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Brüsseler Entgrenzung

 

Manchmal lohnt es sich, im Kleingedruckten der Brüsseler Pressemitteilungen zu stöbern. So gab die slowenische Ratspräsidentschaft vor wenigen Tagen bekannt, sie habe vor, Verbalterrorismus hart zu bestrafen.

Es sei, so der slowenische Innenminister, der Wunsch einer Mehrheit der EU-Justizminister, bei der Änderung des Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung neben der Aufnahme neuer Straftatbestände wie Anwerbung und Ausbildung für terroristische Vorhaben auch bestimmte Äußerungen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu erfassen. Die Präsidentschaft wolle auf der nächsten Ratstagung im April zu einer gemeinsamen Ausrichtung kommen.

Der Rat ist der Teil des Brüsseler Apparats, der verbindliche Beschlüsse für alle Mitgliedsstaaten fasst.

Es gehe darum, „bestimmte Formen rassistischer Meinungsäußerungen und Fremdenfeindlichkeiten mit den Mitteln des Strafrechts“ zu bekämpfen, heißt es in der Mitteilung der Slowenen (Seite 14).

Dieses Vorhaben könnte wieder einmal eins von der Art sein, das die nationalen Parlamente in Aufregung versetzt – falls und wenn sie irgendwann davon Wind bekommen. Man stelle sich einmal vor: Künftig soll auch derjenige unter Terrorismusverdacht geraten, der dumme, ausländerfeindliche Sprüche klopft? Wollen wir das ernsthaft? Wollen wir, dass sich den Staatsanwälten das ganze Arsenal strafprozessualer Möglichkeiten (Telefon- und Videoüberwachung, Observation, siehe Paragraph 100a StPO) eröffnet, welches eine Straftat gegen die öffentliche Ordnung nach sich ziehen kann – nur weil jemand Stuss erzählt hat?

Vor allem aber: Braucht Deutschland eine solche Gesetzgebung? Schon heute ist Beleidigung ebenso strafbar wie die Äußerungen bestimmter Meinungen, sofern sie den öffentlichen Frieden zu gefährden geeignet sind (Volksverhetzung). Wo also ist die Lücke, die es zu stopfen gilt?

Hin und wieder ist es ratsam, Brüsseler Rechtsakte auf einen alten Grundsatz hin zu überprüfen, den niemand gerne in den Mund nimmt, weil er so furchtbar schwierig auszusprechen ist. Er lautet Subsidiarität. Und bedeutet, dass die EU nur das zu regeln hat, was europaeinheitlich geregelt werden muss.

Die Frage ist bloß, wer bestimmt, was am besten europaeinheitlich geregelt werden muss? Die nationalen Parlamente tun jedenfalls nicht viel, um die Definitionshoheit über diese Frage zu behalten. Im Gegenteil. Was richtig und wichtig für die europäische Integration sei, wird zunehmend in Brüssel entschieden.
Dies führt zu einer – sorry für das schwierige Wort – antisubsidiären Eigendynamik. Will sagen: Je vereinheitlichter Europa wird, desto leichter lässt sich jede neue Vereinheitlichung begründen. Argumentationstheoretisch könnte man sagen, dass sich die EU eine immer breitere Prämisse verschafft. Die Tatsache, dass a, b und c europaweit geregelt ist, dient als Rechtfertigung, demnächst auch noch d europaweit zu regeln. Oder, wie es im Umgangsdeutsch heißt, sowas kommt von sowas. Eine solche schleichende Selbstbegründungsbewegung führt das Subsidiaritätsprinzip irgendwann ab absurdum.

(Dazu eine aktuelle Anekdote:
Auf dem gestrigen Brüsseler Wahlkampfauftakt der EVP-Fraktion tauschten sich an einem Bistrotisch zwei britische konservative Europaparlamentarier über die Grundsatzreden aus, die Minuten zuvor ihre Parteiführer vor großem Publikum erläutert hatten.
Der Kommentar des einen lautete: „Wir verkaufen den Leuten mit dieser Verfassung die Illusion eines sicheren Europas. In Wahrheit geht es darum, dass die Nationen immer mehr Hoheitsrechte abtreten sollen.“
Die Antwort seines Parteikollegen: „Ja, natürlich.“
An diesem Punkt gab sich der hinzugetretene Gast als deutscher Journalist zu erkennen.
„Oh. Sie schreiben das hoffentlich nicht, oder?“
Sicher nicht mit Namensnennung, entgegnete ich, zugleich lobend, dass ich diese Offenheit durchaus erfrischend fände.
„Ja, wissen Sie“, sagte der Brite, „zwischen dem was wir in Brüssel sagen können und dem, was von uns an Äußerungen im Wahlkreis erwartet wird, öffnet sich manchmal eine Schere.“
Wenige Sekunden später hatte ich den Bistrotisch für mich allein.)

In der Terrorismusbekämpfung drängt sich längst der Eindruck auf, dass es den europäischen Innenministern nicht mehr um das Notwendige geht, sondern um das Mögliche.

Es gibt viel Sinnvolles, das Brüssel für ganz Europa festlegen sollte, weil es nicht nur um nationale Interessen geht, sondern um übergeordnete, um die des gesamten Kontinents. Dazu gehören Kleinigkeiten wie Wärmedämmvorschriften für Gebäude ebenso wie Größeres, etwa Regeln für freien Wettbewerb im Binnenmarkt.

Die Einschränkung von Bürgerrechten gehört ganz sicher nicht dazu.