Eigentlich ist Südamerika für die Europäer ja kein ganz neuer Kontinent. Das geeinte Europa selbst aber macht sich jetzt erst, fünfhundert Jahre nach der Conquista, auf, Lateinamerika zu entdecken.
Soeben trafen die 27 Staatschef der EU in Lima die Präsidenten Lateinamerikas, um über gemeinsame Zukunftsaufgaben zu sprechen. Aus Sicht der Europäischen Union spielt Südamerika auf der Weltbühne mittlerweile die Rolle eines immer ernster zu nehmenden Heranwachsenden. Einer, mit dem es sich aus mehreren Gründen lohnt, engere Beziehungen aufzubauen.
Da ist zum einen das, was Südamerika nicht mehr ist: ein mit Dikaturen gespickter Erdteil.
Waren in den 70er Jahren fast noch überall autoritäre Regime an der Macht, herrschen mittlerweile in beinahe allen lateinamerikanischen Staaten – Kuba ausgenommen – demokratisch legitimierte Regierungen.
Und da ist das, was Südamerika noch nicht ist: ein stabiler, verlässlicher Partner in der Weltpolitik. Von den 550 Millionen Einwohnern leben mehr als 200 Millionen unter der Armutsgrenze. 80 Millionen leiden gar Hunger. Die soziale und wirtschaftliche Kluft macht viele Menschen anfällig für populistische Linkspolitiker, mit denen eine konstruktive Außenpolitik kaum möglich erscheint. In Bolivien und Venezuala herrschen mit Evo Morales und Hugo Chavez sozialistische Heißsporne, Kolumbien und Ecuador sind innenpolitisch zerrissen und fragil.
Die Strategie der EU der lautet, mit der Bekämpfung von Armut zugleich sich selbst zu helfen. Denn ebenso wie Lateinamerika weiteren Wirtschaftsaufschwung und “good governance” braucht, braucht Europa den Kontinent als Absatzmarkt – und für den Klimaschutz, wie Brüsseler Diplomaten gerne etwas lauter ankündigen. „Zusammen“, zählt der Vorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament, Martin Schulz, in der FAZ auf, „verfügen Europa, Lateinamerika und die Karibik-Staaten über eine Milliarde Menschen, ein Viertel des weltweiten Bruttosozialprodukts, sie zählen 60 Staaten, besetzen zurzeit sieben Sitze im Sicherheitsrat und ein Drittel der Stimmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel nutzte den Gipfel in Peru, um zusätzlich Brasilien, Kolumbien und Mexiko zu besuchen,
begleitet von einer elfköpfigen Wirtschaftsdelegation. Die Bundesregierung hatte darauf gehofft, dass zwischen der EU und der südamerikanischen Freihandelszone MERCOSUR ein Assoziierungsabkommen zustande kommt – noch immer aber stocken die Verhandlungen, „auch weil die EU ihrer moralischen Verplichtung nicht nachkommt, den Agrarprotektionismus abzuschwächen“, so Martin Schulz.
“Während die Mitglieder des MERCOSUR einen besseren Zugang zum abgeschotteten EU-Markt für Agrarprodukte anstreben, erhoffen sich europäische Unternehmen Erleichterungen für Investitionen und bei der Vergabe von Staatsaufträgen”, heißt es im – durchaus lesenswerten – Strategiepapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Lateinamerika.
Angela Merkel hat ihre ersten starken Eindrücke von Lateinamerika schon vor Beginn der Reise empfangen, die sie vom 13. bis zum 20. Mai auf den Subkontinent führt: Venezuelas Staatschef Hugo Chavez rückte die Bundeskanzlerin rhetorisch in die Nachbarschaft des Nationalsozialismus, als Erbin einer politischen Rechten, »die Hitler und den Faschismus unterstützt hat«.
Trotz solcher präpotenten Potentaten will Europa in Südamerika aufs Gas drücken. Denn vor allem China macht als Handelspartner Konkurrenz – durch den massenhaften Import von südamerikanischen Rohstoffen und den Export von Technik.
“Die EU, mit 20 Prozent Anteil die weltgrößte Handelsmacht, wickelt hingegen mit Lateinamerika weniger als 5 Prozent ihres gesamten Außenhandels ab”, klagt die CDU. Höchste Zeit also, den Kontinent ein zweites Mal zu entdecken.