„Wenn ich deine Behinderung hätte, hätte ich mich schon umgebracht“, „Ich könnte nicht so leben wie du“ – ganz egal, wie es formuliert wird, aber die Erfahrung, dass der Wert des eigenen Lebens von anderen infrage gestellt wird, machen viele behinderte Menschen. Oft lassen sich solche Reaktionen mit Unwissenheit darüber erklären, was auch mit einer Behinderung möglich ist. Manchmal liegt es auch einfach an einem sehr oberflächlichen Weltbild oder es schwingt die Angst mit, im Falle eines Falles alleine dazustehen und nicht genug Hilfe zu bekommen.
Lebenswert verteidigen
Was immer die Motive für diese Aussagen sind, wohl kaum eine andere gesellschaftliche Gruppe muss so oft erklären, dass ihr Leben doch lebenswert ist, wie behinderte Menschen. Auch wenn die Aussagen manchmal bewundernd gemeint sind oder eigentlich Empathie ausdrücken sollen, in der Mehrheit der Fälle wirken solche Aussagen eher bedrohlich als positiv.
Gerade gab es vor dem britischen Parlament eine Demonstration von Menschen mit Behinderungen, die sich gegen eine Änderung des Gesetzes zur Sterbehilfe einsetzen. Auch behinderte Mitglieder des Oberhauses setzen sich gegen die Gesetzesinitiative ein. In Österreich kämpft der behinderte Parlamentsabgeordnete Franz-Joseph Huainigg dafür, dass aktive Sterbehilfe dauerhaft verboten bleibt. Er ist Rollstuhlfahrer, auf Assistenz angewiesen und braucht ein Beatmungsgerät. Auch viele österreichische Behindertenverbände lehnen die aktive Sterbehilfe ab. In Deutschland hat der Tod Udo Reiters die Debatte um aktive Sterbehilfe und assistierten Suizid weiter angeheizt.
Auch in den USA gibt es eine Bewegung von behinderten Menschen, die gegen die aktive Sterbehilfe, wie sie im Staat Oregon praktiziert wird und die jetzt Vorbild für europäische Länder werden soll, eintritt. Not Dead Yet („Noch nicht tot“) ist ein Zusammenschluss von behinderten Menschen, die dagegen kämpfen, dass ihr Leben als lebensunwert betrachtet und Sterbehilfe als Ausweg angeboten wird.
Der Tod als Sparmaßnahme?
Während in Deutschland die Kritiker gegen die Legalisierung von aktiver Sterbehilfe in erster Linie von kirchlicher Seite und der Hospizbewegung kommen, wird in Großbritannien der Kampf gegen das Gesetz vor allem von behinderten Menschen angeführt – und das sehr lautstark. Sie haben Angst, dass alte und behinderte Menschen künftig gezwungen oder zumindest stark unter Druck gesetzt werden könnten, sich für den schnellen Tod statt für teure Assistenz- und Medizinleistungen zu entscheiden. Assistierter Suizid als Sparmaßnahme.
Nicht wenige behinderte Menschen haben irgendwann in ihrem Leben selber einmal die Prognose bekommen, dass sie den Unfall oder die Erkrankung nicht überleben werden und sicher bald sterben werden, leben aber entgegen der Prognose weiterhin.
@Bubblejet @BodenLab Out lived my prognosis by 45 years. I also considered #suicide after going into #wheelchair. Then my life began!
— Mik Scarlet (@MikScarlet) November 8, 2014
Deshalb misstrauen sie den Prognosen der Medizin und sehen sie nicht als verlässlichen Partner beim Umgang mit dem Sterben an. Zudem befürchten sie, dass Angehörige Druck machen könnten, wenn durch die hohen Pflegekosten das Erbe in Gefahr ist oder die Familie anderweitig belastet wird. Viele haben Angst vor einem Dammbruch.
Viele haben Angst vor dem Druck
Die britische Behindertenorganisation Scope hat mehr als tausend behinderte Menschen zu ihrer Meinung zur aktiven Sterbehilfe befragen lassen. 64 Prozent gaben an, sie seien besorgt über den Schritt, assistierte Selbsttötung zu legalisieren. Bei jungen Befragten lag die Quote sogar noch höher. 62 Prozent befürchten, es könnte Druck auf behinderte Menschen ausgeübt werden, ihr Leben frühzeitig zu beenden.
Sehr interessant sind auch die Ergebnisse zur gesellschaftlichen Akzeptanz von behinderten Menschen. Zwei Drittel der Befragten gab an, dass sie glauben, dass behinderte Menschen oft als Belastung für die Gesellschaft angesehen werden. Drei von fünf Befragten hatten den Eindruck, dass das Leben behinderter Menschen oft nicht so wertgeschätzt wird wie das nicht behinderter Menschen. Die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen werde infrage gestellt, sagten 66 Prozent der Befragten.
So ist es nicht verwunderlich, dass viele behinderte Menschen die aktive Sterbehilfe nicht als Wahlmöglichkeit ansehen, sondern als Damoklesschwert, das über ihnen hängt oder wie der österreichische Abgeordnete Franz-Joseph Huainigg es zusammenfasste: „Jede Euthanasie-Gesetzgebung baut Druck auf behinderte Menschen auf.“