60 Jahre liegen zwischen den beiden Bildern von meinem Bruder und mir, 60 Jahre eines Lebens mit Trisomie 21. Eine Schulausbildung gab es deshalb für Hermann nicht. Aber mein Bruder hat eine Begabung für die Musik, und alles, was er musikalisch erreicht hat, hat er sich selbst beigebracht. Schon als Dreijähriger spielte er auf der Mundharmonika. Später suchte er sich Melodien auf dem Klavier zusammen und erarbeitete sich auf dem Akkordeon ein großes Repertoire. Immer wieder bereicherte er kirchliche Veranstaltungen mit seiner Musik und seiner Fröhlichkeit. Inzwischen spielt er auch Schlagzeug in einer integrativen Band. Er hatte großes Glück. Er wurde in die Zeitspanne hineingeboren zwischen Hitlers Euthanasie und der heutigen Pränataldiagnostik – der häufig ein Abbruch der Schwangerschaft folgt.
Sommermorgen. Als ich das Fahrradschloss aufschließe, höre ich den Straßenbauarbeiter gegenüber ein Lied von Pippi Langstrumpf pfeifen: »Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.« Frohen Herzens radle ich los.
Aus dem »Ländle« kommend, studierte ich in Florenz zur Mittagszeit eine Speisekarte und stolperte dabei über die Bezeichnung »Mundtäschchen«. Da hatte sich der Übersetzer wohl daran erinnert, dass das Wort »Mund« im Hochdeutschen den Menschen zugeordnet wird, während der Begriff »Maul« für die Tiere reserviert ist. Ich bestellte also vergnügt die Mundtäschchen, hinter denen sich tatsächlich Maultaschen oder besser gesagt Ravioli verbargen.