Gäste einer Feier zum 10-jährigen Geburtstag des BiKo an. Die alarmierte Polizei drängte die Angreifer auf den Bürgersteig ab, nahm die Personalien von einem BiKo-Mitglied auf und machte Fotos von ihm, heißt es in dem Bericht des BiKo. Die Begründung: er sei „Beschuldigter in einem Verfahren wegen schwerer Körperverletzung“. Die Neonazis hingegen hätten sich noch eine Stunde später in der angrenzenden Michaelisstraße aufgehalten, um Gäste der Feier zu bedrohen.

Übergriffe „aus bisher nicht bekannten Gründen“

Die Polizei in Erfurt steht unter Druck und das nicht erst seit dem Angriff auf die Ausstellungsgäste des Kunsthauses. Während Besucher von Horst-Wessel-Shirts, antisemitischen Bemerkungen, „Sieg-Heil“-Rufen und Hitlergrüßen berichteten, hieß es bei der Polizei, es sei „aus bisher nicht bekannten Gründen“ zu den Übergriffen gekommen. Von einer Verbindung zur rechtsextremen Szene sei nicht auszugehen. Später räumte die Behörde ein, ihre Informationspolitik sei fehlerhaft und die Erklärung dem Geschehen nicht angemessen gewesen. Sie warnt jedoch vor der Behauptung, in Erfurt habe die Zahl extrem rechter Straftaten zugenommen, schreibt die Thüringer Allgemeine nach einem Gespräch: „Doch nicht jede Auseinandersetzung hat einen politisch motivierten Hintergrund, auch wenn dies von den Beteiligten so empfunden oder behauptet wird. (…) Bei der Polizei verzeichnet man offenbar zunehmend, dass bei Auseinandersetzungen politische Motive unterstellt werden, obwohl sich dies im Nachhinein nicht immer als korrekt erweist“. Doch auch in den Polizeiberichten häufen sich extrem rechte Vorkommnisse in und um Erfurt. Unter anderem registrierten die Beamten den Angriff eines 17-jährigen Neonazis mit einem Messer auf eine Personengruppe.

Extrem rechte Gewalt: „So was ist halt Alltag für mich“

Neonazis made in Erfurt, Foto Kai Budler
Neonazis made in Erfurt, Foto Kai Budler

Die jüngsten Vorkommnisse sind beileibe keine neue Entwicklung, erklärte jüngst ein Bündnis von Initiativen und Einrichtungen aus Thüringen. Akribisch listen sie Übergriffe seit dem Dezember 2011 auf und konstatieren „Ein Problem mit rechter Gewalt in Erfurt“. Die gesammelten Sachschäden, Bedrohungen und brutalen Angriffe auf Migranten und vermeintlich Andersdenkende stützen ihre Einschätzung, oftmals müssen die Opfer in Krankenhäusern behandelt werden. Wie sicher sich Neonazis offenbar in der Landeshauptstadt fühlen, zeigt nicht zuletzt die Teilnahme extrem rechter Gruppen an zwei Demonstrationen gegen das Handelsabkommen Acta im Februar dieses Jahres. Auch prominente Thüringer NPD-Funktionäre wie Patrick Wieschke und Tobias Kammler finden Eingang in die Chronologie der extrem rechten Gewalttaten. Und in einer Erfurter Disco waren bereits im Januar unter anderem die lauten Parolen „Heil Hitler!“ und „Es lebe die NSU“ zu hören. Der Großteil der Angriffe aber findet nicht den Weg in die Öffentlichkeit, beklagt auch die „Hochschulgruppe AntiRa Campus“ der Erfurter Universität. Davon zeugt auch das vom Bündnis veröffentlichte Interview mit Punks und alternativen Jugendlichen aus der Landeshauptstadt. Nachdem sie von Übergriffen und brutalen Angriffen erzählen, fügt ein Interviewpartner hinzu: „So was ist halt Alltag für mich. Ich bin da gar nicht mehr überrascht“

Polizeiliches Fehlverhalten

Die Hauptstadt des Bundeslandes, in dem das extrem rechte Terrornetzwerk NSU seinen Ursprung hat, tut sich beim Versuch, ihr Gesicht zu wahren, schwer mit konkreten Schritten gegen Neonazis. Statt dessen folgen „Schnellschüsse“ wie der Versuch nach dem Überfall auf die Kunsthaus-Besucher Neonazis mit geänderter Hausordnung aus städtischen Kultureinrichtungen und Veranstaltungen auszuschließen. Die neue Verfügung erweist sich als zahnloser Papiertiger, der sogleich zu hämischen Reaktionen bei der NPD Thüringen führte. Gleichzeitig werfen Aussagen von Opfern der Übergriffe ein schlechtes Licht auf den Arbeitsalltag der Exekutive. Als beispielsweise eine Studentin nach einem Übergriff im Juli 2012 nach dem Verhalten der Polizei gefragt wird, zitiert die Thüringische Landeszeitung sie mit den Worten: „Sie haben mit dem Angreifer gelacht – und uns aufgefordert, nicht von Nazis zu sprechen, weil wir damit die Gruppe provozieren würden“.

Auch der Projektkoordinator der Mobilen Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (ezra), Jürgen Wollmann, registriert einen Handlungsbedarf. Das Projekt in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland hatte im April 2011 die Arbeit aufgenommen. Seitdem hat ezra sieben Fälle polizeilichen Fehlverhaltens allein in Erfurt registriert. Wollmann vermisst vor allem die polizeiliche Bereitschaft, die Opfer rechter und rassistischer Gewalt über das Beratungsangebot zu informieren. In den bislang 16 Monaten ihrer Beratungsarbeit seien bislang nur zwei Fälle an ezra gemeldet worden, beide aber stammten nicht aus Erfurt.