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Flugverbotszone jetzt!

Der Westen darf nicht länger zögern, die libysche Bevölkerung zu schützen

Auf was wartet der Westen, um eine Flugverbotszone über Libyen einzurichten? Muss Muammar al-Gadhafi erst erneut damit beginnen, die Bevölkerung zu bombardieren? Diesmal vielleicht in einer Schlacht um Tripolis, in der er, wie angekündigt, lieber kämpfend untergehen will als abzutreten?

In der Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates am vergangenen Freitag verglich der vom Regime abgefallene libysche Gesandte den derangierten Diktator mit Menschenschlächtern wie Pol Pot und Adolf Hitler. Wie diese beiden rufe auch Gadhafi seinem Volk zu: „Entweder ich beherrsche euch oder ich töte euch!“ Viel spricht dafür, dass der Diplomat mit seiner Einschätzung Recht hat. In einem Interview mit amerikanischen Journalisten trat Gadhafi unlängst auf wie eine Mischung aus Nero und Erich Mielke – völlig entrückt von der Wirklichkeit, gefangen im Wahn von einem ihm ergebenen Volk, rationaler Ansprache unzugänglich.

Angesichts der kompletten Unberechenbarkeit dieses Mannes müssen sich Europa und Amerika darauf vorbereiten, notfalls das Schlimmste für die Libyer zu verhindern, und zwar besser heute als morgen. Doch statt handfester Initiativen für eine Flugverbotszone hört man aus Washington, Berlin, London und Paris nur vage Ankündigungen. Eine Luftraumsperrung müsse als Option „erwogen“ werden, lassen die Außenminister verlauten. Lady Ashton, die „Hohe Vertreterin“ für Außenpolitik in Brüssel, kommt nicht einmal auf den Gedanken, die Europäer zu einer gemeinsamen Position zu drängen. Die Baroness legt es dieser Tage offenbar darauf an, aller Welt zu beweisen, was für eine blamable Fehlbesetzung sie in dem Amte ist.

Eine Flugverbotszone ist keine verkehrspolizeiliche, sondern eine robuste und gefährliche militärische Aktion. Zunächst müsste die libysche Luftabwehr ausgeschaltet werden. Dabei würden aller Voraussicht nach Menschen sterben. Als nächstes müssten westliche Piloten bereit sein, libysche Kampfjets notfalls abzuschießen – und selbst das Risiko eingehen, abgeschossen zu werden. Laut Schätzungen des Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) verfügt Gadhafi über rund 230 Kampfflugzeuge, vor allem MiGs, und 35 Kampfhubschrauber. Das wäre, wenn die Zahlen stimmen, eine beeindruckende Flotte.

Umsetzen könnte Europa eine no-flight zone ohnehin nur im Nato-Verband. Die Allianz verfügt nicht nur über die Awacs-Boeings, Jets und Tankflugzeuge, die dafür notwendig wären, sie hätte auch die notwendige Erfahrung. Schon einmal, 1993, baten die UN die Nato, die Bombardierung von Zivilisten zu verhüten. Damals ging es um den Schutz Bosnien-Herzegowinas. Fast 1000 Tage lang verhindern damals auch Tornados der Bundeswehr, dass serbische Bomber humanitäre Schutzzonen angriffen.

Abdel-Hafidh Ghoga, ein Sprecher der provisorischen Rats der Oppositionellen in Libyen, bittet heute in der New York Times die Weltgemeinschaft, ihren Militärs ein entsprechendes Mandat zu erteilen. „Wenn sie (die Flugverbotszone, d. Red.) sich auf die Vereinten Nationen stützt, dann ist es keine fremde Invasion.”
Westliche Diplomaten halten dem entgegen, dass China und Russland signalisiert hätten, sie würden einer Flugverbotszone nicht zustimmen. Deswegen wäre es unklug vom Westen, jetzt einen Vorstoß zu unternehmen. Das erste stimmt, das zweite nicht. Es wäre durchaus einen Versuch im Sicherheitsrat wert, um zu sehen, ob sich Moskau und Peking im Angesicht eines drohenden Massakers in Libyen und im Kameralicht der Welt wirklich sträuben würden, ein Mandat nach Kapitel 7 der UN-Charta zu erteilen.

Die Bedenken, die das Auswärtige Amt in Berlin gegen eine Flugverbotszone anführt, klingen vollständig nach Ausrede. Die Nachbarstaaten Tunesien und Sudan seien gegen die Idee, heißt es. Ach ja, sind sie das? Muss man das Auswärtige Amt wirklich daran erinnern, dass es in der Abwägung um etwas höhere Rechtsgüter geht als um die nationalen Empfindlichkeiten von Libyens Nachbarländern? Es geht um Menschenleben.

Der wahre Grund für die Zurückhaltung dürfte sein, dass bei einer deutschen Beteiligung (es reicht schon die der Awacs-Besatzungen) der Bundestag Grünes Licht erteilen müsste. Das wäre für die Bundesregierung schon dann eine Herausforderung, wenn sie derzeit einen Verteidigungsminister hätte.

Was Europa ganz ohne große Anstrengungen tun könnte, wäre im Übrigen, sämtlichen libyschen Piloten, die ihre Maschinen nach Norden lenken, ausdrücklich politisches Asyl anzubieten.

 

Und sie bewegt sich doch

Wie die Europäische Union auf die Revolutionen vor ihrer Haustür antwortet

Ein Protokoll

Nein, Brüssel ist doch kein Raumschiff. Es ist ein gewaltiger Tanker mit einem 27-Zylinder-Dieselmotor. Bis das sperrige Aggregat anspringt und den Pott in Fahrt bringt, dauert es eine Weile. So richtig auf Touren gekommen, kann er aber durchaus einen klugen Kurs ziehen. Das jedenfalls ist die bisherige Bilanz für den außenpolitischen Ernstfall Ägypten.

Bis zum vergangenen Freitag hat die Europäische Union noch geglaubt, sie könne die Revolutionen in Arabien im diplomatischen Gremienlauf verwalten. „Es gibt keine strukturierte Gesprächsvorbereitung über Ägypten“, antwortete ein Diplomat auf die Frage, wie Europa mit dem Wandel vor seiner Haustür umzugehen gedenke. Nicht? Nein, sagt der Mann, da sei nichts weiter. „Niemand hat bisher eine Generaldebatte über das Mittelmeer eingefordert.“ In Kairo riefen zu diesem Zeitpunkt Tausende Demonstranten „Mubarak: go go go!“, zogen Panzer auf, verhängte das Regime eine Ausgangssperre und drehte das Internet ab.

Eine SMS bringt die Maschinerie in Gang

Drei Tage später, auf dem Höhepunkt der ägyptischen Zeitenwende, sollten die Außenminister der EU in Brüssel zusammenkommen. Um kurz nach 16 Uhr am Freitag springt die außenpolitische Maschine an. In der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der EU piepst das Handy von Hans-Dieter Lucas. Lucas ist der deutsche Botschafter im Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK), dem Gremium, das die Außenministertreffen in Brüssel vorbereitet. Zweimal pro Woche treffen sich die 27 Gesandten der EU-Länder, um das Weltgeschehen in ministergerechte Häppchen zu zerlegen. Die SMS teilt mit: Die EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton wünsche Ägypten auf die Agenda für das Außenministertreffen zu setzen. Europa müsse sich positionieren.

Das Wochenende über feilen Lucas und seine Kollegen in Berlin und Kairo an einem „Non-Paper“, einem internen Leitfaden, mit dem Guido Westerwelle in Brüssel ins Rennen gehen soll. Auf dem zweiseitigen Dokument wagen sich die Deutschen weit vor. „Die EU sollte erwägen, eine Wiederholung der Parlamentswahlen von 2010 zu unterstützen“, lautet ein Kernsatz. Im Klartext: Die Ägypter sollen so schnell wie Möglichkeit die Gelegenheit bekommen, Mubarak aus dem Amt zu fegen.

Am Montagvormittag geht es hektisch zu im 5. Stock des Justus-Lipsius-Gebäudes, dem gewaltigen Brüsseler Granitkubus, in dem sich die Staatenvertreter versammeln. In den Delegationsbüros versuchen die Diplomaten sämtlicher EU-Länder in aller Eile Schlussfolgerungen für die Minister vorzubereiten, ein Blatt Papier, auf das sich alle einigen können. Ab 14 Uhr wollen die Chefs über Ägypten reden. Aber wo sollen so schnell konsensfähige Formulierungen herkommen? Die unangenehme Frage, die plötzlich und ohne Generaldebatte gelöst werden muss, lautet, wie Europa seine Werte verteidigen kann, ohne sogleich seinen langjährigen Partner Hosni Mubarak fallen zu lassen.

„Die politische Uhr tickt“

Im abgeschirmten Sitzungssaal des Ratsgebäudes entspinnt sich eine lebhafte Diskussion. An der Seite Deutschlands, steht, grob gesprochen, das nördliche EU-Lager. Die arabische Welt stehe an einer „Wegscheide“, sagt der schwedische Außenminister Carl Bildt. „Die biologische und politische Uhr tickt. Die Ära Mubarak ist vorbei.“ Europa müsse sich schnell und klar engagieren, immerhin sei das 80-Millionen-Land Ägypten nach Russland Europas größter Nachbar.

Die südlichen EU-Länder raten eher zur Vorsicht. Die Gefahr einer islamistischen Machtübernahme sei nicht auszuschließen, mahnt der zypriotische Minister, „wir sollten vorsichtig sein, was wir uns wünschen.“

Die griechische Vize-Außenministerin äußert die Sorge, eine neue Flüchtlingswelle könne auf Europa zurollen. William Hague, der Brite, findet, die EU solle nicht „den Wechsel um den Wechsel Willen“ unterstützen. „Es handelt sich um eine große Chance, aber auch um ein großes Risiko.“

Die dänische Außenministerin Lene Espersen kontert, sie sei „verstört über diese Diskussion“. Europa dürfe doch Stabilität nicht mit Demokratie aufrechnen! Die Minister reden gut zwei Stunden, fast jeder möchte zu Wort kommen. Lady Ashton macht sich Notizen, sie muss aus all dem die eine EU-Position destillieren.

Aus dem Magma des Chaos…

Ein paar Meter vom deutschen Delegationsbüro entfernt hängt ein leuchtender Schriftzug an der Flurwand, designt von einem belgischen Künstler. „Order emerges again and again from the magma of chaos“, wieder und wieder wächst Ordnung aus der Magma des Chaos. Es ist, in treffend poetischen Worten, das Funktionsprinzip der EU. Bloß blubbert ausgerechnet jetzt, in einem definierenden Moment für die Peripherie der Staatengemeinschaft, das Brüsseler Chaos so gewaltig wie nie zuvor.

Die Revolutionen in Arabien erwischen eine EU in der Inventur. Die bisherige außenpolitischen Doppelstruktur – Strategiefindung im Rat, Verwaltung und Vertretung durch die Kommission – ist aufgelöst, die neue starke Säule, Ashtons Europäischer Auswärtiger Dienst (EAD), noch nicht funktionsfähig.

Zum 1. Januar wurden 1.643 außenpolitische Beamte aus Kommission und Rat auf neu geschaffene EAD-Stellen versetzt, mit neuen Titeln und E-Mail-Adressen versehen und neuen Kollegen zugewiesen. Political animals aus Regierungsgehegen treffen dieser Tage in vielen Büros ungebremst auf  Budgetverwalter und Vertragstechniker des EU-Stadls. „Es herrscht eine gewaltige Unruhe im Apparat“, sagt einer von ihnen verzweifelt. Der wichtige Posten für Strategische Planung beispielsweise ist noch immer nicht besetzt.

Ashtons Mann in Kairo, der Belgier Marc Franco, sorgte derweil bei liberalen arabischen Bloggern für ungläubiges Staunen, als er im Dezember in einem Beitrag für die Zeitung Al-Ahram schrieb: „Man muss sagen, Ägypten hat in den vergangenen Jahren mutige Schritte unternommen, um eine Kultur der Menschenrechte auf allen Ebenen der Gesellschaft zu fördern.“ Das war wenige Tage nachdem Mubaraks NDP bei den Parlamentswahlen aufgrund von Einschüchterungen und Boykotts der Opposition eine beispiellose Mehrheit an sich gerissen hatte.

Zu allem Überfluss trat vergangene Woche auch noch der Generalsekretär der Mittelmeerunion zurück, jener Prestige-Plattform, mit dem die EU zu einer runderneuerten Zusammenarbeit mit Nordafrika finden wollte. Der Mann, ein Jordanier, sei frustriert gewesen von der EU, heißt es – und die EU von ihm. „So richtig unzufrieden mit seinem Rücktritt ist niemand“, sagt ein Insider in Brüssel. Diplomatisch steht die EU gerupft da.

Schweigen im Europaparlament

Kraft- und mutlos präsentiert sich auch das Europäische Parlament. Zwar versteht sich die Völkerversammlung, befeuert durch die neuen Kompetenzen des Lissabon-Vertrages, immer mehr als Antreiber der Mitgliedsstaaten. Doch eigene Ideen einspeisen in die erlauchte Runde der EU-Außenminister, das wollte es dann lieber doch nicht. Das Europaparlament, befindet selbstkritisch der liberale Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff, arbeite außenpolitisch noch genauso schwachbrüstig wie die EU insgesamt. Das Bild, dass Europa nach außen abgebe, erinnere ihn das unfertige Gebiss seiner Kinder: „Die Milchzähne sind schon raus, aber die Erwachsenenzähne noch nicht drin. Und überall klaffen Lücken.“

Und doch, es reckt sich, dieses Europa. Am Montagabend veröffentlichen die Außenminister die Schlussfolgerungen ihres Treffens. Im vorletzten Absatz fordern sie das Regime in Ägypten auf, „den Weg für freie und faire Wahlen zu ebnen“. Gemeint sei damit, beteuern die Deutschen, nicht etwa die ohnehin im Herbst anstehenden Präsidentenwahlen – sondern neue Parlamentswahlen.

Ob dies nicht einem Aufruf an Mubarak gleichkäme, aufzugeben, will ein Journalist von Catherine Ashton wissen. Die Lady wirkt unsicher. „Wir wollen“, antwortet sie, „dass die Menschen selbst bestimmen können. Wir wollen uns nicht in innere Angelegenheiten einmischen.“

Dass die EU das eine tun kann und das andere lassen, das scheint Ashton in diesem Moment selbst nicht ganz zu glauben. Guido Westerwelle immerhin hat schon konkrete Wünsche an die neue Regierung. „Wir wollen nicht“, sagte er mit einiger Inbrunst zum Abschied aus Brüssel, „dass diejenigen, die Intoleranz und Fundamentalismus predigen, auf dieser Welle an die Macht gelangen, und dass die Entwicklung dann doch wieder in Unfreiheit endet.“

Der entscheidende Unterschied zwischen der Reaktion Europas und Amerikas bestand bislang darin, dass Europa bei der Forderung nach Wandel das Wörtchen „jetzt“ vermieden hat. Das erschien klug. Denn wo sind die wahrhaft demokratischen Parteien, die jetzt schon imstande wären, ein neues Ägypten zu bauen?

Heute morgen jedoch veröffentlichten die Staatschefs von Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien eine neue Position. Gleichsam als „Big Five“ erklären sie: „Nur ein zügiger und geordneter Übergang zu einer Regierung, die sich auf eine breite Basis stützt, wird es ermöglichen, die Herausforderungen, vor denen Ägypten heute steht, zu bewältigen. Der Prozess dazu muss jetzt beginnen.“

Im Privatrecht nennt man so etwas Geschäftsführung ohne Auftrag. Dass dies jeden der übrigen 22 EU-Partner begeistert, darf bezweifelt werden. Am 21. Februar treffen sich die Außenminister zum nächsten Positionsvergleich in Brüssel. Man darf gespannt sein, wie sich Europa dann neu sortiert – und für wie lange.

 

Das Hau-Drauf-Parlament

Der Paukenschlag wird lange nachhallen. Das Europäische Parlament hat mit deutlicher Mehrheit (378 Nein-, 196 Ja-Stimmen, 31 Enthaltungen) das SWIFT-Abkommen mit den USA verworfen.

Auf den ersten Blick erscheint das Votum wie ein Sieg der Bürgerrechte über die Datensammelwut der US-Terrorfahnder. Und um keinen Zweifel an der Sachfrage aufkommen zu lassen: Das bestehende Abkommen ist schlecht und muss ersetzt werden.

Aber was ist seit heute wirklich gewonnen?

SWIFT, die belgische Überweisung-Management-Firma, hat (AKTUALISIERUNG) seit dem 1. Februar keine Daten an die USA geliefert. Hätte das Europaparlament dem Interimsabkommen zugestimmt, hätte der Fluß wieder eingesetzt. Die Position der konservativen EVP-Fraktion hatte gelautet, das Abkommen durch Zusätze binnen vier Wochen mit europäischen Datenschutzstandards auszustatten. Die Gefahr von massenhaftem, unkontrolliertem Datenklau (er findet laut Versicherung von SWIFT schon jetzt nicht statt) wäre äußerst gering gewesen. Jedenfalls hätte er nicht offenkundig außer Verhältnis zum erklärten Ziel gestanden, Terrorangriffe zu verhindern.  

Bis zum Oktober sollte ein Langfrist-Abkommen den Interimsvertrag ersetzen, den die EU-Abgeordneten jetzt abgewiesen haben. Neuverhandlungen unter voller Beteiligung des Parlaments standen also ohnehin an.

Der einschneidendste Effekt, für den das Votum des EU-Parlaments jetzt sorgt, dürfte sein, dass es sich die Vereinigten Staaten dreimal überlegen werden, ob sie über künftige Abkommen mit einem Parlament verhandeln wollen, das es offenbar als seine Hauptaufgabe ansieht, effekthascherisch seine neugewonnenen Muskeln spielen zu lassen.

Einlassungen wie die der SPD-Abgeordneten Birgit Sippel stehen exemplarisch für die Mischung aus Gefallsucht und moralischer Selbstüberhöhung, die die Straßburger Versammlung in der Post-Lissabon-Phase an den Tag legt. „Das Europäische Parlament zeigt Zähne“, sagt die Innenexpertin. Und: „Ein Kniefall (…) vor den USA wäre ein Zeichen der Schwäche gewesen.“

Stärke hat das Parlament mit seiner Entscheidung in der Tat bewiesen. Sippel und ihre Kollegen müssen jetzt bloß noch merken, dass Außenpolitik kein Hau-den-Lukas-Wettbewerb ist. Der Sache der europäischen Bürgerrechte wäre langfristig besser gedient, wenn das Europäische Parlament beweisen würde, dass es seine Macht ebenso verantwortungsvoll einzusetzen versteht wie europäische Nationalstaaten. Ansonsten nämlich gibt es für fremde Mächte wenig Grund, sich mit dem neuen Lissabon-Europa einzulassen.

 

Was SWIFT verhindert hat

Es gibt eine Liste der Anti-Terror-Erfolge. Warum hat das Europäische Parlament sie nicht diskutiert?

Es ist die vielleicht wichtigste Abstimmung, die es je abzuhalten hatte. Das Europäische Parlament will morgen darüber entscheiden, ob weiterhin SWIFT-Überweisungsdaten aus Europa an die Vereinigten Staaten übermittelt werden dürfen.

Die Frage der Bankdatenübermittlung ist von einer rechtpolitischen Diskussion zu einer transatlantischen Grundsatzangelegenheit aufgewachsen. Während der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende appellierte Barack Obamas Sicherheitsberater James Jones an die Parlamentarier, das SWIFT-Abkommen nicht zu torpedieren; es unverzichtbar für die Terrorismusabwehr sowohl in den USA wie auch in der EU. Außenminister Hillary Clinton lud die EU-Politiker nach Washington ein. Dort wolle sie ihnen die Nutzen der Datenanalyse erläutern.

Doch um genau diesen Nutzen in Augenschein zu nehmen, hätten die EU-Abgeordneten nur wenige Meter zu Fuß gehen müssen. Im Brüsseler Ratsgebäue lag seit dem 1. Februar ein geheim gehaltener Bericht aus, der zehn Fälle auflistet, in denen SWIFT-Daten angeblich zur Aufklärung von Terrorangriffen oder islamistischen Netzwerken beigetragen haben. Zusammengetragen wurde die Liste von dem französischen Ermittlungsrichter Jean-Louis Bruguière, einem hartleibigen Terroristenjäger. Anders als die europäische Öffentlichkeit hatten EU-Parlamentarier Zugang zu dem Dokument. Doch in keiner der Debatten im EU-Parlament spielten die Fälle, die es auflistet, eine Rolle.

Der ZEIT liegt die Brugière-Liste vor. Die zehn Fälle, bei denen SWIFT-Daten demnach zu Ermittlungserfolgen geführt haben, sind:

1. Im Jahr 2006, zum 5. Jahrestag des 11. September, wollten islamistische Terroristen 12 Flugzeuge aus Europa über New York, San Francisco, Boston und Los Angeles zum Absturz bringen. SWIFT-Daten, so der Rats-Bericht, hätten nach den Anschlagversuchen „zu neuen Spuren geführt, Identitäten bestätigt sowie Beziehungen zwischen den einzelnen Verantwortlichen der Terrorplanung ausgemacht.“

2. Trotz gegenteiliger Behauptungen des Bundeskriminalamtes (BKA) und des Bundesinnenministers hätten im Sommer 2007 SWIFT-Daten noch vor der Festnahme der „Sauerland-Gruppe“ nicht nur die Konto- und Überweisungsdaten eines ihrer Mitglieder ermittelt, sondern auch ergeben, dass der Verdächtige Konten im Ausland unterhielt. Ebenfalls vor der Festnahme sei festgestellt worden, dass ein zweites Mitglied der Gruppe Finanzbeziehungen „mit Personen im Ausland“ unterhielt. Diese Informationen seien der Bundesregierung übermittelt worden.

3. Im Januar 2009 stellten US-Behörden Ermittlungen über eine Gruppe Amerikaner an, die mit Hilfe von al-Qaida einen Anschlag in der Vereinigten Staaten geplant haben sollen. Die Personen sollen mit einem mutmaßlichen al-Qaida-Mitglied in Dänemark in Verbindung gestanden haben. SWIFT-Daten hätten „Geldflüsse von und zu den drei Personen in den USA gezeigt.“ Sie hätten „wichtige Informationen enthalten, um neue Untersuchungsrichtungen zu eröffnen. Europäische Partner haben die Informationen auch für eigene Ermittlungen genutzt.“

4. Nach der Terrorattacke auf ein Hotel in Mumbai im November 2008 hätten SWIFT-Daten ergeben, dass mehrere Mitglieder der Lashkar-e-Tayyiba (LeT) „Verbindungen zu Personen und Organisationen in den USA und Europa“ unterhielten. Die Informationen seien den entsprechenden Regierungen zugeleitet worden.

5. SWIFT-Daten hätten einen Indonesier als Finanzchef der Terrorgruppe Jemaah Islamyah „entlarvt“. Sie hätten auch gezeigt, dass die Gruppe, die unter anderem bei einem Anschlag auf ein Hotel in Jakarta am 17. Juli 2009 neun Menschen tötete, Geldgeber in der Golfregion habe.

6. Als Reaktion auf einen Interpol-Sicherheitsalarm am 10. Februar 2009 seien SWIFT-Daten auf  „85 Terroristen“ überprüft worden, die von der Regierung von Saudi-Arabien wegen Verbindungen „zu al-Qaida in Saudi-Arabien, dem Irak und Afghanistan“ gesucht wurden. „Die Ergebnisse entlarvten Decknamen, Namensvariationen und Finanznetzwerke von mindestens neun der Gesuchten. Mindestens eine der Personen könnte Finanzkontakte in mehrere europäische Länder unterhalten.“

7. Anfang 2009 hätten SWIFT-Informationen auf die Spur einer Person „in einem nordeuropäischen Land“ geführt, die Verbindungen zu al-Qaida unterhalten habe. Die Person habe einen Angriff auf ein Flugzeug geplant.

8. Ebenfalls 2009 hätten SWIFT-Daten zur Aufklärung eines Unterstützernetzwerks der asiatischen LeT gedient.

9. Ende 2008 seien SWIFT-Daten genutzt worden, um „Beziehungen erkenntlich zu machen“ zwischen ranghohen Mitgliedern von al-Qaida-affiliierten Gruppen in Südost-Asien.

10. Mitte 2009 hätten SWIFT-Daten Informationen über Mitglieder der baskischen Terrorgruppe Eta ergeben. Diese Informationen seien „europäischen Regierungen“ zugeleitet worden.

Warum haben die Europa-Parlamentarier nicht auf Basis dieser (angeblichen) Fakten über das Swift-Abkommen diskutiert? Wie belastbar die Liste ist, insbesondere wie maßgeblich der Anteil von SWIFT-Erkenntnissen an den Ermittlungserfolgen wirklich war, wie neutral ein Gutachter wie Bruguière ist, wäre weitere Fragen wert. Sie wurden bis heute nicht gestellt, weder in Brüssel noch in Straßburg.

Das EU-Parlament verknüpft ein höheres Interesse mit der SWIFT-Abstimmung als ein rein datenschutzrechtliches. Viele seiner Mitglieder wollen die Gelegenheit nutzen, um zu zeigen, dass das Parlament unter den Regeln des Lissabon-Vertrages ein vollwertiger Mitspieler im europäischen Gesetzgebungsprozess sein muss. Dieses Interesse ist berechtigt. Die Art und Weise aber, wie das Parlament versucht sich zu emanzipieren, spricht nicht für seine Reife.

 

Falsch verbunden

Europa sollte mit dem Lissabon-Vertrag eine „Telefonnummer“ bekommen. Jetzt zeigt sich: Diese Hoffnung wird sich nicht erfüllen

Es war eine vielsagende Szene, die sich vor knapp einem Jahr in Brüssel abspielte. Barack Obama war gerade als neuer US-Präsident inthronisiert worden, und der German Marshall Fund hatte die Planungsstabchefin des US-Außenamts, Anne-Marie Slaughter, zu einer Podiumsdiskussion in die EU-Hauptstadt geladen. „Wie werden sich die EU-USA-Beziehungen unter der neuen Regierung entwickeln?“, lautete das Thema der Runde. Bekomme Europa, wollte der Moderator von Slaughter wissen, mit dem Lissabon-Vertrag endlich die lang ersehnte, eine Telefonnummer? Den klaren Anschluss, den sich schon Henry Kissinger gewünscht hatte?

„Oh, natürlich“, entfuhr es der US-Diplomatin eher spontan als überlegt, „Europa hat sogar viele Telefonnummern!“ – Das Publikum brach angesichts dieser Freudschen Fehlleistung in schallendes Gelächter aus. Doch die Intuition der Frau sollte Recht behalten.

Der Lissabon-Vertrag, zeigt sich, löst eines seiner Hauptversprechen nicht ein. Europa beschallt die Welt auch weiterhin nicht mit einer Stimme. Sondern mit einem ganzen Chor. Die beiden Spitzenämter, die dies ändern sollten, der permanente Ratspräsident sowie die „EU-Außenministerin“ bündeln nicht, wie erwartet, Europas außenpolitische Vertretungsmacht. Sie vergrößern vielmehr die Vielgesichtigkeit der EU.

Die Verschlimmerung der Euro-Schizophrenie infolge von Lissabon äußert sich in einem bizarren Vorgang, der sich dieser Tage zwischen Washington, Brüssel und Madrid abspielt. Im Mai, so plant es die derzeitige spanische Ratspräsidentschaft, soll ein EU-USA-Gipfel stattfinden. Solche Drittstaaten-Gipfel gab es schon immer im internationalen Terminkalendar. Bisher fanden sie im so genannten Troika-Format statt. Das heißt, die EU wurde vertreten von 3 Figuren. –  1. vom Hohen Beauftragten für Außenpolitik (bisher Javier Solana, jetzt Catherine Ashton). 2. vom Kommissionspräsidenten (Jose Barroso). 3. vom jeweiligen Land, das gerade den Ratsvorsitz innehatte. Natürlich würde man nun erwarten, dass statt der rotierenden EU-Geschäftsführer (3)  der neue permanente Ratspräsident Herman Van Rompuy diesen Job übernimmt. Das allerdings sehen die Spanier nicht so. Deren Ministerpräsident José Luis Zapatero wollte Barack Obama gerne in seiner Hauptstadt die Hand reichen.

„Die permanente Ratspräsidentschaft war [in die Vorbereitung des Gipfels] nie involviert“, bestätigt der Sprecher Van Rompuys, Dirk De Backer. 

Hat auch jemand allen Ernstes erwartet, dass die Alpha-Tiere dieses Kontinents sich die besten Außenpolitik-Shows von einem unbekannten Belgier stehlen lassen würden? Schon die Wahl Herman Van Rompuys entlarvte, dass der Lissabon-Vertrag  in der Frage der europäischen Sprachgewalt ambitionierter war als seine Autoren. Van Rompuy war eine gewollt kleinliche Lösung für eine große Gelegenheit. Die Hauptqualifikation des 61jährigen konservativen Flamen war seine Unauffälligkeit. Der praktizierende Katholik, hieß es vor seiner Kür in europäischen Regierungskreisen, sei uneitel, verschwiegen, zurückhaltend unter Großen und scheinwerfer-avers.

In einem vertraulichen „Persönlichkeitsbild“, welches das Auswärtige Amt Bundeskanzlerin Merkel über den damaligen belgischen Regierungschef erstellte, hieß es: „Herman Van Rompuy gilt als Ministerpräsident wider Willen. (…) Durch seine Glaubwürdigkeit und Verschwiegenheit („die Sphinx“), hat er sich 2007 als königlicher „Erkunder“ großes Vertrauen erworben. Er gilt als kompetent und durchsetzungsfähig. (…) Trotz Eloquenz sucht er nicht die Mikrophone und das Scheinwerferlicht.“

Gesucht und gefunden, kurzum, hat die EU  eine graue und verlässliche Maus, die keinem die Kameras klaut. Alles andere widerspräche auch den Interessen der EU-Staatschefs. Sie sind  es schließlich, die daheim (auch für außenpolitische Erfolge) wieder gewählt werden müssen. Das Schicksal des Ratspräsidenten hingegen hängt nach zweieinhalb Jahren allein von der Gnade der Staatschefs ab.

In Washington schüttelt man angesichts dieser Unklarheiten in Europa nur den Kopf. Ob angesichts der „Konkurrenz in Europa“ Barack Obama selbst zum geplanten Gipfel reisen werde, sagten US-Diplomaten vor zwei Tagen dem Wall Street Journal, „wird davon abhängen, wer das Treffen einberuft. Wir haben ihnen [den Europäern] gesagt: ,Werdet auch einig und gebt Bescheid’.“

Mittlerweile teilte das Weiße Haus mit, Obama werde nicht zum Gipfel reisen. Er habe dies nie geplant.

Der Sprecher des US-Außenministeriums, Philip J. Crowley, begründete die Absage ausdrücklich mit der Unklarheit, welche die Lissabon-Reform geschaffen habe.  “Bis jetzt hab es alle sechs Monate ein Treffen, eines in Europa und eines hier“, sagte er vor Journalisten in Washington. „Jetzt gibt es eine neue Struktur. Es gibt nicht nur die rotierenden Präsidentschaften, sondern auch noch einen EU-Ratspräsidenten und einen Kommissionspräsidenten. Wir versuchen uns dadurch zu arbeiten.“ Die Frage, wann es Treffen gäbe, wo sie stattfänden und wer der Gastgeber sei, „wird im Lichte der neuen Architektur gerade neu bewertet.“

Ganz abgesehen von den Querelen in Brüssel, ist diese Entscheidung nachvollziehbar. Europa ist der amerikanischen Regierung nicht halb so wichtig wie es glaubt. Warum auch? Wahre Chancen und Risiken der Weltpolitik warten anderswo. In China, in Afghanistan, in Indien und Lateinamerika. Statt Gipfel zu besuchen, bei denen nicht viel mehr besprochen wird als die Tatsache, dass es eigentlich nichts zu besprechen gibt, hat Obama weiß Gott Wichtigeres zu tun.

Die schmerzhafteste Erkenntnis über ihre Rolle in der Welt  könnte der Lissabon-EU noch bevorstehen: Stell‘ dir vor,  Europa redet mit einer Stimme und keiner hört zu.

 

Charmante Realistin

Europas neue Außenministerin Catherine Ashton macht dem Brüsseler Parlament die Grenzen ihrer Macht klar. Ein guter  StartAshton Anhörung für die Britin

Das Europäische Parlament hat heute die designierte EU-Außenministerin Catherine Ashton zur Anhörung geladen. Frau Ashton erschien. Die EU-Außenministerin nicht. Fünf Wochen nach der Benennung der Britin durch die 27 Staatschefs der Europäischen Union stellt sich heraus: Europa hat den visionärsten Posten aller Zeiten mit einer Realistin besetzt. In einer drei Stunden langen Anhörung ließ Ashton, durchaus charmant, die Abgeordneten die Grenzen europäischer außenpolitischer Ambitionen spüren. Je größer die Fragen der Brüsseler Parlamentarier, desto kleiner fielen ihre Antworten aus.

Kein Wunder. Die neue „Hohe Beauftragte“ der Union wird zwar künftig die Treffen der europäischen Außenminister leiten und einen eigenen Diplomatischen Dienst bekommen. Aber trotz all der Reformen, die der Lissabon-Vertrag bringt, wird Ashton ebenso wenig die Vorgesetzte der 27 nationalen Außenminister werden wie es ihr Vorgänger Javier Solana war. Die Entfaltung institutioneller Macht, das weiß Ashton, braucht Zeit. Mehr als eine, mehr als ihre Amtszeit, wahrscheinlich sogar.

Was denn ihre strategische Vision für Europa sei, wollte ein Abgeordneter von der ehemaligen Handelskommissarin wissen. „Das“, antwortete Ashton, „ist eine sehr, sehr wichtige Frage.“ Vielleicht, erkärte sie dann, diese: „Wer auch immer (für Europa, Anm. JB) redet, es sollte dieselbe Stimme sein. Die Stimme der 27 Minister, der Kommission, des Europäischen Parlamentes und meine eigene.“

Dieser Wunsch nun ist so alt wie die Europäische Union selbst. „Gibt es außer Lyrik auch Projekte?“, hakte der deutsche Grünen-Abgeordnete Reinhard Bütikofer nach. „Zum Beispiel zur Wiederbelebung der transatlantischen Beziehungen?“ Antwort Ashton: Nein. Wiewohl: „Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sind von ganz besonderer Bedeutung.“ Das galt auf entsprechenden Nachfragen freilich auch für Indien, Afrika, Asien und Russland. Sie alle sind, wie könnte es anders sein, von besonderer Bedeutung für Europa.

Im Minutentakt und ohne Pause hagelte es Fragen auf die 53-jährige, die Spannbreite der Themen umfasste den gesamten Globus. Ashton überstand diese Tortur mit Einfühlungsvermögen, Humor und einer Mischung aus gekonnten Plattitüden und echter Sachkenntnis.

Hat sie eine Vorstellung, wie Europa in einem reformierten UN-Sicherheitsrat vertreten sein soll? „Ganz ehrlich? Nein, habe ich nicht.“

Wäre sie bereit, militärische Maßnahmen gegen den Iran zu unterstützen, falls er an seinen Bombenplänen festhält? „Darüber brauchen wir Diskussionen. Wir müssen überlegen, welche anderen Maßnahmen, insbesondere wirtschaftliche Maßnahmen, angebracht sind.“

Wie will sie Russland davon überzeugen, Gas nicht mehr als politische Waffe einzusetzen? „Wir brauchen eine Diversifizierung unserer Energieversorgung. Und notfalls müssen wir Druck ausüben.“

Was fällt ihr zu Afghanistan ein? „Wir müssen mehr Polizeiausbilder entsenden.“

Die Frau, so viel wurde heute klar, besitzt zwei große menschliche Qualitäten, Sensibilität und eine schnelle Auffassungsgabe. Zu letzterer gehört aber eben auch, dass sie keine Illusionen verbreitet über ihre Wirkmacht. „Ich will Sie ja wirklich nicht enttäuschen“, beschwor sie die Abgeordneten mehrfach. Aber es ging nicht anders. Der Frage etwa, ob die EU aktiv die Opposition im Iran unterstützen sollte, wich sie aus. Alles andere hätte auch deutliche Reaktionen der EU-Regierungen nach sich gezogen. Für solche Fragen hat Ashton schlicht kein Mandat. Der Lissabon-Vertrag definiert ihre Rolle als Ideengeberin und Besorgerin von Gemeinschaftsbeschlüssen. Diesen Bogen hat Ashton offenbar nicht vor zu überspannen.

„Ich habe den Eindruck, wir wollen mehr für Sie als Sie für sich selber wollen“, bemerkte zum Abschluss der Anhörung der deutsche liberale Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff. „Müssten Sie als erste Inhaberin dieses wichtigen Amtes nicht mehr Ehrgeiz zeigen?“

„Ich bin in meinem Ehrgeiz realistisch“, entgegnete die Britin. „Ich muss auch fragen, was ich physisch überhaupt leisten kann.“ Und zu guter Letzt erinnerte sie die versammelten Politiker vor sich daran, was der Unterschied zwischen einem freien Abgeordneten und ihr sei: „Sie sind demokratisch gewählt, ich bin es nicht.“

 

Europas neue Tops Jobs

Was der neue EU-Präsident und der  „Außenminister“ dürfen, können und sollen – und was nicht

Ein Abendessen soll es klären. Um 18 Uhr kommen heute abend die 27 Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel zusammen, um im hermetischen Granitbau des Justus-Lipsius-Gebäudes die vornehmsten Ämter zu vergeben, die der Kontinent je zu bieten hatte. Ein permanenter Präsident des Europäischen Rates und ein Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, kurz „EU-Außenminister“ sollen dem weltgrößten Demokratienverbund mehr Zusammenhalt im Innern und mehr Schlagkraft nach außen verschaffen.

So will es der Lissabon-Vertrag, der zum 1. Dezember in Kraft tritt. Aber welche Macht besitzen die Erwählten tatsächlich – und welche nicht? Was, tatsächlich, nutzen sie Europa?

Zur Stunde ist noch völlig unklar, welcher Herr oder welche Dame das Rennen machen wird. Umso klarer sind seit langem die Ambitionen, die den neuen Ämtern anhaften. Sie sollen, kurz gesagt, die Antwort auf Henry Kissingers legendäre Frage liefern, wie Europas Telefonnummer lautet. Diese Hoffnung auf Anschlussklarheit, so viel lässt sich allerdings schon sagen, wird das neue Reform-Europa nicht erfüllen.

Die EU bleibt ein schizophrener Gesprächspartner. Sie lädt sogar sich ein paar Anschlüsse Ämterpersönlichkeiten mehr auf. Den oder die eine Mr. oder Mrs. Europa wird es auch künftig nicht geben. Dafür steckt in den Personal-Paragrafen des Lissabon-Vertrages zu viel Widersprüchliches. Und im Ernennungsverhalten der 27 EU-Staatschefs, soweit dies abzusehen ist, zu wenig Mut.

Um mit dem Präsidenten zu beginnen: Er wird eben kein „Europäischer Präsident“ sein, sondern der Präsident des Europäischen Rates, also der vierteljährlichen Zusammenkunft der EU-Staatschefs. Er, so will es der Lissabon-Vertrag, „führt den Vorsitz und gibt Impulse.“ In der Praxis wird dies zunächst einmal heißen, dass er den Ministerpräsidenten bei ihrer Ankunft am Brüsseler Ratsgebäude die Hände schüttelt und sie zum Sitzungssaal geleitet. Was dann dort drin passiert, dürfte weniger von den Impulsen des Vorsitzenden abhängen als von den Egos der versammelten Alpha-Tiere aus Frankreich, Deutschland, Italien oder Großbritannien.

Mehr Kontinuität bei der Themensetzung, so will’s die Lissabon-Theorie, soll der neue, auf zweieinhalb Jahre ernannte Sachwalter herbeikoordinieren. Doch die Praxis lehrt, dass Regierungschefs nicht geneigt sind, sich von Zeremonienmeistern die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Sie müssen schließlich daheim wieder gewählt werden – der Ratspräsident hingegen von ihnen.

Entsprechende strategische Bescheidenheit haben die Kontinentaleuropäer mit den Kandidaten demonstriert, die sie in den vergangenen Monaten –  halböffentlich oder öffentlich – ins Rennen schickten. Juncker, Schüssel, Balkenende hießen die häufigsten genannten Euro-Prinzen.

Als aussichtsreichster und auch von Deutschland unterstützter Kandidat gilt derzeit – bei allen Überraschungen, die das heutige Gipfeltreffen bieten kann – der belgische Ministerpräsident Herman Van Rompuy. Der 61jährige Konservative steht in seiner Unauffälligkeit als primus inter pares der Zwergen-Riege. Der praktizierende Katholik, heißt es in europäischen Regierungskreisen, sei uneitel, verschwiegen, scheu unter Großen und scheinwerfer-avers. Eine graue und verlässliche Maus, die keinem die Kameras klaut, kurzum.

Nennenswerte Erfahrung im Umgang mit 27 nationalen Egos und Interessen in der Brüsseler Arena sind für den neuen Präsident ebenfalls kein Muss. Denn unterhalb der Staatschefs-Ebene, im Maschinenraum der EU, laufen die rotierenden Präsidentschaften weiter wie bisher. Alle sechs Monate reicht ein Land den Staffelstab für europäische Gesetzes- und Projektinitiativen weiter ans nächste. Derzeit haben ihn noch die Schweden in der Hand, im Januar folgt Spanien. Unter deren Ägide, im Ministerrat, wird der allergrößte Teil der europäischen Integration geschmiedet.

„Der neue Präsident hat keine Befugnisse für Rechtssetzung im Ministerrat“, stellt der deutsche EU-Abgeordnete Elmar Brok (CDU) klar. „Das Amt soll nicht für Operationelles gebraucht werden.“

Der mit so viel Hoffnung erwartete EU-Präsident ist, mit anderen Worten, ein König Ohneland, der möglichst unsichtbar bleiben und zum laufenden EU-Geschäft brav den Mund halten soll. Der neue Hausherr (oder die neue Hausfrau) des Justus-Lipsius-Gebäudes, sagt der liberale Brüsseler Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff voraus, dürfte sich deshalb alsbald „unterbeschäftigt“ vorkommen. „Pfusch am Bau“, lautet Lambsdorffs Fazit zu den Kompetenzregeln des Lissabonvertrags. „Was Europa bekommt, dürfte ein besserer Frühstückdirektor sein.“ Oder einen Sündenbock.

Ein hoffnungsvollerer Vergleich freilich wäre der mit einem „europäischen Bundespräsidenten“. Immerhin ist nicht ausgeschlossen, dass der Neue sich Nischen sucht, in denen er ungestört und unstörend wirken kann. Er könnte sich etwa des Problems der wachsenden Bürgerferne der EU annehmen. Die Wahrnehmung Brüssels als politisches Raumschiff wird sich mit dem Macht- und Geschwindigkeitszuwachs, den der Lissabon-Vertrag bringt, aller Voraussicht nach verschärfen. Für mehr Bodenhaftung zu sorgen, wäre womöglich keine schlecht Idee für die Kommando-Brücke.

Zwar soll der Ratspräsident laut Vertrag auch die „Außenvertretung der Union“ wahrnehmen. Doch wenn er den Außenauftritt Europas nicht unnötig chaotisieren möchte, wäre er gut beraten, sich nicht als Gegenpart des amerikanischen, russischen oder chinesischen Präsidenten, von Obama, Medwedjew oder Hu Jintao zu sehen. Ein Mann vom Profil eines Van Rompuy tut das nicht. Damit wäre die Gefahr gebannt, dass der neue „EU-Generalsekretär“ dem künftigen „EU-Außenminister“ ins Gehege kommt.

Dieser (oder diese) dürfte, verglichen mit dem Präsidenten, zur weitaus mächtigeren Figur der EU heranwachsen. Denn erstens wird der „Hohe Vertreter“ zugleich Vizepräsident der EU-Kommission. Zweitens wird er als solcher vom Europäischen Parlament bestätigt, was ihm mehr demokratische Legitimität verleiht als dem Ratspräsidenten. Drittens wird er über einen eigenen, vermutlich 7000 Diplomaten starken Auswärtigen Dienst verfügen.

Solche institutionellen Fakten können, das lehrt die Baustelle Brüssel, echte Einflussgewinne gegenüber den Nationalstaaten nach sich ziehen. Der Noch-Amtsinhaber Javier Solana wirkte politisch oftmals wie ein gerupftes Huhn – kaum eine Feder, mit der die nationale Außenämter sich schmücken konnten, ließen sie dem EU-Chefdiplomaten. Der neue Amtsinhaber dagegen kann mithilfe seines Apparats eigene Pflöcke einschlagen – und zwar auch innerhalb der Kommission, deren Ressorts (ob in der Entwicklungs-, Nachbarschafts-, oder Erweiterungspolitik) bisher eine Menge zerstückelte Mini-Außenpolitik betrieben.

Diesen Top Job für Deutschland zu sichern, hatte die Kanzlerin allerdings nie im Sinn. Um den in Europa durchaus geachteten Frank-Walter Steinmeier ins Gespräch zu bringen, hätte sie über den schwarz-gelben Schatten springen müssen. Andere Länder schafften das, etwa Italien mit der Aufstellung des Sozialisten Massimo D’Alema.

Doch wer die Besten für die neuen Top Jobs gewesen wären, darüber sollten Europas Öffentlichkeiten nicht mitdiskutieren. Die EU mag der größte Demokratienverbund der Welt sein, doch ihre Spitzenämter vergab sie – diesen Vergleich gestattete sich die frühere lettische Präsidentin und Eigenkanditatin für die EU-Außenministerin Vaira Vike-Freiberga – „wie in der Sowjetunion, im Dunkeln und hinter verschlossenen Türen“. Über baldige Alternativen für dieses Gekungel nachzudenken, auch das könnte eine ehrenwerte Aufgabe für Europas neue hohe Repräsentanten sein.

 

Alle für keinen

Europa baut sich einen gemeinsamen Diplomatischen Dienst. Und vergibt eine Chance

Baustelle1

Baustelle Europa-Viertel

Hunderte Beamte, Parlamentarier und Diplomaten schrauben dieser Tage an etwas Großem auf Brüssels Behördenfluren. An etwas, das dem Kontinent eine ganz neue Gestaltungsmacht verleihen soll. Die Vision ist niedergeschrieben in Paragraf 27 Absatz 3 des Lissabon-Vertrages. Ein „Europäischer Auswärtiger Dienst“, heißt es dort, soll dem künftigen Europäischen Außenminister zuarbeiten. Noch bleiben die Dossiers zum europäischen Botschafter-Corps politische Verschlusssachen, der Vertrag muss schließlich erst Anfang nächsten Jahres in Kraft treten. Dann aber soll Europas Außenpolitik endlich zu jener Größe finden, die ihr  – nach verbreiteter Brüsseler Ansicht – schon längst zusteht.

Mittagszeit im Europa-Viertel. Trennschleifer jaulen durch die Häuserschluchten. Platz muss her für neue Gebäude. Europa ist von 15 auf 27 Ländern und 495 Millionen Bürger angewachsen in den vergangenen fünf Jahren, und immer selbstbewusster versteht sich der alte Kontinent als neuer Global Player. Denn weltweit steigt die Nachfrage nach Krisenmanagement, sei es an Rändern Russlands, im Herzen Afrikas oder auf den Schifffahrtswegen der Meere. Gleichzeitig fallen die traditionellen Sicherheitsdienstleister immer öfter aus. Die Vereinten Nationen? Chaotisch. Die Vereinigten Staaten? Brutal. Bleibt das Vereinte Europa.

Und hat diese EU nicht einen guten Vermittlerjob geleistet, vergangenes Jahr in Georgien? Dieses Jahr in der Weltfinanzkrise? Darf’s nicht ein bisschen mehr sein von Konfliktbewältigung à la Brüssel?

Am Bürgersteigtischchen eines italienischen Restaurants sitzt eine junge Deutsche und gerät ins Schwärmen. „Der multinationale Diplomat! 27 Länder vertreten!“, sagt sie und macht große Augen, „das wäre doch eine ganz andere Hebelkraft!“ Attraktive Karriereoption sehen derzeit viele Attachées im neuen EU-Dienst. Energisch schneidet die Dame ihre Pizza in Stücke. „Die Ersten, die da rein kommen, können ziemlich stolz sein.“

Doch wäre ein EU-Botschafter in Peking oder Neu-Delhi tatsächlich ein Vertreter aller 27 EU-Länder? Oder eher einer für keines? Welches EU-Land, anders gefragt, würde seine Botschaft zugunsten einer EU-Vertretung aufgeben?

„Ich sehe noch lange nicht, dass das passiert“, gesteht Benita Ferrero-Waldner, die EU-Kommissarin für Auswärtige Beziehungen. Schon heute kümmern sich 130 Delegationen der EU in aller Welt um Entwicklungshilfe, Außenhandel und Nachbarschaftspolitik, sprich: um klassisch weiche Außenpolitik. Etwa 6500 der rund 25 000 Kommissionsbeamten arbeiten für diese Abteilung, im Brüsseler Jargon Relex, Relations Extérieures, genannt. Ab dem nächsten Jahr könnte die Relex mit dem Posten des EU-Außenbeauftragten (derzeit Javier Solana) verschmelzen und die EU-Delegationen rund um den Globus in EU-Botschaften umgewidmet werden. Doch wo genau die Grenzen verlaufen sollen zwischen nationaler und supranationaler Diplomatie, das sei, so Ferrero-Waldner, „noch überhaupt nicht klar.“

Und genau hier beginnt der Traum von der europäischen Diplo-Offensive zu bröseln. Die EAD-Pläne entfalten keineswegs die Gravitationskraft auf die Außenämter der Mitgliedstaaten, die sich seine Brüssel Architekten erhofft haben. Zu eifersüchtig wachen die einzelnen EU-Länder über ihre Botschafter und Interessen. Schließlich bleibt die Außen-Repräsentation in möglichst vielen Staaten entscheidend für nationale Schlagkraft. Wenn es um Stimmgewichte in internationalen Organisationen geht, zum Beispiel. Oder darum, Geschäfte für die heimische Wirtschaft einzufädeln. Welches Land würde sich dabei auf die EU verlassen? Allen Absichtserklärungen zum Trotz droht der EAD in der Praxis schon jetzt das Gegenteil dessen zu produzieren was beabsichtigt war: Konkurrenz statt Kohärenz.

„In den Planungsrunden geht es derzeit vor allem um hochprotokollarischen Wer-sitzt-wo-Fragen“, sagt die Europaabgeordnete Franziska Brantner, die das Projekt EAD für die Grünen begleitet. „Eine der Hauptsorgen scheint zu sein, wer bei internationalen Konferenzen vor wem sprechen darf.“ Und natürlich die, wer welchen Posten bekommt. Die Bundesregierung ist vor allem darauf bedacht, sich gegen die Kandidatenlisten aus Kommission und Rat zu behaupten. „Wir wünschen uns natürlich schon eine unserem Gewicht angemessene Vertretung im EAD“, heißt es. Die entsprechenden Vorbereitungsseminare und EU-Kurse beim Auswärtigen Amt seien „intensiviert“ worden. Aber um bloß keinen Zweifel aufkommen zu lassen, wo Schluss sein muss mit europäischem Corpsgeist, stellt ein Sprecher des Auswärtigen Amtes klar: „Die Kompetenzen der Nationalstaaten im außenpolitischen Handeln bleiben absolut gewahrt.“

Die mit einem Sitz im UN-Sicherheitsrat ausgestatten Briten beäugen den EAD mit noch größerer Skepsis. William Hague, der in einer neuen Tory-Regierung Außenminister werden will, umwirbt offen andere Bundesgenossen. Das Commonwealth, sagte Hague unlängst, sei in letzter Zeit „vernachlässigt und unterbewertet“ gewesen. Großbritannien solle besser die Verbindungen zu Indien und anderen traditionellen Verbündeten stärken, statt sich an die Heilsversprechen eines Lissabon-Europas zu ketten.

Wie viel außenpolitische Harmonie kann ein Brüssel Diplomatiecorps bei so viel Argwohn und zementiert scheinenden Nationalinteressen realistischerweise erzeugen? Spanien, Griechenland und Rumänien werden demnächst wohl kaum – wie es der Rest der EU getan hat – das Kosovo anerkennen, bloß weil eine Brüsseler Zentrale möchte. Unwahrscheinlich auch, dass Italien, Österreich und Ungarn aufhören, die russische Gaspipeline South Stream zu unterstützen, bloß weil es eine hübschere „Koheränz“ schaffen würde, wenn sie sich an der europäischen Nabucco-Röhre beteiligten.

Ach, sagt Elmar Brok. Fehlender Gemeinschaftssinn sei nicht das Problem. Der entstehe schon in einer „Wertegemeinschaft“ wie Europa. Und zwar auf bewährter Brüsseler Art: Man nehme eine Idee, gieße sie in eine Institution, und lasse sie reifen. Notfalls Jahrzehnte lang. Das sei schon immer so gewesen. Trifft man Brok, den Brüsseler CDU-Veteranen, in seinem Büro im Europaparlament, bekommt man tatsächlich einen staubigen Respekt vorm langfristigen Integrationspotenzial europäischer Einzelspieler. Die Arbeitsstube besitzt die gefühlte Größe eines Schuhkartons, aber die Fotos an den Wänden künden von gesprengten Grenzen und neuen Horizonten. Helmut Kohl Hand in Hand mit Francois Mitterand. Willi Brand beim Kniefall. Adenauer bei Ben Gurion. „Was Europa jetzt braucht“, ist Brok überzeugt, „ist ein Außenbeauftragter, der sich seine Aufträge selbst erteilen kann, und der über einen Apparat verfügt, der es ihm erlaubt, diese Positionen auch umzusetzen.“ Einen Adenauer-Gründervater mit Brand-Visionen und Kohl-Kraft, sozusagen.

Aber gebe es vielleicht auch eine modernere Methode, um die schlummernden Kräfte Europas zu wecken? Jüngere Europapolitiker wie die Grüne Franziska Brantner denken ebenfalls groß. Aber anders. Die 30jährige glaubt an die Chance, den EAD zu einem Aushängeschild für effizienten Multilateralismus zu machen. „Europa braucht kein verstaubtes und überholtes Diplomatiekonzept aus dem 18. Jahrhundert, sondern einen Außendienst für eine smart power“, sagt Brantner. Dazu müssten die „drei großen Ds“ im Europäischen Dienst vernetzt werden: Diplomacy, Defense und Development. Mit dem EAD, glaubt Brantner, biete sich die Gelegenheit, das klassische Ressortdenken in den Hauptstädten zu überwinden. Herauskommen könnten Geschwindigkeiten und Ergebnisse, die die Nationen anzögen. Doch leider, klagt die Grüne, sei sie mit ihren Vorschlägen – etwa für eine gemeinsame europäische Diplomatenakademie – in der Bürokratie nicht recht durchgedrungen.

Und dass obwohl im Ratssekretariat der EU die Angst umgeht, einige EU-Staaten könnten versucht sein, den EAD als Halde für abgeschriebene Beamte zu nutzen. Nicht alle Länder schließlich bedienen sich so verfeinerter Auswahlverfahren wie Deutschland, und die windstillen Winkel von Auslandsmissionen eignen sich hervorragend für politische Abschiebungen. Oder für Nepotismus.

Der tatsächliche Mehrwert des neuen europäischen Botschafterdienstes dürfte sich daher auf absehbare Zeit auf bescheidene Effekte beschränken. Ein reeller Fortschritt wäre es schon, dass wenn Europa seine Stimme erhebt, dabei wenigstens keine Dissonanzen herauskommen. Mit Grausen erinnert sich mancher Eurokrat noch an den Winter 2008/2009, als während des Gaza-Krieges hintereinander ein egomanischer Nicolas Sarkozy, ein provokanter tschechischer Außenminister und ein weichspülender Europaparlaments-Präsident im Nahen Osten aufschlugen. Das war mehr Tourismus als Außenpolitik. Rechtzeitig vor solchen Gelegenheiten Strategien zu erarbeiten, die den Namen verdienen, statt Schauläufer für Verwirrung sorgen zu lassen, das wäre ein guter erster Schritt für ein EU-Diplomatenheer.

 

Da hilft nur Tucholsky

Was ist das nun in Afghanistan – Krieg oder nicht Krieg?

Sie rollen mit Panzern durchs Gelände. Sie haben eine Offensive gestartet. Sie werden Opfer von Schusswechseln. Und sie erschießen selbst. Ist es nun ein Krieg, den die Bundeswehr in Afghanistan führt?

Das hängt natürlich von der Definition dessen ab, was wir unter Krieg verstehen wollen. Andere Nato-Soldaten, Amerikaner, Niederländer, Briten, Tschechen, Polen, Rumänen oder Balten, die im Süden und Osten des Landes regelmäßige Schlachten mit Taliban-Verbänden schlagen, halten den Norden des Landes, dort, wo die Deutschen stationiert sind, noch immer für vergleichsweise friedliches Gebiet. Zwar betreibt die Nato keinen Body Count. Doch im Süden des Landes haben nach inoffiziellen Angaben Isaf-Truppen allein im vergangenen Jahr etwa 20 000 Aufständische getötet – oder solche, die sie dafür hielten.

Wie der verteidigungspolitische Sprecher der Grünen, Winfried Nachtwei, kürzlich bei einem Isaf-Besuch notiert hat, konzentrieren sich die Angriffe auf die Schutztruppen auf die Provinz Helmand (durchschnittlich 10,6 Angriffe pro Tag zwischen Oktober 2008 und Mai 2009), Kandahar (4,6 Angriffe pro Tag) und Kunar (4 Angriffe pro Tag). Die Regionen, in denen die Deutschen stationiert sind, bilden statistisch noch immer die ruhigsten. In Kundus gab es 0,7, in Kabul 0,6, in Badakhschan weniger als 0,1 Angriffe pro Tag.

Doch es sind weder die Krieger anderer Nationen noch Statistiken, die definieren, was in Deutschland als Krieg gilt. Sondern die Bevölkerung. „Das Volk“ hat Kurt Tucholsky einmal gesagt, „versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.“

Über Afghanistan denkt das Volk, die Bundeswehr sei dort, um den Einheimischen einen westlichen Lebensstil aufzuzwingen. Das ist falsch, weil die Afghanen wollen, dass die Nato-Truppen ihnen Schutz, Sicherheit und eigene Entwicklungsmöglichkeiten bieten. 90 Prozent der Afghanen, sagen Umfragen, wollen die Taliban nicht zurück.

Was aber fühlt das Volk, wir Deutschen, über den Afghanistan-Einsatz?

Es fühlt zunächst einmal, dass die alte Rechtfertigung, wonach Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigt werde, zumindest gründlich perforiert ist. Denn erstens hat es in Deutschland bereits Attentatsplanungen gegeben, die rein gar nichts mit Afghanistan zu tun hatten (etwa die „Kofferbomber“ von Kiel, die aus dem Libanon stammten und sich spontan zu ihren Taten entschlossen), sind Deutsche in Bombenexplosionen gestorben, deren Drahtzieher aus Afrika oder Asien kamen (Dscherba, Bali) und ist selbst der 11. September nicht maßgeblich in Afghanistan vorbereitet worden, sondern in Hamburg-Harburg. Sicher, al-Qaida als quasi-militärische Organisation ist zerstört. Aber das Bild vom Funktionsprinzip Internet stimmt eben doch: Wird hier ein Server lahmgelehmt, übernimmt dort ein anderer das Geschäft.

Zweitens hat sich die Haupt-Trainingsdrehscheibe für Wanderdschihadisten längst nach Pakistan verlagert. Doch Bundeswehr-Truppen dorthin zu verlegen, fordert kein Mensch. Deswegen breitet sich das Gefühl aus, Deutschland mache bloß noch aus irgendwie altmodischer Solidarität mit in Afghanistan. Betreibe Verteidigungspolitik im Gänsemarsch, gewissermaßen.

Das Volk fühlt auch, dass sich Kanzlerin, Außenminister und der (rhetorisch ohnehin abzuschreibende, will man mundartliche Wortprägungen wie „friedsche Entwicklung“ nicht als kreativ gelten lassen) Verteidigungsminister vor einer ehrlichen, aktualisierten Diskussion um den Afghanistan-Einsatz drücken. Eine klare Botschaft wäre zum Beispiel die: Deutschland stabilisiert Afghanistan, weil es will, dass aus einem Land mit einer Gesellschafts- und Herrschaftsform aus dem 12. Jahrhundert ein Staat wird, der in der globalisierten Welt wenigstens minimale moralische und markwirtschaftliche Wettbewerbschancen hat. In dem Frauen nicht gesteinigt und Mädchen nicht erschossen werden, nur weil sie zur Schule gehen möchten. In dem nicht mehr 90 Prozent des Opiums für den weltweiten Heroinhandel produziert werden. In dem keine Steinzeitislamisten mehr an die Macht kommen, die Musik verbieten und Burkhas verordnen. „Es wird ja immer gerne Clausewitz zitiert, wonach der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist“, sagt unlängst der britische Außenminister David Miliband bei einem Besuch im Brüsseler Hauptquartier der Nato, „aber was wir in Afghanistan wollen, ist Politik als Fortsetzung der militärischen Anstrengungen.“

Das alles wäre eine Rechtfertigung, die ohne al-Qaida-Beschwörung auskäme – ja, ehrlicherweise auskommen müsste. Aber würde das reichen, um die Deutschen bei der Stange zu halten?
Wohl nicht. Denn wenn die Sicherheit Deutschlands nicht gefährdet ist, ja dann, so fühlt das Volk, warum sollen dann deutsche Soldaten dort sterben? Andere Völker mögen ja anders fühlen. Amerikaner zum Beispiel, die es schlicht als heldenhaft erachten, für die Durchsetzung von Menschenrechten in den Gebirgen Mittelasiens zu fallen. Wir, als postheroische Gesellschaft, tun das nicht. Die Bundeswehr kennt keine Helden, sie kennt nur Opfer. An dieser ethischen Grundierung Nachkriegsdeutschlands ändern auch Ehrenmale, Tapferkeitsorden und öffentliche Gelöbnisse nichts.

Das fehlende Faible fürs Heldentum hat aber auch damit zu tun, dass es den Deutschen im vergangenen halben Jahrhundert gelungen ist, tatsächlich eine Armee von Staatsbürgern in Uniform heranzuziehen. Deutschland verfügt über keine Kriegerkaste wie die Angelsachsen, also über keinen Berufstand, der ebenso akzeptiert und geachtet wäre dafür, dass seine Mitglieder auf Geheiß der Regierung ihr Leben opfern. Die Vorstellung, dass es Profis gibt, die genau „dafür da“ sind und deren Corpsgeist eine gewisse Verlustunempfindlichkeit mit sich bringt, ist diesem Land (zum Glück) fremd geworden. „Wenn britische Soldaten ums Leben kommen, tut das politisch nicht weh. Bei uns geht der Verteidigungsminister dagegen zu jedem Begräbnis“, sagt ein ranghoher deutscher Nato-Diplomat, „wenn britische Soldaten Taliban töten, gilt das in der Heimat als Erfolg. Bei uns nimmt nach jeder Tötung der Staatsanwalt Ermittlungen auf.“

Die Deutschen verfügen schlicht über eine niedrigere, nennen wir es einmal: Kriegstoleranz als andere Völker. Laut einer Umfrage des German Marshall Fund glauben nur 25 Prozent der Deutschen, dass es Umstände geben könnte, unter denen ein Krieg gerechtfertigt sein könnte. In Amerika glauben es 74 Prozent.

Mit anderen Worten: Wir Deutschen lehnen einen Krieg doppelt so schnell ab wie andere Nationen. Ob diese Sensibilität in sich selbst richtig ist, das spielt – für das politische Inertialsystem Berlin – keine Rolle. Die wahlkämpfenden Parteien werden nicht versuchen, die Kriegstoleranz der Deutschen zu verändern. Im Gegenteil. Sie werden ihre Gefühle umso ernster nehmen, je näher der 27. September rückt.

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Mach’s allein, Obama (Teil II)

Warum es die Europäische Union im Gegensatz zu den USA nicht schafft, genügend Polizeiausbilder nach Afghanistan zu bekommen

(Videobeitrag inklusive)

Kabul

82 000 einheimischen Polizisten versehen laut Angaben der Nato bisher in Afghanistan ihren Dienst. Das sind offenkundig viel zu wenige für ein konfliktgebeuteltes Land von 32 Millionen Menschen (in Deutschland, zum Vergleich, gibt es bei 80 Millionen Einwohnern etwa 250 000 Beamte). Die amerikanische Regierung will nun, dass es mehr werden. Und zwar schnell. Notfalls mit einem 8-wöchigen Crashkurs, so ähnlich, wie er bereits zum raschen Aufwuchs der afghanischen Armee praktiziert wird (siehe dazu unser VIDEO).

Schließlich stehen im August Wahlen an in Afghanistan, und bis dahin sollen so viele Uniformierte wie möglich auf den Straßen patrouillieren.

„Wir wissen, dass man die Polizei zu ordentlichen Gesetzeshütern erziehen muss“, sagt der amerikanische General Richard P. Formica. Der stämmige Offizier koordiniert im US-Hauptquartier in Kabul den Polizeiaufbau im Land. „Aber um ein Gesetzeshüter zu sein, muss man erstmal überleben. Und dabei helfen wir ihnen.“ Natürlich gebe es auch eine Polizeiakademie, an der in 3jährigen Kursen Polizisten für höhere Ränge ausbildet würden, sagt Formica. „Bloß kriegt man“, sagt er mit durchaus donnernder Stimme, „keine Zehntausende Polizisten auf die Straße, wenn man sie alle an die Uni schickt.“

Zumal der Job für Einsteiger neben 120 Dollar monatlich eine gesteigerte Lebensgefahr mit sich bringt. 2000 Polizisten, heißt es, seien 2008 getötet worden. Die neue staatliche Ordnungstruppe ist das erste Ziel für Taliban und Drogenbarone. „Es mag grob klingen“, ergänzt der britische Brigadegeneral Neil Baverstock, „aber wir brauchen einfach erstmal eine Präsenztruppe da draußen.“ Großbritannien macht’s deshalb wie Amerika: Es setzt Soldaten ein, um Polizisten zu trainieren.

Der US-General Formica, ein Irak-Kriegs-Veteran, freut sich deshalb über den neuen Wind, der seit der Einsetzung der Obama-Regierung in Washington wehe: „Im Irak, wenn wir da etwas brauchten, haben wir es bekommen. In Afghanistan, wenn wir da etwas brauchten, haben wir uns überlegt, wie wir ohne es zurechtkommen. Das ändert sich gerade. Wir spüren, dass die Regierung es ernst meint mit ihren neuen Prioritäten.“

Wie anders hingegen die Stimmung, die im Hauptquartier der europäischen Polizeimission EUPOL in Kabul herrscht. Die EU-Ausbilder residieren in einem neuen zweistöckigen Bürogebäude von ausgesuchter Behaglichkeit, mit begrüntem Atrium und heimischem roten Backstein. Ein paar Afghanen liefern gerade schmucke, handgeknüpfte Teppiche an, die ein paar deutsche Polizisten fachmännisch in Augenschein nehmen.

Das EU-Projekt hat deutsche Wurzeln – und nicht alle hier sind gut auf die beiden Missionschefs zu sprechen, die Berlin nach Kabul entsandt hatte. „Das war ein Kaffee-Job für die, ein gut bezahlter Kaffee-Job“, lästert ein nordeuropäischer Diplomat.

Mittlerweile hat der Däne Kai Vittrup die Leitung von EUPOL übernommen. Er ist ein drahtiger Mann, dem anzumerken ist, wie er für seine Aufgabe brennt. Noch ist er nicht dazu gekommen, in seinem Büro Bilder aufzuhängen, und im Zimmer nebenan wird gerade heftig gehämmert und gebohrt. „Wir müssen für Ergebnisse sorgen“, sagt Vittrup ungeduldig. „Ich will auch Leute in den (gefährlichen) Osten des Landes rausschicken. Aber dazu brauchen wir Unterkünfte und die logistische Einbindung ins Militär.“

Vittrups größtes Problem, sagt er, bestehe darin, dass sich europäische Polizisten, anders als Soldaten, nicht nach Afghanistan zwingen ließen. Der Einsatz im Ausland ist freiwillig, und wer den Schritt von Zuhause weg schon wage, sagt Vittrup, der wähle als Standort doch eher das Kosovo oder Georgien statt Afghanistan. „Da ist es viel freundlicher. Da gibt es schöne Innenstädte und Straßencafés. Die Optionen für Kabul sind etwas andere. Hier kann man getötet werden.“ Das mache einen Einsatz in Afghanistan auch für Frau und Kind schwer vermittelbar.

Das Resultat: Der EU-Mission fehlen noch immer viel zu viele Ausbilder. 30 000 Polizisten will Vittrup in den nächsten Jahren ausbilden. Doch dafür müsste er viel mehr Trainer hinaus in die Städte schicken können, nach Mazar-i-Sharif oder nach Herat. „Wir können nur hoffen“, resümiert der Däne, „dass sich mehr Freiwillige finden.“

Vielleicht könnte es helfen, wenn die Europäische Union die Anreize für Polizisten erhöhen würden, sich auf die Mission zu begeben. Denn bisher scheinen vor allem zwei Motivationen EU-Polizisten nach Afghanistan zu treiben, auf die niemand setzen kann, der eine Vielzahl von Beamten braucht: Idealismus für die Sache und Frust in der Heimat.

Von beiden berichtet der deutsche Bundespolizist Martin Heyne. Der 38jährige Beamte entschied sich 2005, für neun Monate als Aufbauhelfer nach Kabul zu gehen. Neben dem „starken inneren Wunsch, sich einer herausfordernden Auslandsverwendung zu stellen“, sagt Heyne, habe er auch nach einer Erleichterung für sein Privatleben gesucht.

„Ich denke, dass Auslandsverwendungen oft eine Flucht vor einer Situation in der Heimat sind. Ich selbst befand mich in einer Ehekrise. Nach dem ersten Heimaturlaub, aus der Distanz heraus, habe ich mich dann einvernehmlich von meiner Frau getrennt. 2006 habe ich mich scheiden lassen. Andere Kollegen haben ähnliche Erfahrungen gemacht.“

Und Heyne machte noch eine Erfahrung, von der viele Afghanistan-Rückkehrer berichten. Er fing sich eine Darmerkrankung ein, die langwierig tropenmedizinisch behandelt werden musste. Bis heute, sagt Heyne, leide er unter erheblichen Magen-Darm-Problemen. „Ich denke, sie hängen mit psychischem Stress zusammen, der zumindest zum Teil wohl auch auf die Auslandsverwendung zurückgeht.“ In der Rückschau sei die Zeit in Kabul ein „knallharter Knochenjob“ gewesen. Würde er ihn zu denselben Bedingungen noch einmal machen? Ja, sagt der Beamte, der derzeit am Frankfurter Flughaften Dienst tut – „wenn die Gesundheit wieder stimmt“.

Denn Heyne glaubt trotz aller zahlenmäßigen Erfolge der Amerikaner, dass die deutsche Methode beim Polizeiaufbau erfolgversprechender sei.

„Ohne die für uns typische Gründlichkeit und Nachhaltigkeit kaum Aussicht auf ein Missionsende besteht. Denn die endemische Korruption in Afghanistan und die aus sozialem Verständnis heraus gewachsene Vetternwirtschaft machen jede auf kurze Sicht geplante Maßnahmen zu einem Debakel. Mein Motto für den Afghanistan-Einsatz lautete immer: Entweder wir machen es richtig oder gar nicht.“

Die holländischen Soldaten in Kandahar freuen sich derweil auf die Truppenverstärkung aus Amerika. Die Krieger, die jetzt Tag für Tag auf dem Airfield im Süden landen, zählen zu den feuerstärksten, modernsten Einheiten, die die USA zu bieten haben. Die „2nd Marine Expeditionary Brigade“ rauscht heran, nebst einer „Combat Aviation Brigade“ mit 100 Kampfhubschraubern. Nach Nation Building klingt das nicht gerade.

Keine Sorge, sagen die Holländer. „Das Kommando hier führen wir. Und unsere Strategie ist gut. Die Amerikaner werden sich der anpassen müssen.“ Das heiße konkret: Nicht den Kampf suchen, sondern Sicherheitsdienste leisten für jene Afghanen, die ihr Land voranbringen wollen. Für Polizisten, Lehrer, Bauarbeiter. Sieben niederländische Offiziere seien schon im Pentagon gewesen und hätten ihre Counterparts dort entsprechend eingestimmt. „Die wissen jetzt, was Sache ist. Ihre Hauptaufgabe ist es nicht, die Taliban zu besiegen, sondern die Bevölkerung für sich zu gewinnen.“

Auch so kann transatlantische Zusammenarbeit aussehen. Wenn Europa sich was traut.