Lesezeichen
 

Mach’s allein, Obama

Der neue US-Präsident will Afghanistan in den Griff bekommen. Schnell und mit vielen Soldaten. Doch die Europäer halten sich genauso zurück wie zu Bush-Zeiten

(Video-Beitrag inklusive)


Kandahar/Kabul

Plötzlich kommt Hektik auf im Konferenzraum des Provincial Reconstruction Team (PRT) in Kandahar. „Unten in der Stadt werden gerade Explosionen gemeldet“, sagt einer der kanadischen Aufbauhelfer. Gerade eben noch hatten die Mitarbeiter des PRT, Diplomaten, Polizisten und Soldaten aus Amerika und Kandahar, dem Reporter ihre mühevolle Arbeit nahe gebracht. Wie sie afghanischen Polizeirekruten den Umgang mit Waffen beibringen. Wie sie afghanische Gefängniswärter anleiten, Häftlinge in den Griff zu bekommen. Wie sie helfen, einen Staudamm und eine Universität aufzubauen, wie sie afghanische Kinder gegen Polio impfen, wie sie Schulen errichte. Da kracht der Gegner ins Briefing.

Gleich drei Selbstmordattentäter, stellt sich wenig später heraus, haben den Palast des Gouverneurs von Kandahar angegriffen. Einen von ihnen konnten Wachleute erschießen, die beiden anderen aber rissen ein Dutzend Afghanen mit in den Tod, als sie ihre Bomben zündeten.

Es ist der blutige Alltag Südafghanistans. Hier, wo die Taliban einst ihre Hochburg hatten, hier, wo die üppigsten Mohnfelder blühen und die dicksten Drogenprofite erwirtschaftet werden, tobt der Widerstand gegen die Modernisierung von Menschen und Land am erbittertsten. Zwar, versichern Nato-Militärs, werde das westliche Bündnis von den Taliban nicht mehr in offene Feldschlachten hineingezogen. Doch Gefechte mit regelrechten Kompanien von Angreifern gebe es immer noch.

Mal berichten afghanische Zeitungen von 40 Taliban, die getötet wurden, mal von 80, und immer wieder auch davon, dass unschuldige Zivilisten durch die Luftschläge der Isaf-Truppe ums Leben kamen. Die Nato, heißt es, betreibe zwar keinen „Body Count“, also keine Opferzählung. Doch intern, so ist zu erfahren, geht das Bündnis davon aus, dass es im vergangenen Jahr in Kämpfen zwischen 15.000 und 20.0000 Taliban getötet habe. Kollateralschäden bleiben da nicht aus.

Und doch, die Nato glaubt sich auf dem richtigen Weg. „Der Gegner ändert die Methoden, und das zeigt, wie schwach er ist“, sagt ein niederländischer Offizier im Kandahar Air Field, einem gewaltigen Feldlager mit 17.000 Nato-Soldaten. Tag und Nacht landen und starten hier gewaltige Transportmaschinen, die immer mehr Soldaten in den Süden schaffen. Zwischendurch rauschen Hubschrauber übers Camp, zischen Kampfjets und raketenbestückte Drohnen über die Startbahn.

„Die Taliban wissen, wenn sie uns offen angreifen, verlieren sie. Also verlegen sie sich auf Straßenbomben und Hinterhalte.“ Über 2100 solcher „Vorkommnisse“, wie es im Militär-Sprech heißt, habe es im vergangenen Jahr gegen die Nato-Soldaten im Süden gegeben, das sei eine Verdopplung gegenüber dem Vorjahr. Und trotz aller Panzerwagen sterben dabei immer wieder junge Soldaten, vor allem Amerikaner (siehe dazu auch unser Video).

Barack Obama will das Blatt in Afghanistan jetzt endgültig wenden. Mehr als 20.000 Soldaten siedelt der US-Präsident dafür um, aus dem falschen Krieg im Irak, in den richtigen Krieg am Hindukusch. In Kanadahar hat der „Surge“ schon begonnen. Die neuen US-Soldaten, die hier Tag für Tag eintreffen, sind derzeit noch in Zelten untergebracht. Doch am Rande des gewaltigen Feldlager planieren Caterpillars schon das Terrain für neue feste Unterkünfte.

Die west-europäischen Staaten innerhalb der Nato sind mit Obama immerhin insoweit einig, als sie seine Irakkriegs-Bewertung teilen. Eine Herzensangelegenheit wird ihnen die Afghanistanmission deswegen allerdings noch lange nicht.

„Wenn man heute noch sagt, auch unsere Sicherheit werde am Hindukusch verteidigte, erntet man doch nur Lächeln“, gestand Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, gegenüber dem Publikum des Brussels Forum, einer Debattenveranstaltung zu dem der German Marshall Fund im März hochrangige Politiker aus aller Welt zusammen gebracht hatte. „60 Prozent unserer Bevölkerung sind gegen die Mission“, erinnerte der CDU-Abgeordnete Polenz.
Zwar stellen die Deutschen mit über 3500 Soldaten das drittgrößte Kontingent der internationalen Aufbautruppe (Isaf), aber sie scheuen jede Aktion, die als Kampfeinsatz gewertet werden könnte. Deswegen sind sie, abgesehen von ein paar Dutzend Fernmeldetechnikern im Camp Kandahar, nur im Norden eingesetzt.

In Frankreich, dem anderen großen west-europäischen Bündnisland, fordert die Opposition, die Regierung möge endlich einen Zeitplan erstellen, wann die Nato mit der leidigen Mission zu Ende sei.

Ist Afghanistan also das verklingende Echo eines Bündnisversprechens, an das die Europäer 20 Jahre nach dem Mauerfall in Wahrheit schon lange nicht mehr glauben? Und das, obwohl sich die Lage im Süden womöglich stabilisieren ließe, zögen jetzt alle an einem Strang?

Trotz des Sympathie-Bonus Obama zweifeln Amerikas Außenpolitiker daran, ob Europa in Afghanistan wirklich Frieden will, oder ob es nicht eher mit Afghanistan in Frieden gelassen werden möchte. „Fühlt sich Europa der Aufgabe wirklich so verpflichtet wie die Vereinigten Staaten es tun?“, fragt der scheidende US-Nato-Botschafter Kurt Volker. Vielleicht, schlägt er vor, wäre es ganz gut, die öffentliche Meinung für das Projekt zurück zu gewinnen.

Ganze 177 Polizeiausbilder hat die „soft power“ Europäische Union bis heute für den Wiederaufbau aufgetrieben – und ist damit mitverantwortlich dafür, dass Afghanistan noch weit entfernt ist von jener „selbsttragenden Sicherheit“, die sich die internationale Gemeinschaft so dringend wünscht. „Die Polizei ist in keinem guten Zustand“, mahnte in Brüssel der neue US-Beauftragte für Afghanistan und Pakistan, Richard Holbrooke. Er fordert „einen sehr beträchtlichen Zuwachs“ an Sicherheitskräften. Doch wer sich in diesem Frühjahr in Afghanistan umschaut, der sieht: Ein Obama-Effekt schlägt sich in der europäischen Politik kaum nieder. Den harten Teil des Wiederaufbaus am Hindukusch überlässt die EU ebenso wie zu Bush-Zeiten den Angelsachsen.

Lesen Sie mehr dazu im zweiten Teil demnächst auf ZEITonline

 

Im Hybridmotor der Welt

Wie und wo findet in Brüssel eigentlich Politik statt?

Eine Suche, aus Anlaß der Europawahlen am 7. Juni

(Video-Beitrag inklusive)

Auguste Comte, der Gründervater der Soziologie, gestorben 1857, würde wahrscheinlich in Jubelgeschrei ausbrechen, wenn wir ihn durch das Verwaltungsviertel der Europäischen Union führen könnten. Mit feuchten Augen würde er, der zukunftsgläubige Funktionalist, vor dem 14-stöckigen Berlaymont-Gebäude in Brüssel verharren, dem Hauptquartier der Europäischen Kommission. „Na also!“, hören wir Comte rufen. „Es geht geht doch: Ordnung und Fortschritt! Das dritte und perfekte Gesellschaftszeitalter!“

Ach, Häuptlinge, Könige und Kaiser mussten Europa in einer ersten Entwicklungsphase verheeren, in einer zweiten dann übernahm das Volk die Souveränität – aber jetzt, endlich: die Herrschaft der Eliten! Im Brüsseler EU-Viertel regieren nicht mehr die Intriganten und Manipulatoren der „Politik“, hier lösen Sozialingenieure die Probleme eines Kontinents, mit gebührender Expertise und wissenschaftlicher Präzision. Famos!

Ja, es stimmt schon. Die EU-Kommission ist eine post-demokratische Behörde. Keiner der 27 Kommissare oder ihrer Generaldirektoren, die hier neue Regeln für das vereinte Europa erdenken und darüber wachen, dass die bestehenden eingehalten werden, ist vom Volk gewählt. Und wenn einer von ihnen geht und ein neuer kommt (so wie kürzlich eine, äh, Litauerin?) – welcher Bürger bekommt das schon mit? Hinter der futuristischen Glasfassade des Berlaymont herrscht eine überstaatliche Geschäftsführerdemokratie, ein Massenmanagement, das keinen Streit, keine Parteien, keine Helden und keine Tragik mehr kennt, sondern nur noch soziale Physik und juristische Mechanik.

Ist Brüssel, ist die EU die Endstation der „Politik“, wie wir sie kennen?

Unser Auguste Comtes jedenfalls lächelt immer noch ganz verzückt, als wir seinen Kopf sanft nach rechts drehen, über die Rue de la Loi hinweg. Dort, auf der anderen Seite des Brüsseler EU-Viertels, liegt das klotzige Marmorgebäude des Europäischen Rates.

„Da drin“, flüstern wir Comte so schonend wie möglich zu, „treffen sich regelmäßig die 27 Regierungschefs der EU. Und weißt du was? Manchmal benehmen sie sich wie die Kinder. Sie feilschen um Macht, Geld und Ruhm. Ganz im Innern gibt es sogar einen Raum, den sie ‚Beichtstuhl’ nennen. Er ist schalldicht und hat grässliche Neonröhren. In ihm werden die ganz renitenten Staatschefs einzeln ins Gebet genommen, wenn sie aus reinem nationalen Egoismus Beschlüsse blockieren.“

Der arme Comte. Wie ihm die Gesichtszüge entgleiten.

Denn im Ratsgebäude ist sie noch zuhause, die große, alte Politik. Hier übertrumpfen westeuropäische Großmächte osteuropäischen Neulinge, hier fließen Schweiß, Tränen und Millionen, hier haben keine bürokratischen Haarspalter Zutritt, sondern nur die mächtigsten Kofferträger aller Himmelsrichtungen.

Wer die Wahrheit über das politische Wesen der EU sucht, der muss sich mitten auf die Rue de la Loi stellen und den Blick wandern lassen. Hin und Her. Vom Berlaymont, der supranationalen Dimension Europas, wo gepoolte staatliche Souveränität verwaltet wird. Agrarbeihilfen. Wettbewerbsrecht. Freihandel. Und hinüber zum Rat, der intergouvernmentalen Dimension Europas, wo die Staatschefs erbittert um Konsense im Großen ringen: Militärmissionen. Klimapakete. Bankenrettungen.
Das Berlaymont ist die gebäudegewordene Folge zweier Weltkriege. Der Rat ist die Arena jener einzelstaatlichen Machtansprüche, die sie überlebt haben.

Machtanspruch der USA, Funktionsprinzip der UN

Tatsächlich changiert die EU permanent zwischen diesen beiden Regierungsformen, zwischen verwalteter Einheit und erkämpfter Einigkeit. Deswegen ist der Eindruck nicht ganz falsch, diese Union sei ein Staatenbund mit den Großmachtansprüchen der USA und dem Funktionsprinzip der UN.

Ungefähr zwischen diesen Polen bewegt sich konsequenter Weise auch die Wertschätzung ihrer „User“. Für die einen Menschen liegt Brüssel unter dem Heiligenschein ewigen kantischen Friedensversprechens. Andere verteufeln das Bürokratie-Europa als EUdSSR, als neosowjetischen Regelungskraken. Eine gesunde mittlere Meinung scheint die EU bislang ebenso selten zu finden wie – für sich selbst – einen gesunden Mittelweg.

Liegt genau darin womöglich das Geheimnis ihres unauffälligen Erfolges?

„Das Modell EU, so schwierig wie es ist, ist ein ziemlich gutes“, sagt ein deutsches Regierungsmitglied selbstbewusst auf dem Höhepunkt der Finanzkrise. „Sicher, wir sind bedächtigter, kollektiver und langsamer als andere. Aber genau deswegen sind wir eben manchmal auch überlegter und angemessener in unseren Reaktionen.“

Vielleicht, ja, könnte sich die Entdeckung der Langsamkeit noch als nachhaltiger Marktvorteil für die EU entpuppen. Denn unter den politischen Systemen dieser Welt ist sie so etwas wie der Hybridmotor. Es gibt den stillen Generator Kommission – und die geregelte Brennstoffzufuhr aus den schwungmächtigen Hauptstädten. Europa funktioniert durch ständige Selbstkorrektur.

Für den Augenblick allerdings bleibt genau diese Doppelnatur das schwerste PR-Problem der EU. Brüssel riecht mehr nach Maschinenraum als nach Steuerstand. Das wittern viele Polit-Akteure, die in die Europastadt fliegen. Oder hier lieber gar nicht erst antanzen.

Mit Europathemen muss die Öffentlichkeit gleichsam zwangsernährt werden

Es ist ein warmer Frühsommerabend. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, Verbindungsbüro Brüssel, lädt zum Empfang. Der Vorsitzende des DGB, Michael Sommer, soll sprechen. Eine ansehnliche Zahl deutscher Zeitungsjournalisten rücken an, sie sind gespannt, immerhin hatte Sommer kurz nach seiner Wahl angekündigt, der europäischen Gewerkschaftsarbeit „Priorität“ einräumen zu wollen. Doch Sommer erscheint nicht.

Stattdessen tritt ein der Medienwelt unbekanntes DGB-Vorstandsmitglied ans Mikrofon und entschuldigt den Chef. Sommer sei wegen „dringender kurzfristiger Verpflichtungen“ leider verhindert. Am selben Abend fängt eine Kamera der ARD den Gewerkschaftschef gutgelaunt auf dem Sommerfest der SPD in Berlin ein. Das Brüsseler Journalistencorps ist gegen solche Enttäuschungen längst abgehärtet. Man weiß ja: Mit Europathemen muss die Öffentlichkeit gleichsam zwangsernährt werden. Denn ganz egal, wie wichtig es ist, was rund um die Rue de la Loi entschieden wird – es ist immer wahnsinnig komplex.

Was kann, was darf, das Europaparlament?

Im Foyer des Europäischen Parlaments wird das Unüberschaubare anschaulich. Endlose Rolltreppenbahnen, Aufzugschächten und Abzweigungen verwirren den Besucher, Assistenten sortieren Dokumente in riesige Regalablagen. Die Abgeordneten-Büros tragen Bezeichnungen wie ASP 7G 351. Sie stehen für Gebäudeteil, Geschoss und Zimmernummer. Deswegen treffen sich Parlamentarier und Journalisten lieber in der „Mickey-Mouse-Bar“, unverfehlbar gelegen neben dem gewaltigen Plenarsaal für die 785 Abgeordneten. In einem der grellbunten Designersessel sitzt Alexander Alvaro, 34, deutsches Mitglied der europäischen Fraktion der Liberalen. Fast verzweifelt klopft er auf einen Stapel Papiere herum, die vor ihm auf dem Kaffeetisch liegen. Es geht um Vorschläge, der die EU-Justizkommissar zur biometrischen Grenzkontrolle gemacht hat. Oder?

„Das ist ja erst einmal nur eine Mitteilung, das hat noch keinen legislativen Charakter“, sagt Alvaro und blättert durch die Unterlagen. Und was macht er jetzt damit, er als Abgeordneter? Alvaro zuckt mit den Schultern und muss bedauern. Außer es zur Kenntnis zur nehmen? „Erstmal nichts.“
Der junge Jurist ist ein kenntnisreicher und engagierter Kämpfer gegen zu viel Datensammelei in Europa. Aber was kann er tatsächlich ausrichten, wenn, beispielsweise, der Europäische Rat beschließt, künftig aller Reisepässe mit Gesichtsfeldkoordinaten und Fingerabdrücken zu versehen?

Das Europaparlament kann solche Gesetzgebung prinzipiell nicht aufhalten, es kann nur seine Meinung zu ihr abgeben und Änderungen anregen. Und als das Plenum schließlich über den Biometriepass abzustimmen hatte, da stimmte es mit 471 zu 118 Stimmen zu. Kein Wunder, dass einige Angeordnete sich in Resolutionitis ergehen, im Beschließen und Schlussfolgern, im Entschließen und Anregen. „Ich frage mich schon manchmal, wofür wir hier eigentlich unsere Arbeitskraft einsetzen“, erregt sich ein ungarischer Abgeordneter, „da schreibt man monatelang an Berichten, und die Kommission schmeist sie anschließend in den Mülleimer.“

Zu beachtlichem Nutzen kann das EP derweil sein Gewicht in die Außenpolitik einbringen – wie der Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff in einem Video-Interview erklärt.

„EU heißt Konsens, nicht Krawall“

Im Brüsseler Plenarsaal lohnt es sich schlicht nicht, Missklänge zu erzeugen. Schließlich ist das Europaparlament nur dann stark, wenn es gegenüber der Kommission geschlossen auftritt. „EU heißt Konsens, nicht Krawall“, sagt der scheidende Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering. Der CDU-Mann ist der große Zampano der Harmonie. Seine Reden versprühen konsequenterweise so viel Esprit wie eine Pommesbude. Wie, bitteschön, soll bei all dieser zwanghaften Euro-Wellness Drama und, in der Folge, öffentliches Interesse am Brüsseler Geschehen entstehen?

Gar nicht, sagt einer, der eigentlich genau dafür sorgen sollte. Es ist Abend am Place Luxembourg. Die untergehende Sonne spiegelt sich in der gewaltigen Front des Europa-Parlaments. Von hier aus wirkt das ganze klobige EU-Viertel wie ein gigantisches Raumschiff, das, von Osten anfliegend, halb Brüssel unter sich begraben und erst kurz vorm pittoresken „Place Lux“ knirschend zum Stehen gekommen ist.
Es ist der After-work-Treff der Generation Erasmus. Abgeordnete, Lobbyisten und Pressemenschen stehen in Trauben vor den Bierlokalen. Enthusiasmierte Praktikantinnen in kurzen Röcken treffen junge Männer mit gelockerten Krawatten, um über Regionalförderung oder die CO2-Ziele zu reden. Hier pflanzt sich Europa fort.

„Die EU wird immer ein Raumschiff bleiben. Sie muss abgehoben sein.“ Axel Heyer, Pressesprecher der Liberalen-Fraktion, macht seiner Kundschaft keine falschen Hoffnungen. „Ich meine, immerhin hat sie die Aufsicht über 27 Staaten auszuüben. Das menschelt nicht. Allerdings muss das Raumschiff besuchbar bleiben. Und ihr Journalisten müsst den Funkverkehr abhören können.“

Im Saal „Ambassadeur“ öffnet sich die Kanzlerin

Das dürfen die Journalisten in der Tat. Sie hören sogar ziemlich viel Intimes von der Kommandobrücke. Leider darf das meiste davon nicht in die Öffentlichkeit gelangen, denn die Journalisten erfahren es bei so genannten „Kamingesprächen“. Nach jedem Treffen des Europäischen Rates laden Kanzlerin und Außenminister die deutschen Europa-Korrespondenten ins edle Hotel Amigo ein, gleich hinter dem mittelalterlichen Grande Place von Brüssel. Es ist meist nach Mitternacht, wenn die Staatschefs ihr gemeinsames Abendessen beendet haben und Merkel eintrifft. Die Journalisten folgen ihr gespannt durchs Foyer, denn sie wissen, sobald sich die Flügeltüren des Saales „Ambassadeur“ schließen, öffnet sich die Kanzlerin.

Was sie dann sagt, ist wie gesagt Tabu. Nicht aber, was sie mit dem sagt, was sie sagt. Mit dem, was sie sagt, sagt sie zum Beispiel, dass die EU oftmals ähnlich simpel funktioniert wie ein Brettspiel. Dass die Auseinadersetzungen im Rat so spannend sein können wie ein WM-Endspiel. Dass manchmal schlicht die Charaktere und Launen von Regierungschefs, stammen sie nun aus Rom, Paris oder Warschau, den Ausschlag für wichtige Entscheidungen geben können. Das Vokabular der Kanzlerin steckt an solchen Abenden voll mit Kardinaltugenden und -sünden, mit Vornamen europäischer Staatschefs und einfachen, deutlichen Worten.

Wenn sich die Türen des Kaminzimmers allerdings wieder öffnen und Merkel in die Fernsehscheinwerfer tritt, erstarrt sie sofort in gewohnte europäischer Konsenssklerose. Man sei, man habe, wichtige Schritte, guten Fortschritt, in guter Atmosphäre, unter Einbeziehung aller, wie Sie wissen, vielen Dank.

Es ist spät geworden. Die Polizeibarrieren an der Rue de la Loi sind abgebaut, die Staatslimousinen und Ü-Wagen vorm Ratsgebäude verschwunden. Nur drüben, im Berlaymont, brennt noch Licht.

 

Sorry, we are not convinced

Öffnen sich zwischen Amerika und Europa schon wieder ideologische Gräben?

Ein Schlichtungsversuch

Bricht wegen der Wirtschaftskrise ein neuer Glaubenskrieg zwischen Europa und Amerika aus? Die Schlagworte liegen jedenfalls schon bereit. Hier Regulierung, dort Stimulierung, lautet das neue Gegensatzpaar. Es scheint geeignet, zwischen Brüssel und Washington neue Zwietracht auszulösen. Wenn sich beide Positionen zur Ideologie verhärten, mag es nicht mehr lange dauern, bis es heißt:

Amerikaner sind vom Merkur, Europäer sind vom Mond.

„Mich erinnert das alles schon ein bisschen an die Zeit vor dem Irakkrieg“, sagte mir ein befreundeter amerikanischer Politikbeobachter vergangene Woche. „Fangen wir jetzt wieder an, Euch zu sagen, was der richtige Weg ist? Und dabei wollte Obama gerade doch nicht so belehrend auftreten wie seine Vorgänger.“

Steht es wirklich schon wieder so schlecht um die transatlantische Brüderlichkeit? Oder werden solch manichäische Weltbilder bloß gerne von Journalisten in die Welt gesetzt, weil sie das Erklären leichter machen? Ach, die Schlagzeilen klängen ja so gut:

Handel(!)krieg zwischen USA und EU ausgebrochen!
Steinmeier kontert Obama: Sorry, I am not convinced!
US-Präsident: Ihr seid entweder mit uns oder gegen uns!

Aber hat das etwas mit der Wirklichkeit zu tun?

Was stimmt ist, dass die Vereinigten Staaten eine Menge Geld in den Wirtschaftskreislauf pumpen, um Wachstum zu erzeugen. Gigantische 787 Milliarden Dollar wiegt das amerikanische Konjunkturprogramm, das helfen soll, Arbeitsplätze zur retten. Dafür nimmt Amerika ein Haushaltsdefizit von voraussichtlich 10 Prozent in Kauf. Barack Obamas Philosophie lautet: Lieber zu viel zu als zu wenig, und lieber zu früh als zu spät.

Der New York Times sagte der Präsident kürzlich: „Zu den Dingen, die wir jetzt sehen, gehören auch Schwächen in Europa, die genau genommen größer sind als einige Schwächen bei uns, und die zurückschlagen und Auswirkungen auf unsere Märkte haben.“ Was der Präsident damit eigentlich sagen wollte, so der Journalist John Vinocur, sei gewesen: „Europas größe Kerle sitzen herum, sorgen sich um ihre Verschuldung und warten darauf, auf einer neuen Handelswelle mitzusurfen, die sie selber nicht geholfen haben zu erzeugen.“
Der US-Wirtschaftsnobelpreisträger und Obama-Unterstützer teilte den Europäern in mehreren Artikeln mit, ihr Kontinent sei dem Untergang geweiht, wenn sie nicht schnellstens merkten, wie hinterwäldlerisch und naiv ihre Bedrohungsanalyse sei.

Was hierzulande stimmt, ist, dass die deutsche Bundeskanzlerin die Konjunktur bis auf Weiteres nur so weit anfeuern will, wie die volkswirtschaftliche Sicht reicht. Sie und ihr Finanzminister fürchten, es könnte die nächste Krise provozieren, Geld auf den Markt zu werfen, bevor klar sei, ob die bisherigen Belebungsversuche nicht schon griffen. Immerhin 50 Milliarden Euro will die Bundesregierung in den kommenden beiden Jahren ausgeben, um Investitionen anzukurbeln und Arbeitsplätze zu sichern.

Doch zu viel Liquidität kann die Kaufkraft auch verwässern. Am Ende stünde das Land dann mit mehr Langzeitarbeitslosen da als zuvor. Deshalb will Merkel jetzt erst einmal abwarten. Und bis dahin den politischen Schub nutzen, um weltweit neue Regeln für verlässliche Anlageprodukte und gegen Steuerflucht zu installieren.

Nach einer Schätzung des internationalen Tax Justice Network liegt in den Steueroasen des Planeten die unvorstellbare Vermögenssumme von 11,5 Billionen Dollar (eine Billion = Tausend Milliarden) herum – Geld, das legalistisch betrachtet zum jeweiligen nationalen Steuersatz der Gesamtgesellschaft gehörte und das längst eingesetzt hätte werden können, um Investionen und Zukunftssicherung zu betreiben. Vielleicht sogar in Form von Steuersenkungen. Kein Wunder, dass Finanzminister Peer Steinbrück am liebsten die „Kavallerie“ losschicken würden, um diese schwarzen Kassen nach Hause zu bringen.

Alles gut und schön, sagt der amerikanische Freund. „Aber wenn gerade das ganze Haus einstürzt, ist das der richtige Zeitpunkt, um über neue Bauvorschriften nachzudenken? Haben wir nicht gerade Dringenderes zu tun?“

Mag sein. Aber vielleicht ist das überragend Dringende nicht die Frage, wann welche Staaten wieviel Geld ausgeben sollten. Das können sie je nach Stabilität ihrer Standorte ganz gut selbst entscheiden, ohne dass Krugman & Co. gleich rhetorischen Pulverdampf verströmen müssten.

Das überragend Dringende ist vielmehr ein Drittes: Zu verhindern, dass die wirtschaftlichen Großmächte der Welt ihre Märkte abschotten, weil sie glauben, sich nur so vor den Folgen der Krise schützen zu können. Anzeichen für Protektionismus sind sowohl in Amerika wie auch in Europa oder China zu registrieren. Wenn es beim G20-Gipfel am 2. April in London gelingt, den globalen Freihandel zu sichern, dann wäre das der derzeit wichtigste Erfolg. Alle anderen Kriege, wenn es sie denn gibt, können warten.

 

Europa buckelt

Dass Europa so schnell einknicken würde, hätte man dann doch nicht gedacht. Nun wissen wir: Die Prinzipien der Europäischen Union gegenüber Russland haben eine Verfallszeit von genau 71 Tagen. Am vergangenen Monat beschlossen die Außenminister der EU in Brüssel, die Verhandlungen über ein neues Partnerschaftsabkommen mit Moskau wieder aufzunehmen.

Noch am 1. September hatten die Staatschefs Europas dafür eine klare Bedingung festgelegt: Russlands müsse seine Truppen in Georgien auf die Positionen vor Ausbruch der Feindseligkeiten am 7. August zurückverlegen.

Diese Bedingung hat Russland nicht nur nicht erfüllt. Die russische Armee hat ihre Stellungen in Abchasien und Südossetien seither drastisch ausgebaut. Die wenigen Hundert „Friedenssoldaten“ in den Provinzen sollen auf letztlich 7600 Mann aufgestockt werden. Zudem ziehen russische und ossetische Truppen laut Presseberichten immer wieder überraschend neue Grenzlinien in „Kerngeorgien“.

Ebenfalls noch im September wollten die EU-Außenminister ihr weiteres Vorgehen gegenüber Russland von der Antwort auf die Frage abhängig machen, wer den Krieg in Georgien eigentlich verschuldet hatte. Erst jetzt allerdings setzt die EU eine Kommission zur Untersuchung der Kriegsursachen ein; sie soll von der schweizerischen Diplomatin Heidi Tagliavini geleitet werden. Die Ergebnisse ihrer Arbeit dürften leider eher für Historiker als für Politiker interessant werden.

Einzig Litauen protestierte in Brüssel gegen die Entscheidung der übrigen EU-Länder. In Europa, sagte der Vertreter eines südosteuropäischen Landes, herrschten im wesentlichen drei Haltungen gegenüber Russland vor: Angst (in den ehemaligen Ostblockstaaten), Ausgleich (in Großbritannien und Italien) und Geschäftsinteressen (in Deutschland und Frankreich). „Das in Einklang zu bringen, ist natürlich schwierig“, so der Diplomat. Durchgesetzt haben sich am Ende die Großen.

Sicher, Europa braucht Russland, vor allem im Winter. Die EU bezieht über 42 Prozent ihrer Erdgas-Importe aus Russland, außerdem ein Drittel seiner Öl- und ein Viertel seiner Kohle-Importe. Die Tendenz beim Gas ist stark steigend, die EU-Kommission rechnet bis 2020 mit einem Anteil von 73 aus Russland.

Aber Russland braucht auch Europa. Zwei Drittel seiner Gasexporte strömen in die EU – ohne diesen Großkunden würde Moskaus Staatshaushalt in Nöte geraten.

Angesichts dieser Zahlen hat längst ein Röhren-Rennen begonnen. Die EU plant, eine Pipeline am Bauch von Russland vorbei aus dem Kaspischen Becken über Aserbaidschan, Georgien und die Türkei bis nach Österreich zu verlegen. Russlands Gasprom-Planer richtet den Blick derweil nach Osten, auf den potenziellen Großabnehmer China.

Bis diesen Alternativen gelegt sind, können allerdings noch gut zehn Jahre vergehen. Bis dahin wäre Europa gut beraten, die Alternativen zur russischen Gasabhängigkeit zu nutzen, die es heute schon gäbe: Strom und Heizwärme sparen, regenerative Energien fördern, nationale Energiekartelle zerschlagen und – jedenfalls bis auf Weiteres – Atomkraftwerke am Netz lassen. Aber das wären zum Teil eben höchst unpopuläre und zähe Vorhaben.

Am Freitag wird der EU-Ratspräsident in Nizza dem russischen Präsidenten Dimitri Medwedew in Nizza treffen. Bei dem Gipfel wird es vor allem darum gehen, die Russen zur Garantien über künftige Gaslieferungen in Europa zu bewegen. Gut, wenn der Franzose aus diesem Anlass ein Auge zudrücken kann gegenüber jenen Völkerrechtsgrundsätzen, für die er noch im August leidenschaftlich eingetreten ist.

 

Ein kleiner neuer Weltenbund

Warum es Vertrauen schaffen kann, wenn die politische Macht vom Bürger wegrückt


Im Brüsseler Ratsgebäude

Große Worte rauschen diese Tage durch Brüssel. Was die Welt jetzt brauche, sei eine „neue Finanzmarktverfassung“ heißt es während des Treffens der 27 Staatschefs und ihrer Außenminister. Sprich: Die EU allein ist zu klein für die Aufgabe, in Zukunft eine ähnliche Finanzkrise wie die derzeitige zu verhindern.

Nicht nur die G8-Staaten, da sind sich die EU-Chefs einig, müssen jetzt zusammenkommen, um sich neue Verkehrsregeln für die Kapitalflüsse um den Globus zu überlegen, sondern auch die Schwellenländer China, Indien und Brasilien. Der „internationale Finanzgipfel“, so Außenminister Frank-Walter Steinmeier, solle außerdem die Golfstaaten und Singapur einschließen.

Steinmeier im O-Ton bei der Abschlusspressekonferenz (gut 7 Minuten)

Am besten noch im November, so der Wunsch der Europäer (die Schlussfolgerungen ihrer Sitzung hier), sollen die mächtigsten Repräsentanten der Menschheit zusammenkommen, um neue Weltfinanzgesetze zu beschließen. Sie könnten beispielsweise regeln, welche Liquiditätsreserven Banken aufweisen müssen, um besser vor Insolvenz geschützt zu sein. Sie könnten regeln, dass Steueroasen, vor allem in der Karibik, geschlossen werden. Sie könnten beschließen, dass ein Teil des Verfallsrisikos von Derivaten bei den Banken bleibt, die sie verkaufen.

Ähnlich wie die Welthandelsorganisation (WTO) könnte der Internationale Währungsfonds (IWF) diese Verkehrsleitaufgabe übernehmen – vorausgesetzt, die Mitgliedsstaaten übertragen der Organisation dafür die Kompetenzen.

Das, was sich hier entwickelt, ist bemerkenswert. Denn es ist ein Beispiel dafür, dass Subsidiarität (der Vorrang der unteren Ebene) unter den Bedingungen der Globalisiertheit auch bedeuten kann, Souveränität an die nächsthöhere supranationale Instanz zu übertragen. Was wir da beobachten, ist, mit anderen Worten, nichts anders als ein neues Stückchen Weltföderalismus.

Vielleicht lohnt es sich, daran zu erinnern, woher das Wort „Föderalismus“ stammt. Es leitet sich vom Lateinischen „fidere“, vertrauen, ab und ist verwandt mit „foedus“, Vertrag. Der wohl erste Vertrauensvertrag, den die Menschen als solchen benannten, war der „Bund“, den das Volk Israel mit Jehova schloss: sie erkannten ihn als einzigen Gott an, er im Gegenzug machte seine Anhänger zu Auserwählten.

In der Neuzeit säkularisierte vor allem der schottische Philosoph David Hume die Föderalismusidee. Ist es nicht ganz natürlich, fragte er, wenn der Mensch sich wünscht, dass die Entscheidungen, die über ihn gefällt werden, von Autoritäten getroffen werden, die ihm nahe stehen, die er kennt? Also am besten auf lokaler Ebene? Gleichzeitig, so Hume, weiß der Mensch natürlich auch, dass es Probleme gibt, die nur von einer höheren, mächtigeren Autorität gelöst werden können.

Kleine Republiken, schreibt Hume schon im 18. Jahrhundert, sind „schwach und unsicher“, während „eine große Regierung, die meisterlich aufgestellt ist, Bewegungsspielraum und Kompass besitzt, um die Demokratie zu verbessern, indem sie sie von unteren Leuten auf höhere Schiedsmänner überträgt, die alle Bewegungen steuern.“ (Hume, The Idea of a Perfect Commonwealth, in: Selected Essays, 1996, S. 314)

Föderalismus bedeutet, kurz gesagt, Vertrauen notwendigenfalls auf eine mächtigere, wenn auch entferntere Stufe zu übertragen.

Ist es nicht interessant, wie Humes Prinzip heute auf einer Dimension funktioniert, die er selber sich wohl nie hätte vorstellen können? Da überträgt die ohnehin schon bürgerferne und schwach demokratisch legitimierte EU Souveränität an eine noch distanziertere, noch expertenhaftere Weltorganisation – und der Bürger? Er fasst tatsächlich neues Vertrauen.

 

Steinmeiers Solo

Steinmeierisieren darf nicht jeder, wo käme die deutsche (und europäische) Außenpolitik da hin?

Ein schönes Sinnbild für die wenig einheitliche Außenpolitik der Europäischen Union gab am Montag die Seite 4 der Frankfurter Allgemeinen ab. Oben links im Blatt berichtete ein Artikel von einem Alleingang des Außenministers Frank-Walter Steinmeier. Er war am Rande der UN-Vollversammlung in New York für eine halbe Stunde mit dem kubanischen Außenminister Pérez Roque zusammengetroffen.
Damit durchbrach Steinmeier die Linie der EU, die sich zwar im Juni angekündigt hatte, die seit 2003 geltenden Sanktionen gegen das sozialistische Regime auf der Karibikinsel könnten aufgehoben werden. Position der EU ist es aber auch, dass es keine hochrangigen politischen Begegnungen geben soll, solange noch 230 politische Häftlinge in kubanischen Gefängnissen sitzen.

Aus dem Kanzleramt wurde Steinmeier deshalb für das Treffen gerüffelt.

Steinmeier selbst, das berichtet die FAZ auf derselben Seite unten links, habe derweil den deutschen Botschafter in Iran ins Auswärtige Amt einbestellt. Grund: Der deutsche Verteidigungsattaché sei bei einer Militärparade in Teheran zugegen gewesen, „obwohl die EU-Botschafter sich darauf verständigt hatten, der Veranstaltung fernzubleiben.“ Steinmeier, so die FAZ, sei über diesen Vorgang „sehr verärgert.“

Merke: Quod licet Jovi, non licet bovi. Was der Minister darf, ist dem Attaché noch lange nicht erlaubt.

Davon, dass Steinmeier für sein Solo beim Sachwalter der Europäischen Außenpolitik, Javier Solana, einbestellt worden wäre, ist übrigens nichts bekannt.

Hm. Wieso eigentlich nicht?

 

Wir bleiben im Gespräch

Auf ihrem Sondergipfel zu Georgien ringt sich die EU zu altbekannter Einigkeit zusammen: Sie reagiert vorerst gar nicht auf die russische Teilbesatzung der Kaukasusrepublik

„Es gibt keinen neuen Kalten Krieg“, stellte der russische EU-Botschafter Vladimir Chizov noch kurz vor Beginn des Europäischen Sondergipfels zur Georgienkrise fest. „Wir leben schließlich in einer vernetzten, globalen Welt“, sagt er in Brüssel. „Ich sehe nicht, dass heute noch unversöhnliche Ideologien aufeinanderprallen würden.“

Nein, unversöhnliche ökonomische Welterklärungstheorien sind es sicher nicht mehr, die Europa und Russland trennen (der Kapitalismus hat sich dort bloß in einer besonders raubtierhaften Ausprägung breitgemacht). Aber eine gemeinsame politische Weltsicht fehlen Europa und Russland wie eh und jeh.

„Stehen wir wirklich nicht vor einem Zusammenprall der Ideologien?“, antwortete der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski mit Blick auf die anhaltende Teilbesatzung Georgiens durch russische Truppen seinem Vorredner aus Moskau. „Der EU geht es schließlich darum, Grenzen aufzulösen und nicht zu verstärken. Ihre Ideologie ist es, aufgrund von Regeln zu handeln, nicht aufgrund von Macht.“

Vielleicht steckt in diesen Zitaten die kleine historische Marke, die der Brüsseler Septembergipfel setzte. Er steht, wie wohl noch kein anderer Termin seit 1989, für das Ende der Illusionen gegenüber Russland – aber auch für das Ende der Illusion Europas über sich selbst.

Zum einem ist da das vorläufige Ende jenes europäischen Traums zu besichtigen, auch der Rest der Welt, vor allem der nahe gelegene, werde über kurz oder lang die Vorzüge transnationaler Kooperation zu schätzen lernen. Die Vision, wie Jeremy Rifkin sie einmal formulierte, „mit Beziehungen kommt Geborgenheit, und mit der Geborgenheit kommt Sicherheit“, hat offenbar geringere Strahlkraft, als Europa dies bisher wahrhaben wollte.

Hat diese europäische Selbsteinhegung überhaupt je attraktiv gewirkt jenseits des Urals?

Viel spricht dafür, dass Europa den Reiz überschätzt hat, den eine kleingedruckte Hausordnung auf Großmächte mit unbelastetem Nationalgefühl auszuüben vermag. Entsprechend ratlos steht die friedensliebenden Wohngemeinschaft EU heute vor dem Rowdy im Nachbarhaus.

Zu besichtigen war bei diesem Gipfel deshalb auch das Einknicken Europas vor einer neuen Machtpolitik aus Russland. Für die Rückkehr der Realpolitik auf die eurasische Platte, das wurde heute deutlich, fehlt es der Brüsseler Meta-Demokratie schlicht an Verdauungskraft.

Gerade weil sich Europa zivilisierten Spielregeln verschrieben hat, gerade weil es die konsenstechnologisch fortschrittlichste Region des Planeten ist, mangelt es ihm an Regeln zum Umgang mit hartnäckigen Regelverletztern. Die EU erscheint in diesen Tagen, auf diesem Gipfel, wie eine gediegene Familienfeier, an deren Rand ein zu kurz gekommener Cousin kostbares Geschirr zerschmeißt. Man ist allerseits pikiert, möchte aber die projizierte Eintracht nicht zerstören.

Sagen wir es deutlich: Begrenzter als die europäischen Mittel, Russland zu maßregeln, erscheint nach dem heutigen Gipfel nur noch die europäische Bereitschaft, dieses schmale Arsenal von Zwangsinstrumente auch einzusetzen.

Wenn Russland noch Argumente für die Richtigkeit seiner anderen, nennen wir sie neo-imperialen Weltsicht gesucht hat, auf diesem Brüsseler Gipfel konnte es fündig werden. Die 27 EU-Staatschefs haben ihren gemeinsamen Nachmittag für nichts weiter genutzt, als sich in langwierigen Gesprächen zu einigen, vorerst nicht zu reagieren.

Weder die anhaltende Teilbesatzung Georgiens durch Moskau, noch die völkerrechtswidrige Anerkennung Südossetiens und Abchasiens wird bis auf weiteres spürbare Folgen für die Putinisten haben. Zwar verurteilten die EU-Chefs in ihrer Abschlusserklärung alle diese Aktionen. Doch statt aus diesen Feststellungen Konsequenzen zu ziehen, sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel davon, jetzt müsse „die Evaluierung beginnen und fortgesetzt werden.“ Vielleicht sollte man besser sagen: Das Aussitzen und Verdrängen.

Ideen, wie die EU auf die Aggression hätte reagieren können, gab es zuhauf. Und einige wären absolut verhältnismäßig gewesen angesichts der Schwere des russischen Aggression. Hier eine kurze Aufzählung des Möglichen und das, was dem Sondergipfel dazu eingefallen ist:

Die EU ruft ihre Mitglieder auf, die georgischen Teilrepubliken Südossetien und Abchasien nicht als Staaten anzuerkennen. Das ist nun kein starkes Signal, sondern eine Selbstverständlichkeit, die in Artikel 2 der UN-Charta ihren Ausdruck findet ( „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“)

Die EU könnte die Verhandlungen über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) mit Russland aussetzen. Über diesen Pakt sollen auf dem EU-Ratsgipfel im Oktober sowie beim EU-Russland-Gipfel am 14. November weitere Beschlüsse gefasst werden. Bei letzterem Termin wird es wohl auch nach der so unpartnerschaftlichen Aggression Russlands in Georgien bleiben. „Ich habe nirgendwo gehört, dass jemand das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen nicht mehr will“, antwortete der Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, am Rande des Gipfels fast überrascht auf die entsprechende Frage eines Journalisten. Vielmehr sei wichtig, „dass unsere Prinzipien in dem Abkommen mit Russland eindeutig zum Ausdruck kommen.“
Als Rechtsfolge des „unverantwortlichen Völkerrechtsverstoßes Russlands“ wäre Pöttering Folgendes am liebsten: „Wir sollten die strategische Partnerschaft nicht beenden. Wir sollten zum Dialog bereit sein, denn wir brauchen Russland.“ Dito äußerten sich Außenminister Steinmeier, dito die Kanzlerin. Die Treffen zu Aushandlung des Partnerschaftsabkommen werden allerdings verschoben, bis die russischen Truppen sich aus dem Kerngebiet Georgiens zurückgezogen haben.

Die EU könnte Reisebeschränkungen erlassen, etwa für russische Regierungs- oder Armeevertreter. Diesen Vorschlag hat Polen in die Runde geworfen. Es gehe allerdings nicht darum, russische Bürger vom Reisen abzuhalten, stellte Polens Außenminister fest, „aber wir sollten über differenziertere Visa-Vergabemöglichkeiten nachdenken.“ Hausverbot für die schlimmsten Krawallmacher also? In der Schlussfolgerung des EU-Gipfels findet sich zu dieser Überlegung kein Wort.

Die EU könnte darauf dringen, Russland teilweise aus der G 8, den wichtigsten Industrienationen der Welt, auszuschließen. Diese Option hat der britische Außenminister David Miliband vor wenigen Tagen vorgeschlagen. “Wir sollten bereit sein, als G 7 zu agieren, falls Russland eklatante Völkerrechtsverletzungen begeht”, schrieb er in einem Beitrag für mehrere englische Zeitungen. Auch dazu kein Satz in der Abschlusserklärung.

Der Westen könnte die Bestrebungen Russlands, der Welthandelsorganisation (WTO) beizutreten, vorerst blockieren. Diese Idee stammt zwar nicht aus Europa, sondern vom demokratischen amerikanischen Präsidentschaftsbewerber Barack Obama, aber warum sollte die EU sie nicht erörtern? Warum auch immer, sie tat es nicht.

Die EU könnte darauf dringen, die olympischen Winterspiele 2014 nicht in der Schwarzmeerstadt Sotschi stattfinden zu lassen. Dies würde allerdings erstens ziemlich hilflos (ist jetzt das IOC für Europas Würde zuständig?) und zweitens ziemlich ziemlich zwecklos würden (nein, ist es nicht, deswegen würde das IOC diese Idee wohl auch nicht sehr beeindrucken.).

Europa könnte sich eine Energiepolitik geben, die den Namen verdient. Bisher lässt sich die EU von Russlands Monopolisten Gazprom systematisch auseinanderdividieren. Dabei ist gar nicht klar, welche Seite eigentlich am längeren Hebel säße, ließe man es drauf ankommen. Zwar ist Europa zu etwa 30 Prozent von russischen Gasimporten abhängig, aber Gazprom liefert 70 Prozent seiner Gesamtexporte in die EU, noch dazu fehlen dem Konzern westliche Investoren, um die Förderleistung aufrechtzuerhalten. War hätte da eigentlich mehr Druckpotenzial? Dass die EU hier die Reihen schließen muss, sehen die Regierungschefs nun mit gewisser Dringlichkeit (Schlussfolgerung Nr.8: „Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass Europa seine Bemühungen im Bereich der Sicherheit der Energieversorgung verstärken muss. Der Europäische Rat ersucht den Rat, in Zusammenarbeit mit der Kommission, die diesbezüglich zu ergreifenden Initiativen, insbesondere im Bereich der Diversifizierung der Energieversorgung und der Lieferwege, zu
prüfen.)

Die EU könnte ihre Nachbarschaftspolitik ernsthafter vorantreiben. „Die Bevölkerung der Europäischen Union ist dreieinhalbmal so groß wie die Russlands, unsere Wirtschaft fünfzehnmal größer, und unsere Militärausgaben sind zehnmal größer als die Russlands“, stellt der schwedische Außenminister Carl Bildt heute in der FAZ fest. Eine Ost-Partnerschaft der Europäische Union, eine weitere europäische soft power-Vervielfältigung könnte deshalb einhegend auf russische Großmannsgesten wirken. Die Bundeskanzlerin verwies in soweit auf die dafür zuständigen Gipfel, etwa den EU-Ukraine-Gipfel am 9. September.

„Wir sind in ständigem Gesprächskontakt“, sagte die Bundeskanzlerin zum Abschluss des Brüsseler Gipfels. Mit „wir“ meinte sie die EU. Schöner und schrecklicher kann man das Wesen europäischer Außenpolitik derzeit kaum beschreiben.

 

Locker bleiben, Westen!

Zwei kurze Thesen zu der derzeitigen Aufregung um die „Menschenrechtssituation“ in China

1. Wir, der Westen, regen uns auch deshalb nicht nur deshalb so lautstark über Tibet und die Internetzensur auf, weil die Olympischen Spiele eröffnet werden. Nein, die besonders helle Empörung, die seit Tagen aus den Fernsehern in jedem europäischen Wohnzimmer schreit, ist auch aus einer unterschwelligen Angst geboren. Denn unausgesprochen fürchten wir nicht anderes, als dass Chinas Aufstieg eine westliche Lebenslüge entlarven könnte.

Die nämlich, dass nur Liberalität und Demokratie auf Dauer Wohlstand versprechen. Chinas Wolkenkratzer und glitzernden Olympiabauten verursachen im westlichen Denkschema eine schwindelerregende Bildstörung. Wenn Reichtum, technischer Fortschritt und Innovation auch in einer Diktatur möglich sind, wenn sie dort noch dazu rasanter und effizienter zu haben sind als in langatmigen Demokratien, was ist denn dann eigentlich der globale Wettbewerbsvorteil des westlichen Systems?

2. Keine Sorge. China leuchtet gar nicht. Nur seine Großstädte glitzern. Deshalb sollten nicht wir, sondern Chinas Kapital-Kommunisten sich Sorgen machen. Denn der Reichtum, den wir im Fernsehen sehen, spiegelt nur die oberste, dünne Schicht der chinesischen Gesellschaft wieder. Sicher, China mag immer reicher werden. Aber wenn das Riesenreich gleichzeitig nicht auch gerechter wird, könnte der Führung dieser Reichtum zum Fluch werden. Denn: Kann ein Volk von 1,3 Milliarden sozial stabil bleiben, wenn eine oder zwei Millionen Menschen in ihm reich werden, ein großer Rest dagegen weiter hungert? Noch dazu, wenn Maos neues China (das es ja kulturell immer noch ist) bis in die letzten Provinzen auf das Versprechen gebaut wurde, nach dem elenden Feudalismus vergangener Jahrhunderte endlich gerechte Lebensverhältnis herzustellen?

Henning Mankell, der schwedische Krimi-Autor, hat die gesellschaftliche Zerreißprobe, vor der China momentan steht, in einer Dialogszene seines neuen Romans Der Chinese anschaulich zusammengefasst.

“Ich verstehe das nicht”, sagt Brigitta Roslin, die schwedische Richter und Heldin des Buches, zu Ho, einer gemäßigten Reformkommunistin. “China ist eine Diktatur. Die Freiheit ist ständig eingeschränkt, die Rechtssicherheit schwach. Was wollen Sie eigentlich verteidigen?”

“China ist ein armes Land“, antwortet Ho. „Die wirtschaftliche Entwicklung, von der alle reden, kommt nur einem begrenzten Teil der Bevölkerung zugute. Wenn dieser Weg, China in die Zukunft zu führen, mit einer Kluft, die sich ständig erweitert, wenn dieser Weg weiter beschritten wird, muss er in eine Katastrophe führen. China wird in ein hoffnungsloses Chaos zurückgeworfen werden. Oder es wird zur Ausbildung starker faschistischer Strukturen kommen. Wir verteidigen die Hunderte von Millionen Bauern, die trotz allem jene sind, die mit ihrer Arbeit die Entwicklung tragen. Eine Entwicklung, an der sie selbst immer weniger teilhaben. (…) In dem Machtkampf, der in China im Gange ist, geht es ums Leben und Tod. Arm gegen Reich, Machtlos gegen Mächtig. Es geht um Menschen, die mit wachsender Wut sehen, wie all das, wofür sie gekampft haben, wieder zunichtegemacht wird, und es geht um jene anderen, die nur die Möglichkeit sehen, eigene Reichtümer und Machtpositionen zu erwerben, von denen sie früher nicht einmal träumen konnten. Dann sterben Menschen.”

Statt bei Mankell könnte Chinas KP auch bei George Orwell nachschlagen. Womöglich nämlich befindet sich China jetzt in jener Animal-Farm-Phase, in der die Schweine noch glauben, den Schafen, Hühnern und Pferden weiszumachen zu können, es gebe Tiere, die gleicher seien als andere.

Bevor wir also allzu viel Angst davor entwickeln, Chinas Erfolge könnten die Reichweite und Strahlkraft liberareler Gesellschaftsordnungen Lügen strafen, erinnern wir uns, was anderen Großmächten, etwa 1789 in Europa, zum Verhängnis wurde. Die unterschätzte Sprengkraft, die die Sehnsucht eines Volkes nach Gerechtigkeit birgt.

 

Die zweite Entdeckung Amerikas

Eigentlich ist Südamerika für die Europäer ja kein ganz neuer Kontinent. Das geeinte Europa selbst aber macht sich jetzt erst, fünfhundert Jahre nach der Conquista, auf, Lateinamerika zu entdecken.

Soeben trafen die 27 Staatschef der EU in Lima die Präsidenten Lateinamerikas, um über gemeinsame Zukunftsaufgaben zu sprechen. Aus Sicht der Europäischen Union spielt Südamerika auf der Weltbühne mittlerweile die Rolle eines immer ernster zu nehmenden Heranwachsenden. Einer, mit dem es sich aus mehreren Gründen lohnt, engere Beziehungen aufzubauen.

Da ist zum einen das, was Südamerika nicht mehr ist: ein mit Dikaturen gespickter Erdteil.

Waren in den 70er Jahren fast noch überall autoritäre Regime an der Macht, herrschen mittlerweile in beinahe allen lateinamerikanischen Staaten – Kuba ausgenommen – demokratisch legitimierte Regierungen.

Und da ist das, was Südamerika noch nicht ist: ein stabiler, verlässlicher Partner in der Weltpolitik. Von den 550 Millionen Einwohnern leben mehr als 200 Millionen unter der Armutsgrenze. 80 Millionen leiden gar Hunger. Die soziale und wirtschaftliche Kluft macht viele Menschen anfällig für populistische Linkspolitiker, mit denen eine konstruktive Außenpolitik kaum möglich erscheint. In Bolivien und Venezuala herrschen mit Evo Morales und Hugo Chavez sozialistische Heißsporne, Kolumbien und Ecuador sind innenpolitisch zerrissen und fragil.

Die Strategie der EU der lautet, mit der Bekämpfung von Armut zugleich sich selbst zu helfen. Denn ebenso wie Lateinamerika weiteren Wirtschaftsaufschwung und “good governance” braucht, braucht Europa den Kontinent als Absatzmarkt – und für den Klimaschutz, wie Brüsseler Diplomaten gerne etwas lauter ankündigen. „Zusammen“, zählt der Vorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament, Martin Schulz, in der FAZ auf, „verfügen Europa, Lateinamerika und die Karibik-Staaten über eine Milliarde Menschen, ein Viertel des weltweiten Bruttosozialprodukts, sie zählen 60 Staaten, besetzen zurzeit sieben Sitze im Sicherheitsrat und ein Drittel der Stimmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel nutzte den Gipfel in Peru, um zusätzlich Brasilien, Kolumbien und Mexiko zu besuchen,
begleitet von einer elfköpfigen Wirtschaftsdelegation. Die Bundesregierung hatte darauf gehofft, dass zwischen der EU und der südamerikanischen Freihandelszone MERCOSUR ein Assoziierungsabkommen zustande kommt – noch immer aber stocken die Verhandlungen, „auch weil die EU ihrer moralischen Verplichtung nicht nachkommt, den Agrarprotektionismus abzuschwächen“, so Martin Schulz.

“Während die Mitglieder des MERCOSUR einen besseren Zugang zum abgeschotteten EU-Markt für Agrarprodukte anstreben, erhoffen sich europäische Unternehmen Erleichterungen für Investitionen und bei der Vergabe von Staatsaufträgen”, heißt es im – durchaus lesenswerten – Strategiepapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Lateinamerika.

Angela Merkel hat ihre ersten starken Eindrücke von Lateinamerika schon vor Beginn der Reise empfangen, die sie vom 13. bis zum 20. Mai auf den Subkontinent führt: Venezuelas Staatschef Hugo Chavez rückte die Bundeskanzlerin rhetorisch in die Nachbarschaft des Nationalsozialismus, als Erbin einer politischen Rechten, »die Hitler und den Faschismus unterstützt hat«.

Trotz solcher präpotenten Potentaten will Europa in Südamerika aufs Gas drücken. Denn vor allem China macht als Handelspartner Konkurrenz – durch den massenhaften Import von südamerikanischen Rohstoffen und den Export von Technik.

“Die EU, mit 20 Prozent Anteil die weltgrößte Handelsmacht, wickelt hingegen mit Lateinamerika weniger als 5 Prozent ihres gesamten Außenhandels ab”, klagt die CDU. Höchste Zeit also, den Kontinent ein zweites Mal zu entdecken.

 

„Klare Botschaft“ an Peking

Interessant: Da leitet Peking eine diplomatische Zeitenwende ein, womöglich als Erfolg gesamteuropäischen Verhandlungsgeschicks – und was macht Brüssel?

Es übt sich in geradezu buddhistischer Bescheidenheit.

Natürlich, heißt es aus der Kommission, könne die EU den Erfolg des chinesischen Einlenkens gegenüber dem Dalai Lama nicht allein für sich verbuchen; vergangene Woche hatte sich die Regierung bereit erklärt, mit einem Vertreter des geistigen Oberhaupts Tibets zu sprechen.
Ja, nun ja, aber, lässt sich die EU-Zentrale vernehmen, natürlich pflegten die großen Mitgliedsländer Deutschland, Frankreich und Großbritannien jeweils auf ihre Arten den Dialog mit China. Und jeweils auf ihre Art hätten sie zum guten Gelingen beigetragen.

Dass die EU einen gewissen Anteil am Erfolg hatte, steht allerdings außer Zweifel – und sei es nur als Postadresse.

Bereits am 16. April nämlich erhielt der derzeitige slowenische Ratspräsident Janez Jansa in Brüssel einen Brief aus Peking. Darin, so teilte er erst jetzt mit, habe ihm der chinesische Premierminister „ausdrücklich seine Bereitschaft“ signalisiert, mit einem Vertreter des Dalai Lama ins Gespräch zu kommen.

Wessen Verdienst dies nun genau war, darüber rätseln allerdings auch die Slowenen. „Wohl eher das der internationalen Gemeinschaft“, antwortet ein slowenischer Diplomat in Brüssel eher fragend als selbstbewusst. Mit der chinesischen Regierung sei immerhin vereinbart worden, die Neuigkeit bis zum Gipfeltreffen von Wen Jiaboa mit José Manuel Barroso in der vergangenen Woche geheim zu halten. Die beiden sollte sie feierlich verkünden können.

Als spontane Reaktion auf den Barroso-Besuch kam der Erfolg also nicht – auch wenn der Kommissionspräsident, wie aus seiner Umgebung zu hören ist, durchaus Klartext mit dem chinesischen Premier geredet habe.
Im Zweiergespräch mit Wen habe er betont, dass Europa China als Partner in einer Reihe von globalen Fragen brauche; beim Klimaschutz, bei der Energiesicherheit und bei der Entwicklungszusammenarbeit in Afrika. Barroso habe aber auch die „klare Botschaft“ überbracht, dass die EU mit der Lage in Tibet und der Achtung der Menschenrechte in China nicht einverstanden sei. So müssten Journalisten künftig ungehindert aus Tibet berichten können.

Barroso kam mit einer alten Haltung und mit einer neuen Mahnung. Die eingespielte Haltung der EU gegenüber China lautet: Isolation ist keine Option. Zu augenfällig sind dafür die Zukunftschancen zwischen der konsolidierten und der kommenden Wirtschaftsweltmacht, zu ausgeprägt längst die Verflechtung. China ist eben nicht nur der größte CO2-Produzent der Welt, sondern hinter den USA auch der größte Handelspartner der EU. Seine Ressourcen sichert es sich unter anderem in Regionen, in denen die Europa – wenngleich periphere – Sicherheitsinteressen ausgemacht hat, zum Beispiel im Sudan.

Die innovative Mahnung aus Brüssel indes lautete: Kritik ist kein feindlicher Akt. Barroso, berichtet ein EU-Diplomat, der die Verhandlungen in Peking begleitet hat, habe Wen gesagt, europäische Regierungen würden die ganze Zeit kritisiert. Was sei daran so schlimm? Kritik sei nicht als Beleidigung, sondern als Möglichkeit zu betrachten, die Dinge in Zukunft zu verbessern. Dieser „praktische Ansatz“ Barrosos sei von den Chinesen durchaus geschätzt worden, heißt es. Der Druck, die Olympischen Spiele zu einem Erfolg werden zu lassen, laste spürbar auf ihnen.

„Die Chinesen“, sagt ein Mitglied der EU-Reisedelegation, „wissen, dass sie in der Tibetfrage so nicht weitermachen können bis August.“

Vielleicht kam im Falle des Kommissionspräsidenten aber auch die besondere Eigenschaft der Brüsseler Meta-Diplomatie hinzu, die darin besteht, für Viele und für Keinen zugleich zu sprechen.

Der Kommissionspräsident ist der Kopf einer supranationalen Behörde. Von Natur aus hat er viel mehr Verknüpfung als Verhandlung zu bieten. Aus Sicht der Chinesen also dürfte das Kooperationspotenzial des Brüsseler Abgesandten maximal, sein Demütigungspotential minimal sein. Um Barrosos Teilnahme an der Eröffnungsfeier der Spiele beispielsweise kümmert sich die Weltöffentlichkeit kaum (er habe ohnehin nie vorgehabt, im Stadion zu sitzen, sagen seine Mitarbeiter). Die Debatte hingegen, ob Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der im Juli der EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, oder Angela Merkel und Gordon Brown nach Peking reisen oder nicht, sorgt seit Wochen für Schlagzeilen.

Was lehrt das? Dass Gäste aus Brüssel in Peking willkommene, weil nur semipolitische Handelsvertreter sind. Der EU Zugeständnisse zu machen, kommt selbst den Neo-Comms deshalb vergleichsweise günstig.