Der neue US-Präsident will Afghanistan in den Griff bekommen. Schnell und mit vielen Soldaten. Doch die Europäer halten sich genauso zurück wie zu Bush-Zeiten
Plötzlich kommt Hektik auf im Konferenzraum des Provincial Reconstruction Team (PRT) in Kandahar. „Unten in der Stadt werden gerade Explosionen gemeldet“, sagt einer der kanadischen Aufbauhelfer. Gerade eben noch hatten die Mitarbeiter des PRT, Diplomaten, Polizisten und Soldaten aus Amerika und Kandahar, dem Reporter ihre mühevolle Arbeit nahe gebracht. Wie sie afghanischen Polizeirekruten den Umgang mit Waffen beibringen. Wie sie afghanische Gefängniswärter anleiten, Häftlinge in den Griff zu bekommen. Wie sie helfen, einen Staudamm und eine Universität aufzubauen, wie sie afghanische Kinder gegen Polio impfen, wie sie Schulen errichte. Da kracht der Gegner ins Briefing.
Gleich drei Selbstmordattentäter, stellt sich wenig später heraus, haben den Palast des Gouverneurs von Kandahar angegriffen. Einen von ihnen konnten Wachleute erschießen, die beiden anderen aber rissen ein Dutzend Afghanen mit in den Tod, als sie ihre Bomben zündeten.
Es ist der blutige Alltag Südafghanistans. Hier, wo die Taliban einst ihre Hochburg hatten, hier, wo die üppigsten Mohnfelder blühen und die dicksten Drogenprofite erwirtschaftet werden, tobt der Widerstand gegen die Modernisierung von Menschen und Land am erbittertsten. Zwar, versichern Nato-Militärs, werde das westliche Bündnis von den Taliban nicht mehr in offene Feldschlachten hineingezogen. Doch Gefechte mit regelrechten Kompanien von Angreifern gebe es immer noch.
Mal berichten afghanische Zeitungen von 40 Taliban, die getötet wurden, mal von 80, und immer wieder auch davon, dass unschuldige Zivilisten durch die Luftschläge der Isaf-Truppe ums Leben kamen. Die Nato, heißt es, betreibe zwar keinen „Body Count“, also keine Opferzählung. Doch intern, so ist zu erfahren, geht das Bündnis davon aus, dass es im vergangenen Jahr in Kämpfen zwischen 15.000 und 20.0000 Taliban getötet habe. Kollateralschäden bleiben da nicht aus.
Und doch, die Nato glaubt sich auf dem richtigen Weg. „Der Gegner ändert die Methoden, und das zeigt, wie schwach er ist“, sagt ein niederländischer Offizier im Kandahar Air Field, einem gewaltigen Feldlager mit 17.000 Nato-Soldaten. Tag und Nacht landen und starten hier gewaltige Transportmaschinen, die immer mehr Soldaten in den Süden schaffen. Zwischendurch rauschen Hubschrauber übers Camp, zischen Kampfjets und raketenbestückte Drohnen über die Startbahn.
„Die Taliban wissen, wenn sie uns offen angreifen, verlieren sie. Also verlegen sie sich auf Straßenbomben und Hinterhalte.“ Über 2100 solcher „Vorkommnisse“, wie es im Militär-Sprech heißt, habe es im vergangenen Jahr gegen die Nato-Soldaten im Süden gegeben, das sei eine Verdopplung gegenüber dem Vorjahr. Und trotz aller Panzerwagen sterben dabei immer wieder junge Soldaten, vor allem Amerikaner (siehe dazu auch unser Video).
Barack Obama will das Blatt in Afghanistan jetzt endgültig wenden. Mehr als 20.000 Soldaten siedelt der US-Präsident dafür um, aus dem falschen Krieg im Irak, in den richtigen Krieg am Hindukusch. In Kanadahar hat der „Surge“ schon begonnen. Die neuen US-Soldaten, die hier Tag für Tag eintreffen, sind derzeit noch in Zelten untergebracht. Doch am Rande des gewaltigen Feldlager planieren Caterpillars schon das Terrain für neue feste Unterkünfte.
Die west-europäischen Staaten innerhalb der Nato sind mit Obama immerhin insoweit einig, als sie seine Irakkriegs-Bewertung teilen. Eine Herzensangelegenheit wird ihnen die Afghanistanmission deswegen allerdings noch lange nicht.
„Wenn man heute noch sagt, auch unsere Sicherheit werde am Hindukusch verteidigte, erntet man doch nur Lächeln“, gestand Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, gegenüber dem Publikum des Brussels Forum, einer Debattenveranstaltung zu dem der German Marshall Fund im März hochrangige Politiker aus aller Welt zusammen gebracht hatte. „60 Prozent unserer Bevölkerung sind gegen die Mission“, erinnerte der CDU-Abgeordnete Polenz.
Zwar stellen die Deutschen mit über 3500 Soldaten das drittgrößte Kontingent der internationalen Aufbautruppe (Isaf), aber sie scheuen jede Aktion, die als Kampfeinsatz gewertet werden könnte. Deswegen sind sie, abgesehen von ein paar Dutzend Fernmeldetechnikern im Camp Kandahar, nur im Norden eingesetzt.
In Frankreich, dem anderen großen west-europäischen Bündnisland, fordert die Opposition, die Regierung möge endlich einen Zeitplan erstellen, wann die Nato mit der leidigen Mission zu Ende sei.
Ist Afghanistan also das verklingende Echo eines Bündnisversprechens, an das die Europäer 20 Jahre nach dem Mauerfall in Wahrheit schon lange nicht mehr glauben? Und das, obwohl sich die Lage im Süden womöglich stabilisieren ließe, zögen jetzt alle an einem Strang?
Trotz des Sympathie-Bonus Obama zweifeln Amerikas Außenpolitiker daran, ob Europa in Afghanistan wirklich Frieden will, oder ob es nicht eher mit Afghanistan in Frieden gelassen werden möchte. „Fühlt sich Europa der Aufgabe wirklich so verpflichtet wie die Vereinigten Staaten es tun?“, fragt der scheidende US-Nato-Botschafter Kurt Volker. Vielleicht, schlägt er vor, wäre es ganz gut, die öffentliche Meinung für das Projekt zurück zu gewinnen.
Ganze 177 Polizeiausbilder hat die „soft power“ Europäische Union bis heute für den Wiederaufbau aufgetrieben – und ist damit mitverantwortlich dafür, dass Afghanistan noch weit entfernt ist von jener „selbsttragenden Sicherheit“, die sich die internationale Gemeinschaft so dringend wünscht. „Die Polizei ist in keinem guten Zustand“, mahnte in Brüssel der neue US-Beauftragte für Afghanistan und Pakistan, Richard Holbrooke. Er fordert „einen sehr beträchtlichen Zuwachs“ an Sicherheitskräften. Doch wer sich in diesem Frühjahr in Afghanistan umschaut, der sieht: Ein Obama-Effekt schlägt sich in der europäischen Politik kaum nieder. Den harten Teil des Wiederaufbaus am Hindukusch überlässt die EU ebenso wie zu Bush-Zeiten den Angelsachsen.
Lesen Sie mehr dazu im zweiten Teil demnächst auf ZEITonline