Ist die Europäische Union undemokratisch, weil sie die Bürger nicht über den Reformvertrag abstimmen lässt? In der Kommentarspalte zum vorausgegangenen Eintrag hat ein Leser einen interessanten Satz formuliert:
„Als Demokrat kann nur gelten, wer bereit ist zu akzeptieren, daß seine Mitbürger mehrheitlich eine andere Entscheidung treffen als die, die er selbst präferiert.“
Gilt diese Aussage tatsächlich so pauschal? Ist zum Beispiel derjenige keine Demokrat, der das Volk nicht über die Einführung der Todesstrafe abstimmen lassen möchte? Oder über die Höhe der Steuern? Freilich, dies sind altbekannte Beispiele gegen Volksbefragungen. Aber sie taugen noch immer, um zu illustrieren, warum eine Demokratie im wörtlichen Sinne kein Mittel zur Steuerung moderner Massengesellschaften sein kann. Die repräsentative Demokratie fußt auf dem richtigen Gedanken, dass Volkes Wille selten Ausfluss letzter politischer Weisheit ist.
Das gilt schon einleuchtend für ein Gebilde für die Bundesrepublik Deutschland. Die EU nun hat mit ihrer Gründung eine zusätzliche Ebene politische Komplexität über den Nationalstaaten eingezogen. Eine seltsame Hybridform zudem, denn die Kommission ist eine mit Politikern besetzten Behörde. Wo gibt es so etwas sonst? Wäre es angesichts dieser Ausdehnung der Politikzone nicht konsequent, auch unseren Begriff von demokratischer Vertretung auszudehnen?
Nennen wir es testweise das Gesetz der Entfremdung:
Je unüberschaubarer politische Sachverhalte werden, desto umfangreicher muss die Vertretung des Volkswillens durch seine Repräsentaten werden, wenn Entscheidungen sachgerecht getroffen werden sollen. (Die EU-Verfassung ist dafür vielleicht nicht das allerbeste Beispiel, denn so komplex sind ihre Regelungen nun auch wieder nicht, man könnte die Bürger durchaus darüber informieren und befragen.) Gleichwohl, Europa funktioniert schon nach besonders komplexen Regeln, vor allem weil sie mit 27 Länderinteressen multipliziert werden müssen.
In Deutschland mag die Vertretung der Bürger durch die Politiker noch den Charakter einer zeitlich begrenzten Vollmacht haben, erteilt für einen überschaubaren Ereignisraum von jeweils vier Jahren. Europa hingegen trägt den Charakter einer dauerhaften paternalistischen Vertretung. Während die Bürger in den Einzelstaaten Politiker noch immer testweise als Manager einstellen, räumen sie Brüssel in gewisser Weise ein elterliches Sorgerecht für kontinentale Fragen ein. (Die Kommissare, jeweils für fünf Jahre im Amt, werden nicht gewählt, sondern von nationalen Regierungen auf ihre Posten geschachert.)
Europa bewegt sich schließlich zu langsam, in zu unüberschaubaren Trippelschritten und durch zu viele Füße, als dass alle vier Jahre eine Bewertung möglich wäre, geschweige denn eine Zurechnung von bestimmten Entwscheidungen an bestimmte Akteure. Das nationale Thema Jugendkriminalität lässt sich noch einigermaßen befriedigend in einer Talkshow behandeln. Die Begrenzung von Fangquoten zwischen Mittelmeeranrainern oder die Notwendigkeit einer EU-weiten Bodenschutzrichtlinie schon weniger. Seien wir ehrlich: die meisten EU-Themen sind schlicht zu unsexy, als dass der Normalbürger sich überhaupt ansatzweise mit ihnen befassen wollte.
Vielleicht dies auch ein Grund dafür, dass nur 35 Prozent aller Europäer laut einer aktuellen Umfrage glauben, dass ihre Stimme in der Europäischen Union zählt.
Interessanterweise finden sie aber auch, dass das halb so schlimm ist.
Denn gleichzeitig halten 48 % der EU-Bürger die EU-Mitgliedschaft ihres Landes für gut (die meisten in Luxemburg mit 82 %, die wenigsten in Großbritannien mit 34 %). Und 48 % trauen den EU-Institutionen sogar mehr als ihren eigenen Regierungen (34 %). Spricht daraus womöglich die Einschätzung, dass in Brüssel die besseren Experten sitzen, denen man gerade wegen ihrer Entfernung zum Volk und damit zu wahlkämpferischen Polarisierungen die sachgerechteren Lösungen zutraut?
Die Zahlen stammen aus einer Auftragsarbeit für die Kommission. Über seine Generaldirektion Kommunikation lässt der Kommissionspräsident kontinuierlich die Bürger Europas befragten, wie sie mit der Arbeit der EU zufrieden sind. Jedes halbe Jahr gibt es eine allgemeine politische Umfrage über die Union, das so genannte Eurobarometer. Darin messen Meinungsforscher der Institute TNS und Gallup die Befindlichkeiten in allen 27 Mitgliedsstaaten.
Sie fragen unter anderem,
– ob die Menschen glauben, dass sich ihr Leben im Allgemeinen in den nächsten zwölf Monaten verbessern wird (54 % sagen ja, 30 % nein)
– ob sich die wirtschaftliche Lage verbessern wird (24 % ja, 26 % nein)
– was ihre größten Sorgen sind (1. Arbeitslosigkeit/Inflation, 2. Kriminalität, 3. Gesundheitsvorsorge, 4. die wirtschaftliche Lage, 5. Immigration, 6. Renten, 7. Terrorismus, 8. Erziehung/Bildung, 9. Steuern, 10. Wohnungen)
– ob sie der EU-Kommission eher trauen oder nicht (48 % eher nicht)
– ob sie dem EU-Parlament eher trauen oder nicht (55 % eher ja)
– wodurch die EU ihre Rolle stärken kann (Verbrechensbekämpfung 33 %, Umweltfragen 34 %, Zuwanderungsfragen 29 %, Energiefragen 25 %)
– welche Politikbereiche lieber durch die EU statt durch nationale Regierungen geregelt werden sollten (überraschend viele: Terrorismusbekämpfung 81 %, Umweltschutz 69 %, Wissenschaftliche Forschung 71 %, Energie 61 %, Verteidigung und auswärtige Beziehungen 62 %, Verbrechensbekämpfung 60 %, Förderung strukturschwacher Regionen 60 %, Zuwanderung 59 %, Wettbewerb 57 %, Landwirtschaft und Fischerei 50 %, Verbraucherschutz 48 %, Arbeitslosenbekämpfung 39 %, Gesundheits- und Sozialvorsorge 31 %, Erziehungswesen 33 %, Steuern 28 %, Renten 25 %).
Gemessen an den größten Sorgen wollen die Mehrheit der Europäer also, dass die EU sich nur um Kriminalität, Zuwanderung und Terrorismus kümmert. Das ist das Bild Europas als feste Burg gegen Bedrohungen von außen.
Darüber hinaus lassen alle Kommissare ständig Umfragen zu Einzelvorhaben erstellen, um zu erkunden, wie zufrieden die Klientel mit ihnen ist. Ein Vertreter von Gallup Europe schätzt die Anzahl der „Flash Surveys„, die sein Unternehmen jedes Jahr für die Kommission macht, auf 15 bis 20. Mal will die EU wissen, wie ihre Umweltpolitik ankommt, mal, was die Menschen über erneuerbare Energien denken, mal, ob es Unternehmer sinnvoll finden, dass die EU ein Erasmus-Programm für Firmen auflegt. Die EU folgt also gleichsam dem Motto „Frag dich schön“.
„Es gibt drei Arten von Umfragen“, sagt der Experte, „einmal die reine Kommunikation, um zu sehen, wie die EU bei den Bürgern ankommt. Dann Umfragen, die eine politische Idee testen sollen. Und Umfragen, die Einstellungen messen über Ideen, die schon umgesetzt sind.“
Die EU betreibt also intensive Marktforschung für ihre politische Produkte. Und zwar sowohl Image-, Bedarfs- wie auch Bilanzforschung. Ist diese marktwirtschaftliche Art des Politikmachens nicht auch sehr demokratisch – ja, vielleicht sogar präziser demokratisch als eine Vierjahreswahl? Eine Art Schlüssellochdemokratie, die ohne Wahlen erkundet, was den Bürger drückt, was er sich erhofft, und was er ablehnt. Die EU fragt lieber gezielt, statt sich auf einen öffentlichen Diskurs zu verlassen, der wahrscheinlich ohnehin kaum einsetzen dürfte. Das ließ sich die Kommission im vergangenen Jahr 16,5 Millionen Euro kosten.
Der Frage unseres Lesers muss in Hinblick auf das postdemokratische Gebilde EU also eine andere hinzugefügt werden:
Kann auch derjenige als Demokrat gelten, der sich zwar keinen Wahlen stellt, aber die Akzeptanz seines Handeln durch ständige Umfragen am Volkswillen überprüft?
Der Economist zitierte im Februar 2008 einen ungenannten Eurokraten mit der Einschätzung, Meinungsumfragen böten ein quasi-demokratisches Mandat. Die Zahlen würden von seinem Kommissar „selbstverständlich“ genutzt, um zögerliche Regierungen einzuschüchtern, sowohl öffentlich wie auch hinter verschlossenen Türen.
Vielleicht sollte die Kommission gelegentlich eine Umfrage im eigenen Apparat in Auftrag geben: Ob ihre Beamten womöglich zu sehr davon abgelenkt werden, sich beim beim Volk beliebt zu machen.