Zwischen den Nato-Staaten droht ein handfester Konflikt um die eine gerechte Lastenverteilung in Afghanistan. In der vergangenen Woche schrieb der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates Briefe an alle 25 Verbündeten, mit der dringenden Bitte, ihre Truppen am Hindukusch aufzustocken. Bis zu 7000 weitere Soldaten, so Nato-Berechnungen, fehlen in Afghanistan. Minister Franz Josef Jung hat das Ansinnen bereits zurückgewiesen.
Doch die eigentliche Solidaritäts-Kampagne der Amerikaner könnte noch bevorstehen. Bei der Münchener Sicherheitskonferenz am Wochenende und beim Nato-Gipfel Anfang April in Bukarest dürften sich die Europäer deutliche Worte anhören.
Jochen Bittner fragte vorab die Botschafterin der Vereinigten Staaten bei der Nato, Victoria Nuland, wie sie den Zustand des Bündnisses und die Lage in Afghanistan einschätzt.
English version of the interview
Frau Botschafterin, eine Testfrage zur Nato-Bündnisfestigkeit: Können Sie sich noch vorstellen, dass ein amerikanischer Soldat für deutsche Sicherheitsinteressen stirbt?
Victoria Nuland: Absolut. Keine Frage. Das ist der Kern unserer Bündnisverpflichtung untereinander und entspricht seit 60 Jahren dem Wesen der Allianz.
Das deutsche Engagement in Afghanistan ist in der vergangenen Wochen aus Washington heftig kritisiert worden. Wie beurteilen Sie die Lastenverteilung am Hindukusch? Vermissen Sie nicht umgekehrt Solidarität in der Allianz?
Nuland: Ihr Deutschen stellt 3000 Soldaten und leistet damit den drittgrößten Beitrag dort. Ihr deckt ein enormes Gebiet in Nordafghanistan ab. Ihr habt die Tornado-Aufklärungsflugzeuge gestellt. Ihr tragt zur Drogenbekämpfung bei. Was Deutschland gerade leistet, und zwar nicht nur für die Zukunft Afghanistans, sondern auch bei der Entwicklung eines weltweiten Beitrags Deutschlands zu Frieden und Sicherheit, ist extrem wertvoll, und die Deutschen sollten stolz darauf sein.
Es geht um Afghanistan, aber es geht auch um Deutschland und die Sicherheit des Bündnisses. Natürlich werden wir während des Nato-Gipfels in Bukarest alle unsere Verbündeten auffordern, noch mehr zu tun, besonders im Lichte der amerikanischen Entscheidung, im Frühjahr 3200 Marines zusätzlich nach Afghanistan zu schicken.
Die Wahrnehmung in Deutschland ist etwas anders. Die meisten Menschen erkennen nicht mehr den tieferen Sinn hinter der Hindukusch-Mission.
Nuland: Wir müssen aufstehen und mehr über die grundlegenderen Anforderungen sprechen, die es braucht, um demokratische Werte zu verteidigen, um die demokratische Gemeinschaft zu verteidigen und auszuweiten. Die Beiträge zu Nato-Missionen sind Teil davon. Diplomatie gegenüber dem Iran – sowohl mit Zuckerbrot wie auch mit Peitsche – ist Teil davon. Terrorismusbekämpfung ist Teil davon. Eine Einwanderungspolitik, die fair und integrativ ist, ist Teil davon. Wir müssen Gesamtkonzepte diskutieren, um heute unsere Sicherheit zu verteidigen.
Sehen Sie einen deutschen Politiker, der diese Botschaft so klar aussprechen würden?
Nuland: Es freut uns zu sehen, wenn Kanzlerin Merkel Afghanistan besucht, so wie es vergangenen Herbst getan hat. Sie ist ein kraftvoller kommunikativer Mensch. Sie kann den Deutschen helfen, Stolz zu entwickeln auf das, was sie an Beiträgen zur globalen Sicherheit leisten.
Können Sie eine gemeinsame Strategie der Allianz erkennen, sowohl in Afghanistan wie auch für die gesamte Nato? Die unterscheidlichen Mentalitäten der Amerikaner und der Europäer prallen ständig aufeinander. Woher nehmen Sie die Hoffnung, dass es angesichts der Verwerfungen eine gemeinsame Zukunft für die Nato gibt?
Nuland: Ich denke, wir hatten oft Meinungsverschiedenheiten über taktische Fragen im Bündnis. Bei den strategischen Herausforderung stimmen wir aber generell überein. Wir müssten in den vergangenen sieben Jahren die Umwandlung der Nato mit Lichtgeschwindigkeit betreiben, um uns in Lage zu versetzen, mit einer völlig neuen Bedrohung fertig zu werden: Terrorismus und Massenvernichtungswaffen. Es hat eine völlig andere militärische Struktur gebraucht, um 4000 Meilen von den Grenzen des Bündnisgebietes entfernt eingreifen zu können, und zwar nicht nur mit allen Teilstreitkräften – Luft-, Boden- und Spezialkräften -, sondern auch in multilateraler Weise. Wir (die Nato, Anm. JB) haben bisher noch nie eine Bodenschlacht oder eine Aufstandsniederschlagung zusammen durchgemacht, wie wir es jetzt in Afghanistan tun. Jetzt kämpfen wir Seite an Seite mit 14 Nicht-Nato-Partnern und Afghanen – und trainieren nebenbei noch die Einheimischen.
Nun ja, die amerikanischen Truppen im Süden kämpfen verbissen gegen die Taliban. Die Deutschen im Norden dagegen bauen Schulen und graben Brunnen. Sehen Sie da wirklich einen gemeinsamen Ansatz?
Nuland: Hier, bei der Nato, sprechen wir von ,vernetzter Sicherheit‘. Es geht dabei nicht nur ums Militär, sondern auch um Regierungsfähigkeit, Entwicklung, Drogenbekämpfung – alle diese Aspekte eben, die zusammen gedacht werden müssen. Das ist eine völlig neuartige Weise, Sicherheit zu schaffen, und sie erfordert völlig neue Werkzeuge. Reden wir nicht nur über Afghanistan. Es gibt ja noch die Nato Response Force oder die Operation Active Endeavor im Mittelmeer. Wir bilden irakische Sicherheitskräfte aus; wir bilden innerhalb der Afrikanischen Union aus und helfen bei deren Darfur-Mission. Es hat gewaltige Veränderungen gegeben bei dem, was wir als Allianz tun und damit auch bei den Instrumenten. Wir müssen uns schleunigst daran anpassen.
Bei all dem: Hat die Nato noch eine klare Mission?
Nuland: Wenn Sie mich fragen, liefert die Allianz heute handfeste Beiträge gegen gemeinsame Bedrohungen. Sie ist ist ein Instrument, dass sich politische Führer auch weiterhin zur Hilfe holen werden. Sie fragen ja nach immer mehr Nato, und für uns ist sie die beste Einrichtung, um Wirkung in der Welt zu erzielen, sei es, wenn es darum geht, der Afrikanischen Union zu helfen, den Balkan zu stabilisieren und ihn in Europa zu integrieren, oder um Afghanistan zu unterstützen. Wie es der Bündnisvertrag von 1949 sagt: Interessen, Sicherheit und Werte verteidigen. Wir dies heute mehr – sowohl militärisch wie politisch – als jemals zuvor.
Und hier die Langfassung des Artikels
Gibt es die Nato noch?
aus der Print-Ausgabe der ZEIT vom 7. Februar 2008:
Der Einberufungsbefehl, den der amerikanischen Verteidigungsminister vergangene Woche an die deutsche Bundeswehr schrieb, dürfte erst der Anfang gewesen sein eines großen, nunmehr öffentlichen Zerrens um einen gerechten Blutzoll in Afghanistan. „Wir werden unsere Verbündeten auf dem Nato-Gipfel in Bukarest erneut herausfordern, mit uns gleichzuziehen, Soldat für Soldat, Euro für Dollar“, kündigte die amerikanische Nato-Botschafterin Victoria Nuland soeben in der Washington Post an.
Bis zum Gipfel im April wird die Frau nicht warten müssen. Schon Ende dieser Woche dürfte beim Verteidigungsministertreffen in Vilnius und erst recht bei der hochkarätig besetzten Sicherheitskonferenz in München weiterer Unmut explodieren über die Schein-Solidarität, die aus Sicht der Amerikaner, Kanadier und Briten seit Jahren im Bündnis herrscht.
Die Nato gibt sich politisch noch immer gern als gemeinsame Benutzeroberfläche derer, die sich „Westen“ nennen. Doch je mehr Kugeln und Raketen in Afghanistan fliegen, je mehr Soldaten in der Mission sterben, desto gnadenloser fördert sie die gewaltigen Mentalitätsunterschiede zwischen den Nato-Staaten zutage, über die die Allianz seit 1990 selbstvergessen hinwegsah. Doch jetzt hat, das zeigen solche Depeschen wie die von Robert Gates und Victoria Nuland, die Geduld der angelsächsischen Krieger mit den europäischen Brunnenbohr-Brüdern allmählich ein Ende.
Der aktuelle Streit steht für mehr als ein Tauziehen um Anti-Taliban-Bataillone in Nord- und Südafghanistan. Auf dem Gefechtsfeld ist vielmehr ein grundlegender Bruch des Nato-Westens selbst zu besichtigen. Bei nüchterner Betrachtung nämlich plagen das 59 Jahre alte transatlantische Verteidigungsbündnis aus 26 Staaten schon seit einiger Zeit drei größere Probleme. Erstens, ist es noch transatlantisch? Zweitens, dient es noch der Verteidigung? Drittens, ist es noch ein Bündnis?
Diese bescheidenen Fragen spricht bisher im Brüsseler Hauptquartier allerdings kaum jemand laut an. Noch schließlich ließen sich offene Konflikte innerhalb der Allianz vordergründig auf Personen abwälzen. Man reibe sich ja keineswegs an Amerika, bekräftigten die von Donald Rumsfeld als „alt“ gestempelten Europäer wie Deutschland und Frankreich seit der Irak-Krise 2003 – sondern doch nur am Stil eines George Bush. Gegenüber der nächsten, vermutlich europafreundlicheren US-Regierung wird dieses Abwehrargument nicht mehr ziehen.
Für die Nato nach Bush ist es an der Zeit, sich ehrlich zu machen darüber, ob es mehr gibt, was sie zusammenhält oder mehr, was sie trennt. Zwar hat der 11. September 2001 ihr noch einmal einen Solidaritäts-Schock verpasst. Doch schon der nächste echte Belastungstest könnte die Allianz mit einer unangenehme Wahrheit konfrontieren: Dass sie womöglich längst ein politischer Zombie ist, eine lediglich gut geschminkte Untote aus dem Kalten Krieg.
Immerhin, auch ein neuer Weltmachtführer mit Namen Barack Obama oder Hillary Clinton oder John McCain wird sich um ein paar der verbleibenden Probleme des Planeten kümmern müssen. Und derer gibt es mehr denn je. Neben Irak und Afghanistan geraten immer mehr Staaten auf die Liste der Wackelkandidaten, von denen entweder Bürgerkrieg, Terror- und Atomwaffenexport oder gleich alles zusammen droht. Kosovo, Somalia, Libanon, Palästina, Syrien, Iran, Nordkorea, um nur die aktuelle Liste zu nennen.
Zugleich wird eine erste Inventur von Amerikas Kraftpotenzial nach der Hybris der Bush-Jahre eher ernüchternd ausfallen. Das 1,2 Millionen Soldaten starke US-Militär – überdehnt, ausgelaugt und interventionsmüde. Die mythische moralische Überlegenheit der „Führungsnation der freien Welt“ – perforiert im Kugelhagel von Bagdad und Falludscha, angefault in den Fluren von Guantánamo und Abu Ghraib.
Der neue Mieter im Weißen Haus dürfte daher, sobald er an globale Ordnungspolitik denkt, sehr schnell sehr freundlich Richtung Europa lächeln. Doch wenn Amerikaner an Europa denken, kommt ihnen ein anderes Kürzel in den Sinn als den Europäern. Washington denkt nicht zuerst EU. Washington denkt zuerst Nato. Schließlich ist das nordatlantische Verteidigungsbündnis jener Club, in dem die amerikanische Regierung Sitz und Stimme hat. Den seltsamen Verein Europäische Union betrachtet die US-Regierung eher mit einem soziologischen Interesse.
Im Ost-West-Konflikt ergab sich der gegenseitige Beistand der Nato-Mitglieder notwendig aus der Schlachtfeldlogik einer zweigeteilten Welt. Gegenüber dem lebensbedrohlichen Panzer- und Raketenarsenal des Warschauer Pakts waren die Sicherheitsinteressen des einen die Sicherheitsinteressen aller anderen.
Knapp zwanzig Jahre nach der Wende von 1989 ist anstelle dieses Solidaritätsgefühl ein, jedenfalls in der öffentlichen Meinung, regelrechter West-West-Konflikt getreten. Amerika, einstiger Hauptgarant europäischer Sicherheit, erscheint mittlerweile vielen Europäern als globaler Gefährder Nummer eins. Laut einer im März 2007 vom stern veröffentlichten Forsa-Umfrage halten 48 Prozent der Deutschen die USA für die größere Bedrohung des Weltfriedens als den Iran. Nur 31 Prozent sehen es umgekehrt. Die aktuelle „Transatlantic Trends“-Umfrage des German Marshall Fund ergibt, das 58 Prozent der Europäer eine führende Rolle Amerikas in der Weltpolitik für „nicht wünschenswert“ halten. Laut derselben Untersuchung glauben nur noch 55 Prozent der Deutschen, die Nato spiele eine wesentliche Rolle bei der Gewährung nationaler Sicherheit (2002 waren es noch 74 Prozent). Und während 74 Prozent aller Amerikaner glauben, es könne Umstände geben, unter denen ein Krieg gerecht sei, sagen dies nur 32 Prozent aller Europäer (gar nur 25 Prozent der Deutschen). Hinter vorgehaltener Hand schimpfen US-Militärs ihre deutschen Pendants längst Feiglinge. Und deutsche Nato-Diplomaten müssen zugeben, dass es bei der Bundeswehr schon „diese Schutz- und Versorgungsmentalität“ gebe.
Hinter all diesen Entfremdungen, steckt ein, wenn man so will, Nato-interner Clash of Civilisations, ein Zusammenprall der Sicherheitsphilosophien. Amerikas Strategie seit dem 11. September 2001 ist im Grunde einfach. Die USA wollen Demokratie exportieren, um Sicherheit zu importieren. In der europäischen Wahrnehmung erscheint die Umsetzung allerdings ziemlich misslungen. Zugespitzt etwa so: Amerika exportiert Krieg und importiert Unsicherheit, vor allem nach Europa.
Beispiel Antiterrorkampf. Amerika befindet sich offiziell im „Krieg“ gegen den Terrorismus, im Global War On Terrorism (GWOT), wie die ersten Sätze der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2006 noch einmal bekräftigen. Der Kampf gegen al-Qaida ist für die USA daher vor allem eine militärische und externe Herausforderung. Die Europäer betrachten den Terrorismus hingegen vor allem als kriminelles und daher internes Problem, dem mit Geheimdienst-, Polizei- und Sozialarbeit begegnet werden müsse. „Homegrown“, also hausgemachte Islamisten wie die jüngst festgenommenen aus dem Sauerland, lassen sich durch Militäreinsätze in Afghanistan in der Tat schwerlich von ihrem anti-westlichen Fanatismus abbringen. Im Gegenteil, jede neue Auslandsmission, sei es im Libanon, sei es im Tschad, bestätigt die Dschihadisten in ihrem Wahn von einem Weltbürgerkrieg Westen gegen Muslime. „Der Begriff des Krieges gegen den Terrorismus dürfte auf die Allianz dauerhaft eher verunsichernd als inspirierend wirken“, resümierte soeben eine amerikanisch-französische Expertengruppe des renommierten International Institute for Strategic Studies (IISS).
Beispiel Irak-Krieg. Der Feldzug von 2003 und seine Folgen haben Europa de facto unsicherer gemacht. Islamistischer Terrorismus und Extremismus entflammen von London über Wien bis Istanbul, irakische Flüchtlinge strömen zu Tausenden nach Norden. Und an der Südostflanke der Nato erheben sich kurdische Rebellen gegen die Türkei – ohne dass das amerikanische Militär viel dagegen ausrichtete. „Während des Kalten Krieges waren wir die Guten“, ärgert sich ein türkischer Regierungspolitiker. „Wer sind wir eigentlich jetzt? Wo ist die Nato, wenn wir sie brauchen?“
Beispiel Iran-Konflikt. Trotz des neuesten US-Geheimdienstberichtes vom Dezember, wonach Iran sein Kernwaffenprogramm 2003 eingefroren habe, bleibt aus amerikanischer Sicht nur eines, was am Ende schlimmer wäre als eine Bombardierung iranischer Atomanlagen: Eine iranische Atombombe.. Sprengköpfe in den Händen der Mullahs, heißt es, würden unweigerlich zu Krieg und Erpressung in der Region führen. Die europäische Bewertung ist, wenn auch nicht klar ausgesprochen, die umgekehrte: Nichts wäre verheerender als ein US-Militärschlag gegen Teherans Nuklearanlagen. Denn dann werde es Krieg geben in der Region. „Mit den Amerikanern“, sagt eine EU-Diplomatin, „können wir uns vielleicht noch darauf einigen, das Iran-Problem nicht als Nagel zu betrachten, sondern als Schraube.“ Nicht ganz sicher ist sie sich indes, ob USA und EU die Schraube letztlich in die gleiche Richtung drehen.
Beispiel Raketenabwehr. Während die Amerikaner Langstreckenraketen aus dem Iran für eine der ernstesten Bedrohung der Zukunft halten und deshalb so schnell wie möglich in Osteuropa Abfangraketen stationieren wollen, bitten die europäischen Nato-Staaten für eine abschließende Bewertung um Geduld. „Im Moment sind wir noch nicht sicher, ob die amerikanische Raketenabwehr Europa mehr Sicherheit oder mehr Unsicherheit bringt“, sagt ein westeuropäischer Nato-Diplomat. Vor einem „neuen Wettrüsten“ warnt gar Europas Linke. Hinzu kommt, dass Europas Verteidigungsminister chronisch knapp bei Kasse sind und eine Beteiligung an dem milliardenschweren High-Tech-Vorhaben scheuen. Die US-Regierung hat allein im laufenden Jahr 10 Milliarden Dollar für das Projekt ausgegeben, das entspricht fast einem Drittel des gesamten deutschen Bundeswehrhaushalts.
Ein paar weitere Zahlen zum Ungleichgewicht der Allianzschatullen: Für 2008 hat das Pentagon ein Bugdet von 623 Milliarden Dollar beantragt – das ist mehr als die Verteidigungsausgaben der gesamten übrigen Welt (etwa 500 Milliarden Dollar). Die 27 EU-Staaten geben zusammen nur 170 Milliarden Euro für ihre Armeen aus.
Beispiel Strategie. Die amerikanische Sicherheitsstrategie von 2002 rechtfertigt ausdrücklich Präemptionsschläge, also einem potentiellen Angreifer in den Arm zu fallen, ohne selbst angegriffen worden zu sein.. Die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 schließt sie aus, um das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen nicht zu untergraben. Aus Angst, in den Ruch amerikanischen Interventionismus zu geraten, bemühen sich die Europäer seit dem Irak-Krieg zudem, möglichst viele Missionen unter dem Label „EU“ oder „UN“ statt „Nato“ laufen zu lassen. Der im Sommer 2006 verstärkte (und im Wesentlichen europäische) Friedenseinsatz im Libanon wäre unter Nato-Flagge undenkbar, ebenso die geplante Hilfsmission im Tschad. „Seien wir ehrlich“, sagt ein südeuropäischer Nato-Diplomat, „die Prioritätenliste der USA für ihre Missionen lautet: Erst eine Koalition der Willigen, dann die Nato, dann EU-Truppen. Die Europäer möchten es umgekehrt: Wann immer möglich EU-Truppen, dann die Nato, und nur im Notfall freie Koalitionen.“ Konsequenterweise drängt Amerika darauf, immer mehr Länder in die Nato aufzunehmen, um den Pool kompatibler Streitkräfte zu erweitern. Als Washingtons Kandidaten für eine „Globale Nato“ gelten unter anderem Australien, Neuseeland, Japan, Süd-Korea, Brasilien, Georgien und die Ukraine. Vor allem gegenüber den beiden letzten hegen europäischer Außenpolitiker große Skepsis – wäre ihre Mitgliedschaft doch geeignet, den kränkungsempfindlichen Energie-Lieferanten Russland zu vergrätzen.
Was also hält die Nato überhaupt noch zusammen? Die amerikanische Nato-Botschafterin in Brüssel, Victoria Nuland, schaut verblüfft angesichts dieser Frage. „Gemeinsame Werte“, sagt sie völlig selbstverständlich. „Wir müssen wieder mehr darüber reden, demokratische Werte zu verteidigen, die Gemeinschaft demokratischer Staaten als solche. Die Ziele des Nato-Vertrag von 1949 – Interessen, Sicherheit und Werte zu verteidigen – gelten heute mehr denn je, und wir verfolgen sie entschlossener denn je, sowohl militärisch als auch politisch.“
Guantánamo, folterähnliche Verhörmethoden und CIA-Entführungen mögen dieses hübsche Bild aus europäischer Sicht noch so sehr trüben – für Washington bleiben derlei Exzesse Peanuts. Aus Sicht von Botschafterin Nuland herrschen im Bündnis keinerlei Fliehkräfte in die eine oder andere Richtung.
Glaubt sie wirklich, amerikanische Soldaten seien bis heute bereit, für deutsche Sicherheitsinteressen zu sterben? „Absolut“, antwortet sie mit festem Blick. „Absolut.“
Ähnlich aus der Zeit gefallen erscheint eine Liebeserklärung ausgerechnet des französischen Präsidenten an die Nato. Im Sommer überraschte Nicolas Sarkozy mit der Andeutung, sein Land könne in die Befehlsstrukturen des Bündnisses zurückkehren. Charles de Gaulles hatte sie 1966 verlassen, weil er seine Streitkräfte nicht unter amerikanischen Oberbefehl stellen wollte. Sarkozy nun strebt nach eigenem Bekenntnis zweierlei an: eine „unabhängige Europäische Verteidigung“ und eine „erneuerte Nato“, in der Frankreich wieder „eine vollwertige Rolle spielen“ soll.
Wie beides, transatlantischer und europäischer Muskelaufbau, zusammen gehen soll, darüber rätseln indes nicht nur Sarkozys eigene Diplomaten. In Brüssel wird bezweifelt, ob es dem Präsident überhaupt um eine Stärkung der Nato geht, sondern nicht vielmehr um die der Grande Nation. Schließlich hat Sarkozy einer Nato-Integration die Bedingung vorangestellt, dass französische Generale Bündnis-Posten „der höchsten Ebene“ bekommen müssten. Genauer betrachtet klingt also auch das nicht nach der großen neuen Nato-Vision. Eher nach Neo-Napoleonismus.
Welche Ideen also bleiben der Nato, um sich neues Leben einzuhauchen? Vor allem zwei Schlagworte machen derzeit machen die Runde in den Fluren des Hauptquartiers. Energiesicherheit und Cyberterrormismus. Allen voran die neuen osteuropäischen Nato-Staaten wie Polen und die baltischen Republiken sorgen sich, Russland könne sein Gas und das Internet als unkonventionelle Waffen einsetzen. Nach ihrer Auffassung ist Energiesicherheit eine „Frage der Menschenrechte.“ Man stelle sich, so ihr Argument, nur einmal vor, welche humanitäre Katastrophe es auslösen würde, wenn mitten im Winterfrost in einem Land sämtliche Heizungen ausfielen. Die Nato, heißt es, sollte daher prüfen, ob sie notfalls genügend Ölschiffe und Tanklaster aufbringen könne, um ein abgekapptes Land komplett zu versorgen. Das klingt zwar schon irgendwie militärisch. Doch Grundvoraussetzung für eine solche „Energie-Nato“ wären vor allem entsprechende Lagerbestände in sicheren Drittländern. Solche Vorräte allerdings sind jetzt schon knapp und teuer – und würden in Krisenzeiten vermutlich viel eher zu nationalen Schätzen als zu Nato-Spendenmasse.
Auch der neue Progammpunkt „Cyber Defense“ eher wie ein Vorschlag aus dem sicherheitspolitischen Hobby-Keller. Seit die estnische Regierung im Mai Opfer eines massiven Hacker-Angriffs wurde, grübelt die Nato über künftige Hilfs- und Gegenmaßnahmen. Beim Verteidigungsministertreffen in Vilnius könnten dem Vernehmen nach wichtige Beschlüsse zur „Cyber Defense“ fallen. Doch selbst wenn da Bündnis beschlösse, seine IT-Abteilung aufzurüsten – eine erfüllende Zukunftsaufgabe für Europas zwei Millionen Soldaten erwächst daraus ebenso wenig wie ein neuer transatlantischer Zusammenhalt.
Es sieht es also aus, als bliebe die schizophrene Neigung der Nato bis auf Weiteres unbehandelt. Die Europäer arbeiten vielmehr mit Kräften daran, ihre eigene Friedens- und Sicherheitspolitik zu organisieren. Ganz anders als Amerika trimmt Europa seine Soldaten dabei aufs Hebammenhandwerk. Rechtsstaatsförderung, Entwicklungshilfe, Polizeiausbildung und Ingenieursarbeit zählen von Afghanistan über den Tschad bis in den Kosovo zu den Hauptaufgaben der Nation Builder in Flecktarn. Offiziell finden US-Vertreter diese Neuausrichtung ganz großartig. Europas neue Zivilmacht lasse sich doch prächtig mit Amerikas traditioneller Feuerkraft kombinieren, sagen sie.
Doch was, wenn sich herausstellt, dass diese zwei Säulen der Nato in Wahrheit kein gemeinsames Dach mehr haben? Wenn Europa in Wahrheit vom Ehrgeiz getrieben ist, sich vom großen, halbstarken Bruder USA zu emanzipieren? „Eigentlich“, findet ein Mitarbeiter des EU-Außenbeauftragten Javier Solana, „sollten wir gar keine Verteidigungsminister mehr ernennen. Sondern lieber aus den Außen- und Entwicklungshilfeministern Sicherheitsminister machen.“ Alles andere – das Amerikanische mit anderen Worten – sei doch ein Festhalten an der Machtpolitik vergangener Jahrhunderte. Das mag sein. Aber wenn es so ist, dann wird ein neuer Name allein der Nato kaum übers 21. Jahrhundert hinaus helfen.