Wieso hat das bloß keiner gemerkt? Schon im Jahr 2005 stellte das Bundesjustizministerium fest, dass Deutschland keine Demokratie mehr ist. Von allen in Deutschland erlassenen Rechtsakten zwischen 1998 und 2004, so das Ministerium, stammten 84 Prozent aus Brüssel. Nur 16 Prozent der Gesetze seien in Berlin gemacht worden.
So jedenfalls wird eine angebliche Studie des BMJ immer wieder zitiert.
Diese Zahlen derart vereinfacht in die Welt zu setzen, ist zwar schlechter Journalismus. Dennoch: ganz falsch ist der Eindruck, den sie vermitteln, nicht.*
Demokratietheoretisch nämlich ist es in der Tat skandalös, wie die EU den Einzelstaaten Vorschriften diktiert. Beschlossen immerhin werden die besagten Brüsseler Rechtsakte nicht etwa von Parlamenten, sondern von den jeweiligen Fachministern der 27 EU-Mitgliedsstaaten. Was sie bei ihren Treffen hinter verschlossenen Türen vereinbaren, müssen die Parlamente zuhause in nationales Recht umsetzen, ob es ihnen gefällt oder nicht. Sollte der Lissaboner Vertrag (ehemals „Verfassung“) in Kraft treten, werden es die Minister noch leichter haben, denn seine Klauseln ermöglichen mehr einfache Mehrheitsentscheidung als bisher.
Die Exekutive bestimmt also immer öfter, was Gesetz wird, nicht die Legislative. Das ist ein eklatanter Verstoss gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz, wonach die Volksvertretung das Recht setzt, nicht aber die Regierung. Dem Volk indes fällt es nur selten übel auf, wenn wieder einmal ein Gesetz über die Brüsseler Bande in den Bundestag gespielt wird. So war es zum Beispiel beim biometrischen Pass. Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) stiehlte die Idee zusammen mit seinen europäischen Ministerkollegen bei einem ihrer Zusammenkünfte unter dem Radarschirm der parlamentarischen Aufsicht in Brüssel ein. Einige Monate später zeigten sich Berliner Abgeordnete kalt überrascht, als ihnen im Bundestag nichts anderes übrigblieb, als die entsprechende Richtlinie in nationales Recht zu gießen. Sie hatten, gaben einige von ihnen zu, schlicht nicht mitbekommen, was sich in der EU-Zentrale anbahnte. „Wissen Sie, offen gesagt haben wir doch gar nicht die Zeit, alles zu lesen, was da an Dokumenten aus Brüssel hereinschwappt“, sagte mir eine Abgeordnete der Grünen damals. Und wohl auch keine Lust.
Eigentlich sollten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments diese Watchdogaufgabe wahrnehmen und bei kritischen Vorhaben des Ministerrates und der Kommission hörbar anschlagen. Doch in der Praxis fehlt es oft schlicht an der nötigen Rückkopplung der EP-Abgeordneten an die nationalen Parteizentralen. Warum, zum Beispiel, haben die FPD-Mitglieder im EP damals nicht lauthals in Berlin Alarm geschlagen, als sie von den Plänen eines biometrischen Passes erfahren haben? Weil, antworten Insider verdruckst, Brüssel und Berlin nun einmal verschiedene parlamentarische Welten seien. Berliner Abgeordnete trauen ihren Brüsseler Kollegen nicht die nötige EU-Skepsis zu, um sich von ihnen sachdienliche Hinweise auf europäische Vergehen zu erhoffen. Brüsseler Abgeordnete halten umgekehrt ihre Berliner Kollegen für zu wenig sachkundig und populismusanfällig, um ihnen schmutzige Details aus dem Bauch des EU-Betriebs zu verraten.
Lassen wir aber das Negativbeispiel Schily & der Biometriepass einmal für einen Moment beiseite. Gehört es dann nicht auch zur Wahrheit, dass demokratiepraktisch das postdemokratische System Europa überraschend gut funktioniert?
Immerhin scheint diese bürgerferne Geschäftsführerdemokratie der Minister, Staatschefs und Kommissare den Wohlfühlgrad im Gehege Europa im Großen und Ganzen seit Jahrzehnten zu erhöhen. Nirgendwo auf der Welt haben Menschen so viele (geschriebene) Rechte wie in Europa. Kein anderer Kontinent verwendet so viel politische Energie darauf, die Lebensqualität seiner Bürger zu verbessern und zu vereinheitlichen, von der Lebensmittelsicherheit, über funktionierende Stromnetze, Rechtsstandards beim Autokauf, im Flugverkehr, beim Arbeitsschutz, bei der sogenannten Anti-Diskriminierung, bis hin zur Badewasserqualitätsbeschreibung, der Handykostenbegrenzung, der Co2-Abgasnorm, dem Nichtraucherschutz, derEnergieeffizienz von Gebäuden oder den Dezibel-Grenzen für MP3-Spieler. Sogar einen Wegweiser durch die verwirrende Vielzahl von Rechten, die der EU-Bürger genießt, bietet Brüssel an.
Wohl nirgendwo sonst ist zugleich die Kultur des Konsenses so entwickelt, das friedliche Zusammenleben der peinlich höchste aller Werte. Liegt die historische Besonderheit dieses Europas also darin, dass es seinen Bürgern im Dschungel der Globalisierung ein Reservat größtmöglicher Sicherheit und Geborgenheit bietet, und zwar ganz bewusst um den Preis althergebrachter demokratischer Prinzipien? Ist dieses Europa eine Diktatur verantwortungsvoller Gutmenschen, die im Grunde ganz gut funktioniert?
Ist Europa in der Welt das, was die Schweiz in Europa in?
Das Beste am Westen?
„Die Europäische Union ist das höchstentwickelte Beispiel eines postmodernen Systems“, glaubt Robert Cooper, britischer Karrierediplomat und heut Europas Chef-Strategiedenker im Dienste des Außenbeauftragten Javier Solana.**
Tatsächlich gibt es noch eine wichtige Besonderheit, die Europas Herrschaftsform zur vielleicht neuzeitlichsten der Welt macht. Aber davon mehr in der nächste Folge.
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* Die ausführliche Stellungnahme des Bundesjustizministeriums zu diesen Zahlen lautet:
„Eine Studie des Bundesministeriums der Justiz mit dem Ergebnis, dass 84 % des Rechts aus Brüssel stammen und nur 16 % originär aus Berlin, gibt es nicht.
Anlässlich einer parlamentarischen Frage nach der Gesamtzahl der beschlossenen Rechtsvorschriften hat das Bundesministerium der Justiz anhand schlichter Datenbankabfragen lediglich festgestellt, dass in den Jahren 1998 bis 2004 insgesamt 18167 EU-Verordnungen und 750 EU-Richtlinien erlassen und auf Bundesebene im selben Zeitraum 1195 Gesetze sowie 3055 Rechtsverordnungen verkündet worden sind (Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach auf eine Frage des Abgeordneten Johannes Singhammer, BT-Drs. 15/5434 v. 6. Mai 2005, Nr. 21). Dabei sind jedoch sämtliche Rechtsakte gezählt worden, ohne zu berücksichtigen, ob es sich um Neu-, Änderungs- oder Aufhebungsrechtsakte handelt, oder welchen Umfang oder welche Bedeutung die einzelnen Rechtsakte haben. Ein Großteil der europäischen Rechtsakte sind Agrarmarktregelungen.
Aus Sicht des Bundesministeriums der Justiz lassen sich diese Zahlen daher nicht vergleichen und sind außerhalb des damaligen Fragenkontextes wenig aussagekräftig. Sie lassen auch keine Schlussfolgerung darüber zu, wie hoch der Anteil europäischen Rechts ist. Die Frage nach der jeweiligen Zahl der erlassenen Rechtsvorschriften ist zu unterscheiden von der Frage nach dem Anteil der aufgrund von europäischen Rechtsakten erlassenen deutschen Gesetzgebung. Methodische Probleme lassen seriöse quantitative Aussagen kaum zu.“
** Robert Cooper, The Breaking of Nations: Order and Chaos in the Twenty-first Century, London, 2003, S. 36