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Behindert und stolz darauf

 

Pride Parade: Behindert und stolz darauf
(c) Maurizio Gambarini/dpa

„Wir pfeifen auf Eure Diagnosen“ oder „Walking is overrated“ (Laufen wird überbewertet) – diese und andere Parolen standen auf den Plakaten, mit denen die Teilnehmer der 3. Pride Parade am Wochenende durch Berlin zogen. Die Parade hatte in diesem Jahr das Motto „Party statt Pathologisierung!“. Rollstuhlfahrer, blinde und gehörlose Menschen, Menschen mit Lernschwierigkeiten, aber auch Teilnehmer mit Psychiatrieerfahrung feierten „behindert und verrückt“, wie es in der Einladung hieß.

Rollstuhlfahrerin mit Plakat Ich liebe das  Leben
Bild: Raul Krauthausen

Sich selbst feiern

Pride Parades, bei denen Menschen mit Behinderungen sich selbst feiern, sind in Deutschland noch recht neu. In den USA gibt es sie schon seit Jahrzehnten. Sie verknüpfen das Feiern der eigenen Identität mit wichtigen politischen Forderungen. Menschen mit Behinderungen fordern gleichberechtigte Teilhabe ein und stellen sich mit der Parade gegen Diskriminierung.

„Reicher Mann oder vernünftige Politiker gesucht“ stand auf dem Plakat, das eine E-Rollstuhlfahrerin im Brautkleid durch die Straßen Berlins trug. Damit protestierte sie dagegen, dass Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, sowie deren Partner einen Großteil ihres Einkommens abgeben müssen, wenn die Assistenzleistungen vom Staat bezahlt werden. Sie dürfen zudem nicht mehr als 2.600 Euro Vermögen besitzen. „Verrückt nach Selbstbestimmung“ stand auf einem anderen Plakat, weil es längst noch nicht selbstverständlich ist, dass Menschen mit Behinderungen selbst bestimmen können, wie und wo sie wohnen, was sie arbeiten und wie ihr Tagesablauf sein soll. Vor allem in Einrichtungen können behinderte Menschen oft nicht selbst entscheiden, wie sie leben möchten.

USA war Vorreiter

Die erste Parade dieser Art fand 1990 in Boston statt. 2004 wurde Chicago zum Ort der größten Disability Pride Parade in den USA. Dort findet jedes Jahr im Juli eine Parade statt, die Menschen mit Behinderungen aus dem ganzen Land, aber auch internationale Gäste anzieht.

Sarah Triano, eine der Gründerinnen der Disability Pride Parade in Chicago, hatte ein klares Ziel vor Augen. Die Parade soll „die Einstellung fördern, dass Behinderung eine natürliche und schöne Art der menschlichen Vielfalt ist, auf die Menschen stolz sein können, die mit Behinderungen leben“. Auch in anderen Ländern wie Großbritannien und Irland gibt es seit Längerem diese Paraden.

In Deutschland wird das Thema Behinderung oft mit einem starken Fokus auf ein vermeintliches Defizit betrachtet. Die eigene Behinderung zu feiern, ist daher sowohl provokant als auch ein Zeichen der Emanzipation, weg von dieser Denkweise. Denn immer mehr behinderte Menschen wehren sich dagegen, dass man ihnen ständig vermittelt, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung.

Alles in Ordnung

Von Geburt an gehörlose Menschen beispielsweise definieren sich stark über die Gebärdensprache. Sie verstehen sich mehrheitlich als Mitglieder einer sprachlichen Minderheit mit einer eigenen Kultur, die um die Gebärdensprache herum entstanden ist. Wenn sie miteinander sprechen, ist es völlig irrelevant, dass sie nichts hören können. Man kommuniziert anders, aber das tun Franzosen oder Italiener ja auch, ohne dass man ihnen unterstellt, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung.

Jemand, der nicht laufen kann, aber einen guten Rollstuhl hat, in einem barrierefreien Umfeld lebt und gegebenenfalls eine Assistenz hat, bewegt sich zwar anders fort als die Mehrheit der Bevölkerung, aber die Diagnose ist eigentlich egal. Trotzdem ist die Frage, die Rollstuhlfahrer in Deutschland wohl am meisten hören: „Warum sitzen Sie im Rollstuhl?“ Die medizinische Diagnose wird dann vielfach als Begründung benutzt, um zu erklären, warum jemand nicht an der Gesellschaft teilhaben kann. Nur selten geht es darum, was die Person braucht, um die Lebenssituation zu verbessern.

Es hat lange gedauert, bis die Disability Pride Parade in Deutschland angekommen ist. Es ist aber genau dieser Geist der Parade, der enorm wichtig ist, wenn Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft einnehmen sollen. Weg vom Mitleid und den ausschließlich medizinischen Erklärungen und hin zu Barrierefreiheit, Inklusion und Selbstbestimmung.