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Hurra, Hypnagogic-Elektro-DIY-Industrial-Pop!

 

Auf diese Musikerin können sich sowohl Blogger als auch Popmagazine und Modestylisten einigen: Erstaunlich, dass Grimes alias Claire Boucher tatsächlich super klingt.

© 4AD/Beggars

Football-Spieler in ihren Rüstungen schubsen sich hin und her, Motorräder segeln weit durch die Luft, Sportfans jubeln. Doch im Zentrum von Oblivion, dem Videoclip zur aktuellen Single von Grimes, steht die Sängerin selbst: Wie ein Fremdkörper tanzt und singt sie sich durch die seltsame Szenerie, nimmt Aufstellung zwischen den Stuhlreihen des Stadions, degradiert den Sport zur Bühne. Zu hören aber ist nur die Musik, nicht das Röhren der Maschinen, nicht das Aufeinanderprallen der Körper, nicht das Gröhlen des Publikums. In einem Interview erklärt Claire Boucher, wie Grimes bürgerlich heißt, der Clip solle demonstrieren, wie sich „weibliche Macht auch in einer männlich dominierten Arena durchsetzen“ könne.

Nun werden also auch noch die Feministinnen ins Boot geholt. Als wäre Grimes nicht eh schon die Musikerin, auf die sich momentan alle einigen können. Geschickt verknüpft sie die Klangwelten des immer noch grassierenden Eighties-Revival mit der alptraumhaften Anmutung des gerade mächtig aufkommenden Hypnagogic Pop, versöhnt modische Elektro-Beats mit einer ruppigen Do-It-Yourself-Ästhetik, Industrial mit Synthie-Pop, Broken Beats mit Witch House, den avantgardistischen Anspruch ihres Vorbilds Aphex Twin mit dem Pop-Appeal der von ihr ebenfalls verehrten Outkast. Und dann erweckt sie doch tatsächlich den Eindruck, man könne Hits wie Oblivion auf den Markt werfen und trotzdem subkulturell relevant bleiben.

Die Blogger liegen der 23-jährigen Boucher folgerichtig schon lange zu Füßen. Nun, anlässlich ihres dritten Albums Visions, kriegt sich auch die Musikkritik gar nicht mehr ein. Kleine Mädchen singen ihre Songs wie Schlager, alte Männer analysieren deren gesellschaftliche Durchschlagskraft.

Das Wundertier selbst sieht aus wie eine Mischung aus Skater-Punk, Existentialistin und Lolita. Ihr Haar trägt die in Vancouver aufgewachsene, mittlerweile in Montreal lebende Boucher mal zu Kleinmädchenzöpfen geflochten, mal trotzig verschnitten wie vom WG-Mitbewohner und irgendwie so grün oder rosa oder beides gefärbt. Die Vogue hat es sich trotzdem nicht nehmen lassen, eine lange Fotostrecke mit ihr als Model aufnehmen zu lassen.

Im Gegensatz zu einer Lana del Rey steht hinter diesem Hype kein kalt kalkulierender, international operierender Unterhaltungskonzern. Die zum Künstler passende Legende ist allerdings fast noch schöner als die angebliche Trailer-Trash-Vergangenheit von Del Rey: Boucher baute vor einigen Jahren mit ihrem damaligen Freund eine Art Arche, mit der das Paar den Mississippi hinunter fahren wollte. An Bord eine Ausgabe von Huckleberry Finn, eine Schreibmaschine, 20 Pfund Kartoffeln und ein paar Hühner. Das Paar kam nicht weit, die Polizei verhinderte die Weiterreise.

Zu schön, um wahr zu sein? Vielleicht. Aber auch egal. Pop in seinen besten Augenblicken ist nun mal keine Frage von Authentizität. Was bleibt, ist Musik, die in dieser einen Sekunde perfekt erscheint, weil sie wie ein Brennglas all jene Strahlen und Stränge zu fokussieren vermag, die im Moment die Welt des Pop durchziehen. Erstaunlich aber ist vor allem, dass so ein kleinster gemeinsamer Nenner ganz großartig klingen kann.

„Visions“ von Grimes ist erschienen bei 4AD/Beggars Group/Indigo