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Im Hybridmotor der Welt

 

Wie und wo findet in Brüssel eigentlich Politik statt?

Eine Suche, aus Anlaß der Europawahlen am 7. Juni

(Video-Beitrag inklusive)

Auguste Comte, der Gründervater der Soziologie, gestorben 1857, würde wahrscheinlich in Jubelgeschrei ausbrechen, wenn wir ihn durch das Verwaltungsviertel der Europäischen Union führen könnten. Mit feuchten Augen würde er, der zukunftsgläubige Funktionalist, vor dem 14-stöckigen Berlaymont-Gebäude in Brüssel verharren, dem Hauptquartier der Europäischen Kommission. „Na also!“, hören wir Comte rufen. „Es geht geht doch: Ordnung und Fortschritt! Das dritte und perfekte Gesellschaftszeitalter!“

Ach, Häuptlinge, Könige und Kaiser mussten Europa in einer ersten Entwicklungsphase verheeren, in einer zweiten dann übernahm das Volk die Souveränität – aber jetzt, endlich: die Herrschaft der Eliten! Im Brüsseler EU-Viertel regieren nicht mehr die Intriganten und Manipulatoren der „Politik“, hier lösen Sozialingenieure die Probleme eines Kontinents, mit gebührender Expertise und wissenschaftlicher Präzision. Famos!

Ja, es stimmt schon. Die EU-Kommission ist eine post-demokratische Behörde. Keiner der 27 Kommissare oder ihrer Generaldirektoren, die hier neue Regeln für das vereinte Europa erdenken und darüber wachen, dass die bestehenden eingehalten werden, ist vom Volk gewählt. Und wenn einer von ihnen geht und ein neuer kommt (so wie kürzlich eine, äh, Litauerin?) – welcher Bürger bekommt das schon mit? Hinter der futuristischen Glasfassade des Berlaymont herrscht eine überstaatliche Geschäftsführerdemokratie, ein Massenmanagement, das keinen Streit, keine Parteien, keine Helden und keine Tragik mehr kennt, sondern nur noch soziale Physik und juristische Mechanik.

Ist Brüssel, ist die EU die Endstation der „Politik“, wie wir sie kennen?

Unser Auguste Comtes jedenfalls lächelt immer noch ganz verzückt, als wir seinen Kopf sanft nach rechts drehen, über die Rue de la Loi hinweg. Dort, auf der anderen Seite des Brüsseler EU-Viertels, liegt das klotzige Marmorgebäude des Europäischen Rates.

„Da drin“, flüstern wir Comte so schonend wie möglich zu, „treffen sich regelmäßig die 27 Regierungschefs der EU. Und weißt du was? Manchmal benehmen sie sich wie die Kinder. Sie feilschen um Macht, Geld und Ruhm. Ganz im Innern gibt es sogar einen Raum, den sie ‚Beichtstuhl’ nennen. Er ist schalldicht und hat grässliche Neonröhren. In ihm werden die ganz renitenten Staatschefs einzeln ins Gebet genommen, wenn sie aus reinem nationalen Egoismus Beschlüsse blockieren.“

Der arme Comte. Wie ihm die Gesichtszüge entgleiten.

Denn im Ratsgebäude ist sie noch zuhause, die große, alte Politik. Hier übertrumpfen westeuropäische Großmächte osteuropäischen Neulinge, hier fließen Schweiß, Tränen und Millionen, hier haben keine bürokratischen Haarspalter Zutritt, sondern nur die mächtigsten Kofferträger aller Himmelsrichtungen.

Wer die Wahrheit über das politische Wesen der EU sucht, der muss sich mitten auf die Rue de la Loi stellen und den Blick wandern lassen. Hin und Her. Vom Berlaymont, der supranationalen Dimension Europas, wo gepoolte staatliche Souveränität verwaltet wird. Agrarbeihilfen. Wettbewerbsrecht. Freihandel. Und hinüber zum Rat, der intergouvernmentalen Dimension Europas, wo die Staatschefs erbittert um Konsense im Großen ringen: Militärmissionen. Klimapakete. Bankenrettungen.
Das Berlaymont ist die gebäudegewordene Folge zweier Weltkriege. Der Rat ist die Arena jener einzelstaatlichen Machtansprüche, die sie überlebt haben.

Machtanspruch der USA, Funktionsprinzip der UN

Tatsächlich changiert die EU permanent zwischen diesen beiden Regierungsformen, zwischen verwalteter Einheit und erkämpfter Einigkeit. Deswegen ist der Eindruck nicht ganz falsch, diese Union sei ein Staatenbund mit den Großmachtansprüchen der USA und dem Funktionsprinzip der UN.

Ungefähr zwischen diesen Polen bewegt sich konsequenter Weise auch die Wertschätzung ihrer „User“. Für die einen Menschen liegt Brüssel unter dem Heiligenschein ewigen kantischen Friedensversprechens. Andere verteufeln das Bürokratie-Europa als EUdSSR, als neosowjetischen Regelungskraken. Eine gesunde mittlere Meinung scheint die EU bislang ebenso selten zu finden wie – für sich selbst – einen gesunden Mittelweg.

Liegt genau darin womöglich das Geheimnis ihres unauffälligen Erfolges?

„Das Modell EU, so schwierig wie es ist, ist ein ziemlich gutes“, sagt ein deutsches Regierungsmitglied selbstbewusst auf dem Höhepunkt der Finanzkrise. „Sicher, wir sind bedächtigter, kollektiver und langsamer als andere. Aber genau deswegen sind wir eben manchmal auch überlegter und angemessener in unseren Reaktionen.“

Vielleicht, ja, könnte sich die Entdeckung der Langsamkeit noch als nachhaltiger Marktvorteil für die EU entpuppen. Denn unter den politischen Systemen dieser Welt ist sie so etwas wie der Hybridmotor. Es gibt den stillen Generator Kommission – und die geregelte Brennstoffzufuhr aus den schwungmächtigen Hauptstädten. Europa funktioniert durch ständige Selbstkorrektur.

Für den Augenblick allerdings bleibt genau diese Doppelnatur das schwerste PR-Problem der EU. Brüssel riecht mehr nach Maschinenraum als nach Steuerstand. Das wittern viele Polit-Akteure, die in die Europastadt fliegen. Oder hier lieber gar nicht erst antanzen.

Mit Europathemen muss die Öffentlichkeit gleichsam zwangsernährt werden

Es ist ein warmer Frühsommerabend. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, Verbindungsbüro Brüssel, lädt zum Empfang. Der Vorsitzende des DGB, Michael Sommer, soll sprechen. Eine ansehnliche Zahl deutscher Zeitungsjournalisten rücken an, sie sind gespannt, immerhin hatte Sommer kurz nach seiner Wahl angekündigt, der europäischen Gewerkschaftsarbeit „Priorität“ einräumen zu wollen. Doch Sommer erscheint nicht.

Stattdessen tritt ein der Medienwelt unbekanntes DGB-Vorstandsmitglied ans Mikrofon und entschuldigt den Chef. Sommer sei wegen „dringender kurzfristiger Verpflichtungen“ leider verhindert. Am selben Abend fängt eine Kamera der ARD den Gewerkschaftschef gutgelaunt auf dem Sommerfest der SPD in Berlin ein. Das Brüsseler Journalistencorps ist gegen solche Enttäuschungen längst abgehärtet. Man weiß ja: Mit Europathemen muss die Öffentlichkeit gleichsam zwangsernährt werden. Denn ganz egal, wie wichtig es ist, was rund um die Rue de la Loi entschieden wird – es ist immer wahnsinnig komplex.

Was kann, was darf, das Europaparlament?

Im Foyer des Europäischen Parlaments wird das Unüberschaubare anschaulich. Endlose Rolltreppenbahnen, Aufzugschächten und Abzweigungen verwirren den Besucher, Assistenten sortieren Dokumente in riesige Regalablagen. Die Abgeordneten-Büros tragen Bezeichnungen wie ASP 7G 351. Sie stehen für Gebäudeteil, Geschoss und Zimmernummer. Deswegen treffen sich Parlamentarier und Journalisten lieber in der „Mickey-Mouse-Bar“, unverfehlbar gelegen neben dem gewaltigen Plenarsaal für die 785 Abgeordneten. In einem der grellbunten Designersessel sitzt Alexander Alvaro, 34, deutsches Mitglied der europäischen Fraktion der Liberalen. Fast verzweifelt klopft er auf einen Stapel Papiere herum, die vor ihm auf dem Kaffeetisch liegen. Es geht um Vorschläge, der die EU-Justizkommissar zur biometrischen Grenzkontrolle gemacht hat. Oder?

„Das ist ja erst einmal nur eine Mitteilung, das hat noch keinen legislativen Charakter“, sagt Alvaro und blättert durch die Unterlagen. Und was macht er jetzt damit, er als Abgeordneter? Alvaro zuckt mit den Schultern und muss bedauern. Außer es zur Kenntnis zur nehmen? „Erstmal nichts.“
Der junge Jurist ist ein kenntnisreicher und engagierter Kämpfer gegen zu viel Datensammelei in Europa. Aber was kann er tatsächlich ausrichten, wenn, beispielsweise, der Europäische Rat beschließt, künftig aller Reisepässe mit Gesichtsfeldkoordinaten und Fingerabdrücken zu versehen?

Das Europaparlament kann solche Gesetzgebung prinzipiell nicht aufhalten, es kann nur seine Meinung zu ihr abgeben und Änderungen anregen. Und als das Plenum schließlich über den Biometriepass abzustimmen hatte, da stimmte es mit 471 zu 118 Stimmen zu. Kein Wunder, dass einige Angeordnete sich in Resolutionitis ergehen, im Beschließen und Schlussfolgern, im Entschließen und Anregen. „Ich frage mich schon manchmal, wofür wir hier eigentlich unsere Arbeitskraft einsetzen“, erregt sich ein ungarischer Abgeordneter, „da schreibt man monatelang an Berichten, und die Kommission schmeist sie anschließend in den Mülleimer.“

Zu beachtlichem Nutzen kann das EP derweil sein Gewicht in die Außenpolitik einbringen – wie der Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff in einem Video-Interview erklärt.

„EU heißt Konsens, nicht Krawall“

Im Brüsseler Plenarsaal lohnt es sich schlicht nicht, Missklänge zu erzeugen. Schließlich ist das Europaparlament nur dann stark, wenn es gegenüber der Kommission geschlossen auftritt. „EU heißt Konsens, nicht Krawall“, sagt der scheidende Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering. Der CDU-Mann ist der große Zampano der Harmonie. Seine Reden versprühen konsequenterweise so viel Esprit wie eine Pommesbude. Wie, bitteschön, soll bei all dieser zwanghaften Euro-Wellness Drama und, in der Folge, öffentliches Interesse am Brüsseler Geschehen entstehen?

Gar nicht, sagt einer, der eigentlich genau dafür sorgen sollte. Es ist Abend am Place Luxembourg. Die untergehende Sonne spiegelt sich in der gewaltigen Front des Europa-Parlaments. Von hier aus wirkt das ganze klobige EU-Viertel wie ein gigantisches Raumschiff, das, von Osten anfliegend, halb Brüssel unter sich begraben und erst kurz vorm pittoresken „Place Lux“ knirschend zum Stehen gekommen ist.
Es ist der After-work-Treff der Generation Erasmus. Abgeordnete, Lobbyisten und Pressemenschen stehen in Trauben vor den Bierlokalen. Enthusiasmierte Praktikantinnen in kurzen Röcken treffen junge Männer mit gelockerten Krawatten, um über Regionalförderung oder die CO2-Ziele zu reden. Hier pflanzt sich Europa fort.

„Die EU wird immer ein Raumschiff bleiben. Sie muss abgehoben sein.“ Axel Heyer, Pressesprecher der Liberalen-Fraktion, macht seiner Kundschaft keine falschen Hoffnungen. „Ich meine, immerhin hat sie die Aufsicht über 27 Staaten auszuüben. Das menschelt nicht. Allerdings muss das Raumschiff besuchbar bleiben. Und ihr Journalisten müsst den Funkverkehr abhören können.“

Im Saal „Ambassadeur“ öffnet sich die Kanzlerin

Das dürfen die Journalisten in der Tat. Sie hören sogar ziemlich viel Intimes von der Kommandobrücke. Leider darf das meiste davon nicht in die Öffentlichkeit gelangen, denn die Journalisten erfahren es bei so genannten „Kamingesprächen“. Nach jedem Treffen des Europäischen Rates laden Kanzlerin und Außenminister die deutschen Europa-Korrespondenten ins edle Hotel Amigo ein, gleich hinter dem mittelalterlichen Grande Place von Brüssel. Es ist meist nach Mitternacht, wenn die Staatschefs ihr gemeinsames Abendessen beendet haben und Merkel eintrifft. Die Journalisten folgen ihr gespannt durchs Foyer, denn sie wissen, sobald sich die Flügeltüren des Saales „Ambassadeur“ schließen, öffnet sich die Kanzlerin.

Was sie dann sagt, ist wie gesagt Tabu. Nicht aber, was sie mit dem sagt, was sie sagt. Mit dem, was sie sagt, sagt sie zum Beispiel, dass die EU oftmals ähnlich simpel funktioniert wie ein Brettspiel. Dass die Auseinadersetzungen im Rat so spannend sein können wie ein WM-Endspiel. Dass manchmal schlicht die Charaktere und Launen von Regierungschefs, stammen sie nun aus Rom, Paris oder Warschau, den Ausschlag für wichtige Entscheidungen geben können. Das Vokabular der Kanzlerin steckt an solchen Abenden voll mit Kardinaltugenden und -sünden, mit Vornamen europäischer Staatschefs und einfachen, deutlichen Worten.

Wenn sich die Türen des Kaminzimmers allerdings wieder öffnen und Merkel in die Fernsehscheinwerfer tritt, erstarrt sie sofort in gewohnte europäischer Konsenssklerose. Man sei, man habe, wichtige Schritte, guten Fortschritt, in guter Atmosphäre, unter Einbeziehung aller, wie Sie wissen, vielen Dank.

Es ist spät geworden. Die Polizeibarrieren an der Rue de la Loi sind abgebaut, die Staatslimousinen und Ü-Wagen vorm Ratsgebäude verschwunden. Nur drüben, im Berlaymont, brennt noch Licht.