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Europa buckelt

 

Dass Europa so schnell einknicken würde, hätte man dann doch nicht gedacht. Nun wissen wir: Die Prinzipien der Europäischen Union gegenüber Russland haben eine Verfallszeit von genau 71 Tagen. Am vergangenen Monat beschlossen die Außenminister der EU in Brüssel, die Verhandlungen über ein neues Partnerschaftsabkommen mit Moskau wieder aufzunehmen.

Noch am 1. September hatten die Staatschefs Europas dafür eine klare Bedingung festgelegt: Russlands müsse seine Truppen in Georgien auf die Positionen vor Ausbruch der Feindseligkeiten am 7. August zurückverlegen.

Diese Bedingung hat Russland nicht nur nicht erfüllt. Die russische Armee hat ihre Stellungen in Abchasien und Südossetien seither drastisch ausgebaut. Die wenigen Hundert „Friedenssoldaten“ in den Provinzen sollen auf letztlich 7600 Mann aufgestockt werden. Zudem ziehen russische und ossetische Truppen laut Presseberichten immer wieder überraschend neue Grenzlinien in „Kerngeorgien“.

Ebenfalls noch im September wollten die EU-Außenminister ihr weiteres Vorgehen gegenüber Russland von der Antwort auf die Frage abhängig machen, wer den Krieg in Georgien eigentlich verschuldet hatte. Erst jetzt allerdings setzt die EU eine Kommission zur Untersuchung der Kriegsursachen ein; sie soll von der schweizerischen Diplomatin Heidi Tagliavini geleitet werden. Die Ergebnisse ihrer Arbeit dürften leider eher für Historiker als für Politiker interessant werden.

Einzig Litauen protestierte in Brüssel gegen die Entscheidung der übrigen EU-Länder. In Europa, sagte der Vertreter eines südosteuropäischen Landes, herrschten im wesentlichen drei Haltungen gegenüber Russland vor: Angst (in den ehemaligen Ostblockstaaten), Ausgleich (in Großbritannien und Italien) und Geschäftsinteressen (in Deutschland und Frankreich). „Das in Einklang zu bringen, ist natürlich schwierig“, so der Diplomat. Durchgesetzt haben sich am Ende die Großen.

Sicher, Europa braucht Russland, vor allem im Winter. Die EU bezieht über 42 Prozent ihrer Erdgas-Importe aus Russland, außerdem ein Drittel seiner Öl- und ein Viertel seiner Kohle-Importe. Die Tendenz beim Gas ist stark steigend, die EU-Kommission rechnet bis 2020 mit einem Anteil von 73 aus Russland.

Aber Russland braucht auch Europa. Zwei Drittel seiner Gasexporte strömen in die EU – ohne diesen Großkunden würde Moskaus Staatshaushalt in Nöte geraten.

Angesichts dieser Zahlen hat längst ein Röhren-Rennen begonnen. Die EU plant, eine Pipeline am Bauch von Russland vorbei aus dem Kaspischen Becken über Aserbaidschan, Georgien und die Türkei bis nach Österreich zu verlegen. Russlands Gasprom-Planer richtet den Blick derweil nach Osten, auf den potenziellen Großabnehmer China.

Bis diesen Alternativen gelegt sind, können allerdings noch gut zehn Jahre vergehen. Bis dahin wäre Europa gut beraten, die Alternativen zur russischen Gasabhängigkeit zu nutzen, die es heute schon gäbe: Strom und Heizwärme sparen, regenerative Energien fördern, nationale Energiekartelle zerschlagen und – jedenfalls bis auf Weiteres – Atomkraftwerke am Netz lassen. Aber das wären zum Teil eben höchst unpopuläre und zähe Vorhaben.

Am Freitag wird der EU-Ratspräsident in Nizza dem russischen Präsidenten Dimitri Medwedew in Nizza treffen. Bei dem Gipfel wird es vor allem darum gehen, die Russen zur Garantien über künftige Gaslieferungen in Europa zu bewegen. Gut, wenn der Franzose aus diesem Anlass ein Auge zudrücken kann gegenüber jenen Völkerrechtsgrundsätzen, für die er noch im August leidenschaftlich eingetreten ist.