Lesezeichen
 

Mit jedem reden?

Genau zehn Jahre ist es her, dass sich Europas alte Terroristen domestizieren ließen. Im Karfreitagsabkommen von Belfast stimmten im April 1998 ehemalige Kämpfer der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) zu, künftig die Regierungsgewalt mit den Protestanten zu teilen.

Zustande gebracht hatte die Übereinkunft vor allem David Trimble, damals Regierungschef der nordirischen Provinz.

Am Rande der deutsch-britischen Königswinter-Konferenz in Oxford gibt es Gelegenheit, den Friedensnobelpreisträger zu fragen: Was lässt sich aus den damaligen Verhandlungen für heute lernen? Sollte der Westen auch mit den neuen Terroristen einen Dialog wagen? Mit Hamas? Mit Hisbollah? Mit jedem Gegner, sei er auch noch so radikal?

Trimble hat einen klaren Rat. „Wir sollten unterscheiden zwischen taktischen Kommunikationskanälen und ernsthaften politischen Verhandlungen.“ Subpolitische Kontakte könnten immerhin helfen, Blutvergießen zu verhindern. „Aber um einen echten Dialog in Gang zu bringen, muss die andere Seite an einer Einigung interessiert sein statt an einem Sieg.“

Zum falschen Zeitpunkt mit den falschen Leuten zu reden, warnt Trimble, könne „verheerende Folgen“ haben. Während der Verhandlungen mit der IRA, berichtet er, sei deshalb eine Art inoffizielles rotes Telefon installiert gewesen.

„Die Nordirlandverwaltung hat mit der IRA-Führung bestimmte Codewörter abgesprochen, die für Bombendrohungen benutzt werden konnten. Auf diese Art wussten wir wenigstens, wann wir einen Drohanruf ernst nehmen mussten.“

 

Die unerträgliche Leichtigkeit des EU-Parlamentarierdaseins

Man kann Elmar Broks Vorschlag zum Olympiastreit abwegig finden, aber er ist wenigstens handfest. Der Europaabgeordnete und außenpolitische Koordinator der Europäischen Volkspartei (EVP) fordert angesichts der “besorgniserregenden Situation in Tibet und angrenzenden chinesischen Provinzen”, die Olympischen Spiele in Zukunft nur noch in ihrem Mutterland Griechenland abzuhalten.

Seit 1936, so erinnert der CDU-Mann Brok, würden die Spiele immer wieder zu propagandistischen Zwecken missbraucht. “Damit wäre dann ein für allemal Schluss.”

Über Broks Initiative hinaus enthielt die heutige Debatte im Europäischen Parlament über die Lage in Tibet zwar eine Menge weiteren Klartext. Doch mit welcher Wirkung?

„Es ist eine Tatsache, dass China beim Minderheitenschutz und bei den Menschenrechten internationalen Standards nicht genügt”, sagte der EVP-(CDU)-Abgeordnete Thomas Mann. “Daran hat leider auch die Vergabe der Olympischen Spiele nach Peking, anders als ursprünglich beabsichtigt, nichts geändert.“

Was in Tibet geschehe, sei “kultureller Genozid”, so Mann.

„Wir haben deshalb die EU-Kommission in einem ersten Schritt ersucht, eine internationale Beobachtermission nach Tibet zu entsenden. Für den Fall, dass die Zentralregierung in Peking nicht nachgibt, sollten alle weiteren Möglichkeiten geprüft werden, angefangen von Protesten im Rahmen der Olympiade bis hin zu politischen und wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen als letztem Mittel.“

Die Grünen schlugen vor, darüber nachzudenken, dass an der Eröffnungsfeier der Spiele weder europäische Staatschefs noch Athleten oder Journalisten teilnehmen sollten.
Die Europäische Union sollte gar einen Boykott der Olympischen Spiele nicht ausschließen, sagt der SPD-Politiker Jo Leinen.

Das mag ja alles aufrechte Empörung sein. Aber wie kommt es bloß, dass diese spitzen Töne aus Brüssel zugleich etwas wohlfeil wirken? Dass die Politiker hier auf viel entschlossenere Weise nach Boykott und Sanktionen rufen als ihre Parteigenossen in den nationalen Parlamenten oder Regierungen?

Die Antwort ist ein bisschen traurig: Es liegt wahrscheinlich auch daran, dass die Europaparlamentarier wissen, dass ihre Forderungen ohnehin niemand richtig ernst nimmt. Das Europäische Parlament ist nicht in der Lage, Druck auf irgendeine Regierung auszuüben, denn keine Regierung ist von seiner Unterstützung abhängig.

Sicher, die Europaparlamentarier können an die EU-Kommission appellieren und auf ihren Kurs Einfluss nehmen (was viele EP-Abgeordnete mit großem Sachverstand tun). Aber die Kommission selbst ist eine Behörde, deren Betrieb von Beschlüssen der europäischen Regierungen vorgezeichnet wird.

So verwundert es kaum, wenn dort, eine Etage höher in der europäischen Verantwortung, der Kommissionspräsident José Manuel Barroso schon viel mildere Töne anstimmt. Die Olympischen Spiele seien keine politische Veranstaltung, sagte er, deshalb unterstütze er auch die Idee eines Boykotts nicht. (Eine gewagte logische Trennung, nebenbei bemerkt. Denn so betrachtet, dürften die Spiele auch dann stattfinden, wenn Chinas Soldaten in Tibet ein zweites Tiananmen-Massaker anrichten würden.)

Das Europäische Parlament hat es so leicht, als moralisches Schwergewicht aufzutreten, weil es politisch de facto machtlos ist. Es ist die Soft Power der Soft Power, und dieses personifizierte Gewissen Europas ist deshalb so rein, weil es sich mit Taten gar nicht erst belasten kann.

Das nimmt der Erregung der Europa-Politiker nicht die Ehrlichkeit. Aber unehrlich ist es auch nicht zu sagen, dass der Wortdampf aus Brüssel doch sehr an ein Parfüm erinnert. Schön ist er, aber ätherisch.

 

Biedermann oder Brandstifter?

In Brüssel beginnt das Rennen um den neuen Chefposten der EU. Deutschland und Frankreich setzen auf zwei sehr unterschiedliche Kandidaten: Tony Blair und Jean-Claude Juncker

Der historische Zufall könnte es wollen, dass im Januar 2009 gleich zwei neue Führer der freien Welt in ihren Ämtern vereidigt werden. Ein Präsident in Washington, Amerika. Und einer in Brüssel, Europa. Falls der Vertrag von Lissabon (ehemals „Europäische Verfassung“) in allen 27 Mitgliedstaaten pünktlich abgesegnet wird, bekommt die EU zu eben jenem Datum ihre lang erwarteten, neuen Superposten:

Einen Präsidenten des Rates und einen Außenminister (der freilich nicht so heißen darf). Das Präsidentenamt wird der mächtigste Job sein, den die EU je zu vergeben hatte. Sein Inhaber wird nicht mehr bloß – wie bisher – für sechs Monate den Zeremonienmeister für die Treffen der EU-Regierungen geben. Er (oder sie) soll stattdessen zweieinhalb Jahre lang die Tagesordnung der Union bestimmen und den Kontinent nach Außen vertreten.

Und? Wo bleiben die Vorwahlen? Richtig vermutet. Wer am Ende auf dem europäischen Chefsessel Platz nimmt, wird nicht öffentlich ausgehandelt, sondern hinter den Kulissen der Regierungszentralen. Zählen lassen sich immerhin schon so manche Ausschläge in Europas Hauptstädten, vor allem in Paris und Berlin. Sie deuten – neben anderen Namen – vor allem auf zwei Kandidaten hin. Deren Profile könnten allerdings unversöhnlicher kaum sein. Sie heißen Tony Blair und Jean-Claude Juncker.

Als entschlossener Verfechter des ehemaligen britischen Premierministers gilt Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy. Erst lud er Blair auf den Parteikongress seiner UMP ein, wo der Brite Mitte Januar eine programmatische Europarede hielt. Und wie zum Schulterklopfen bemerkte Sarkozy wenig später: „Wenn wir den Präsidenten der Europäischen Union ernennen, sollten wir die Hürden hoch legen und uns nicht nach den kleinsten gemeinsamen Nenner umsehen.“

Genau den aber hat offenbar Angela Merkel im Sinn. Das Kanzleramt lässt diskret durchblicken, Deutschlands Wunschkandidat für das Spitzenamt sei der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker. Von Sarkozys Vorstoß, so ließen Merkels Getreue durchsickern, sei die Kanzlerin „überrascht“ gewesen.

Mr. Maastricht gegen Mr. Golfkrieg – ist da die Wahl nicht klar? Nein

Ginge es allein um historische Verdienste für Europa, die Wahl dürfte wohl klar sein zwischen Mr. Maastricht und Mr. Golfkrieg, zwischen Mr. Euro und Mr. Brüsselrabatt. Aber: Geht es bei dieser Wahl um Kontinuität – oder nicht eher um Aufbruch? Geht es darum, den Kandidaten mit dem Posten belohnen? Oder nicht vielmehr darum, den Posten mit dem Kandidaten aufzuwerten? Historie und Zuschnitt des Präsidenten-Amtes sprechen eher für Letzteres. Ein Hauptziel des Lissabon-Vertrages soll es, sein Europa mehr Gesicht, Stimme und Gewicht in der Welt zu verschaffen. Gemessen an diesem Zweck dürfte die bisherige Binnenbilanz des Kandidaten nicht unbedingt ausschlaggebend sein. Zwar ist Juncker schon heute so schwer mit EU-Orden aller Art behängt, dass man ihn getrost zum Ehrenpräsidenten ernennen könnte. Doch in der Außenwirkung bleibt er weit hinter dem Weltpolitiker Blair zurück.

Die Stimmung im Bauch von Brüssel indes reicht von latenter bis aggressiver Anglophobie. Auf den Empfängen der EU-Hauptstadt ist derzeit kaum ein Politiker oder Funktionär zu treffen, der nicht vor Ekel seinen Rotwein verschütten würde, sobald er „Blair“ hört. Ein Lügner und Kriegstreiber an der Spitze der Europäischen Union? Ein dieser unsolidarischen Briten ausgerechnet? Das Europäische Parlament schaudert’s quer durch die Fraktionsbänke. „Blair hat sich in Wort und Tat gegen eine Vertiefung der EU engagiert“, richtet der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe Werner Langen. „Ihm fehlt schlicht und einfach die europäische Integrationskraft für diese neue EU-Führungsposition.“

Die geballte Abscheu gegen Tony, den Ami-Pudel, lässt sich auf der Internetnetseite stopblair.eu nachlesen, wo „europäische Bürger jeglicher Herkunft“ zum „Widerstand“ gegen den Ex-Premier aufrufen. Er sei ein „Komplize“ bei George Bushs menschenverachtender Terroristenjagd; er erkenne die Grundrechtecharta für Europa nicht an; er blockiere die gemeinsame Sozial-, Steuer und Außenpolitik der Union. Großbritannien sei weder Teil des Euro- noch des Schengenraums. All dies stehe in „krassen Widerspruch zu den Werten des europäischen Projekts“. Bis Mitte März hatten über 25 000 Personen die Online-„Petition“ gegen den Briten unterzeichnet.

Ein Gutteil dieser Empörung dürfte freilich aus Enttäuschung geboren sein. Wie kein anderer Premier seit Churchill war Blair 1997 mit dem Versprechen angetreten, die Insel fester an Europa zu vertäuen und der Währungsunion beizutreten. Daraus ist nichts geworden, Großbritannien blieb bei seinen „opt outs“, seinen Vorbehalten gegenüber tieferer EU-Integration.

Juncker mag in der EU ein Schwergewicht sein. In der Welt ist er ein Nobody

Jean Claude-Junker dagegen verkörpert wie kaum ein anderer den ungebrochenen Anspruch vom einigen, friedensstiftenden Staatenbund. Der 54-jährige polyglotte Christdemokrat ist der am längsten amtierende Regierungschef der Europäischen Union, er wirkte federführend am Maastricht-Vertrag mit, war Chef der Euro-Gruppe und lenkte schon zwei EU-Ratspräsidentschaften. Die „europäische Methode“ nennt er „den politischen Willen zu Kompromisslösungen.“ Seiner Chancen auf das Spitzenamt scheint sich Juncker schon ziemlich sicher zu sein. «Ich kann mich der Zärtlichkeiten zur Zeit kaum erwehren», sagte er vergangene Woche in Brüssel. Er schließe nicht aus, den Posten zu übernehmen – vorausgesetzt, er könne dann mehr sein als ein „Grüßaugust“.
Aber bei aller innerkontinentalen Moderationskraft verkörpert Juncker eben auch die entrückte Selbstbezogenheit des Systems Brüssel. Im europäischen Universum mag der Luxemburger ein Schwergewicht sein. In der Welt ist er ein Nobody.

Zudem hängt Juncker mit mindestens einer Hirnhälfte noch immer der Europa-Idee des 20. Jahrhunderts an. Sein Wir-Gefühl schöpft sich aus der Vergangenheit, aus seiner Kindheit in der Nachkriegszeit, an die er oft erinnert. „Manchmal denke ich mir, um den Menschen vorzuführen, was Europa ist, müsste man drei Monate lang wieder Grenzen, Grenzpfähle, Barrieren in Europa errichten, damit die Menschen merken, was Fortschritt ist“, sagte er in einer Grundsatzrede Ende 2006. Die Friedensaufgabe Europas sei „noch nicht erledigt“, glaubt er. Wohl auch deswegen unternahm Juncker 2003, im Schatten des Irakkriegs, den Versuch, zusammen mit Belgien, Deutschland und Frankreich als Gegengewicht zur angelsächsisch dominierten Nato ein eigenes europäisches Militäroberkommando in Brüssel zu installieren. Viel mehr als Mini-Planungszelle ging aus diesem „Pralinengipfel“ nicht hervor.

Mittlerweile zeigt sich Juncker zögerlich, Europa nach der Verhedderung über den Verfassungsvertrag schon bald wieder mit großen Ideen zu strapazieren. Er hält eine „Reflexionsphase“ für angemessen. Und bitte, den Menschen nicht immer Angst vor der Globalisierung machen! Europa müsse sich viel stärker um das Soziale kümmern. „Es muss wieder heimeliger werden auf diesem Kontinent“, diktierte er Handelsblatt-Reportern Ende 2005 in den Block. „Menschen brauchen Sicherheit.“

Europa muss künftig selbstbewusster auftreten

Aber ist Zurückhaltung die passende Tugend für das Europa des 21. Jahrhunderts? Immerhin muss sich Brüssel wie vielleicht nie zuvor als Krisenmanager bewähren. Zu den Herausforderungen zählen Instabilität an Europas Rändern, eine schwächelnden amerikanischen Supermacht, aufstrebende Mächte in Asien, eine Mittelmeerperipherie, die nur zu gerne an das Reich des Reichtums andocken würde, und – siehe die deutsch-französische Kontroverse um die Mittelmeerunion – ungelöste Führungsfragen in den eigenen Reihen. Hinzu kommt ein Russland, das zunehmend wie eine Imperialmacht des 19. Jahrhunderts auftritt und mit dem sich Konflikte über den Energiekorridor des Kaukasus entzünden könnten.

Nach dem Polonium-Mord an einem Kreml-Kritiker in London und der Schließung der British Council-Büros in Russland ist das Verhältnis zwischen Großbritannien und Moskau zum Zerreißen gespannt.
Die „strategische Partnerschaft“, die Deutschland mit dem Energieriesen so gerne pflegen möchte, wäre unter einem EU-Präsidenten Blair vermutlich nicht mehr ganz so störungsfrei zu haben.

Der Brite versprühte den Ehrgeiz eines Wettsprinters, als er auf Sarkozys Parteikongress – auf Französisch übrigens – seine Europavisionen ausbreitete. „Europa ist keine Frage von Links oder Rechts, sondern eine Frage von Zukunft oder Vergangenheit, von Stärke oder Schwäche“, sagt der Labour-Mann. „Es geht um Heute versus Gestern. Weniger um Politik als um eine Geisteshaltung, um Offenheit statt Geschlossenheit.“

Bei den großen Zukunftsherausforderungen scheinen sich Blair und Juncker zwar einig. Terrorismus, Einwanderungssteuerung, Klimaschutz, Energie und Bildung seien die Megathema für das kommende Jahrzehnt. Aber während sich Juncker eher als Innenarchitekt für das „Haus“ Europa versteht, tritt Blair als weltpolitischer Landschaftsgärtner auf. Das bringt dem Briten Imperialismusverdacht und Anerkennung zugleich ein. So hat ihn der Irakkriegsmakel am Ende doch nicht dafür disqualifiziert, vom Nahost-Quartett aus EU, USA, Russland und UN als Gesandter für den Nahen Osten eingesetzt zu werden. Zudem: Blair hat in Europa selbst einen Friedensschluss vermittelt, dessen Nachhaltigkeit viele für unmöglich gehalten hätten. Im April jährt sich zum zehnten Mal das Karfreitagsabkommen, das den zähen Bürgerkrieg in Nordirland beendete. Neben Bill Clinton wird man in Belfast dafür vor allem den Mann aus der Downing Street feiern.

Juncker der Biedermeierkandidat gegen Blair den Großmachtpolitiker? So einfach ist es nicht.

Auch Juncker etwa neigt in der Frage der Gasversorgung durchaus zu Klartext: „Herr Putin sitzt alleine da, und dann kommen da 27 Europäer und erklären ihm, wie die europäische Energiepolitik geregelt werden muss. Das ist nicht sehr glaubwürdig“, befand der Luxemburger unlängst auf einem Podium der Bertelsmann-Stiftung. „In Fragen europäischer Energiepolitik müssen wir eine Kampfformation bilden, anstatt wie ein aufgeregter Hühnerhaufen auf Russland zuzustürmen.“

Zwischen Brüssel und Moskau könnte sich imperiale Rivalität entwickeln

Man könnte allerdings noch weiter gehen. Zwischen Brüssel und Moskau droht sich allmählich eine imperiale Systemkonkurrenz zu entwickeln. Während sich Europa durch Überzeugung ausbreitet, setzt Russland auf Einschüchterung und Unterwerfung. Wie lange dies in den rohstoffreichen „Pufferzonen“ Ukraine und Kaukasus noch gut geht, weiß derzeit niemand. Besäße Juncker die Entschlossenheit, diese Scharnierstaaten an Europa zu binden, sollten sie dies in der näheren Zukunft erflehen? Oder würde er sich ins Schneckenhaus Europa zurückziehen und die Anwärter im Osten auf später, auf irgendwann vertrösten? Tony Blair fiele es auf Grundlage einer britisch-nüchternen Vorstellung von einer großeuropäischen Freihandelszone womöglich leichter, eine solche Erweiterungsentscheidung zu treffen.

Doch die vorerst spannendste Frage bleibt eine taktische. Wie viel offenen Streit wollen sich Merkel und Sarkozy zugunsten ihrer jeweiligen Protegés antun – vor allem jetzt, da der Streit um die Mittelmeerunion gerade erst beilegt ist? Wahrscheinlich ist, dass die Präsidentenfrage unter Aufwendung erheblicher diplomatisch-kaschierender Energien als Postenpaket verhandelt wird, also zusammen mit der Besetzung des Außenbeauftragten und der Kommissionspräsidenten.

Kompromisskandidaten aus Irland und Belgien

Schon werden statt Junckers und Blairs eine Reihe von Kompromisskandidaten gehandelt. Guy Verhofstadt zum Beispiel, der ehemalige belgische Premier, oder Bertie Ahern, Regierungschef von Irland. Dem Liberalen Verhofstadt schwebt eine tiefere wirtschaftliche Integration vor. In seinem Manifest „Die Vereinigten Staaten von Europa“ plädiert er für ein Europa der sozialen Entschlackung und harmonisierten Steuern.
Aus deutscher Sicht wäre er aber wohl vor allem ein bequemer, weil unaufgeregter Prozesssteuerer – denn bei allem Verhandlungsgeschick ist der Belgier mit den politischen Pferdestärken eines Ministerialreferenten gesegnet.

Und Ahern? Der Ire gilt als umgänglich in Brüssel, und beliebt vor allem bei den Polen. Sein Land würde eine Kandidatur Ahern „wohlwollend“ betrachten, ließ der polnische Regierungschef Donald Tusk unlängst wissen. Ahern ist allerdings kaum beleidigt, wenn man ihn als einen Provinzpolitiker bezeichnet. Er selbst nennt sich einen „homebird“, einen Stubenhocker.

„Bertie“, sagt der EU- Korrespondent einer großen irischen Tageszeitung, „mag Europa. Aber in Europa mag am liebsten Irland. In Irland mag er am liebsten Dublin. Und in Dublin mag er am liebsten seinen Pub.“
In Brüssel, mit anderen Worten, würde Ahern vermutlich so spielführend auftreten wie ein Hobbit beim Basketball.

Immerhin, einen Vorteil hätte seine Kandidatur: Sie würde mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass sich Iren geschmeichelt führen würden. Und auf sie kommt es an im Sommer. Die Iren sind das einzige Volk, das per Referendum über den Lissabon-Vertrag abstimmen muss. Und sagen sie Nein, dann bekommt Europa im nächsten Januar – überhaupt keinen Präsidenten.

 

Europas neue Superposten. Ein Brevier

Noch ist der Lissabon-Vertrag (ehemals „Europäische Verfassung“) nicht in Kraft getreten, da treiben die Spekulationen um die Besetzung der beiden neuen Posten in Brüssel bunte Blüten. Die bisher am ernsthaftesten gehandelten Kandidaten für das Amt des Europäischen Präsidenten sind Tony Blair und Jean-Claude Juncker. Die Präsidentschaft des Rates (der Versammlung aller 27 EU-Regierungen) soll künftig nicht mehr per halbjährlicher Rotation an einen der Regierungschefs fallen. Vielmehr soll der Präsident soll zweieinhalb Jahre lang dem politischen Leitgremium der EU vorsitzen.

Er soll laut Lissabon-Vertrag dem Rat „Impulse“ geben, für „Kontinuität“ sorgen und „auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ wahrnehmen.

Als Kandidaten in Spiel gebracht werden vom Brüsseler Flurfunk neben Blair und Juncker, der irische Ministerpräsident Bertie Ahern, der dänische Regierungschef Anders Fogh Rasmussen, der belgische Ex-Premier Guy Verhofstadt, die ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzáles und José Maria Aznar sowie der ehemalige polnische Präsident Aleksander Kwaśniewski.

Legalistisch betrachtet wird der neue Dauerpräsident allerdings nicht viel mehr Durchsetzungskraft besitzen als die bisherigen Ratsvorsitzenden. Denn wegen des polnischen Einspruchs gegen Mehrheitsbeschlüsse im Rat wird bis 2014 das Veto nur eines Mitgliedslands ausreichen, um jede noch so gut einfädelte Politik des EU-Präsidenten zu blockieren.

Zugleich sollen die Posten des bisherigen Außenbeauftragten (Javier Solana) und des Außenkommissars (Benita Ferrero-Waldner) zu einem „Hohen Repräsentanten für Außenpolitik“ verschmolzen werden, sprich zu einem europäischen Außenminister. Er soll zugleich Vizepräsident der Kommission sein. Er wird für seine Aufgaben vom Rat mandatiert werden und einen eigenen diplomatischen Dienst erhalten. Dieser Dienst soll sich aus dem Ratssekretäriat, der Kommission und Abgesandten der Mitgliedsstaaten zusammensetzen.
Momentan gilt als wahrscheinlich, dass Javier Solana das Amt über den 1. Januar 2009 hinaus bis zum 31. Oktober führen wird. Denn zum 1. November 2009 wird die Kommission neu zusammengesetzt.

Neben dem Spanier sind als mögliche Kandidaten für das Chefdiplomaten-Amt unter anderem eine Reihe von derzeit amtierenden Außenministern im Gespräch: Carl Bildt (Schweden), Bernhard Kouchner (Frankreich), Massimo D’Alema (Italien) und Miguel Moratinos (Spanien). Als weibliche Kandidaten werden die irische Präsidenten Mary Robinson und die finnische Staatschefin Tarja Halonen gehandelt. Joschka Fischer, der recht früh ins Gespräch gebracht worden war, hat mittlerweile klar abgesagt; er stehe für politische Ämter nicht mehr zu Verfügung.

Indes ist noch völlig unklar, wie sich die Kompetenzen des neuen Präsidenten von denen des neuen Außenministers abgrenzen lassen werden. Potentiell greifen die Ämter stark ins Revier des jeweils anderen ein. Einigermaßen klar ist hingegen, dass in Zukunft der Posten des Kommissionspräsidenten (derzeit Manuel Barroso) viel von seinem repräsentativen Charakter einbüßen dürfte. Angesichts der Machtfülle der beiden neuen Ämter wird er zurechtgestutzt auf den Leitungssessel einer – wenngleich mit Politikern bestückten – Verwaltungsbehörde.

Bei der Zusammenstellung der neuen Ämter wird der europäische Parteienproporz zu wahren sein. Wird der Präsident ein Sozialist, müsste der Außenbeauftragte eher ein Konservativer werden, beziehungsweise vice versa. Eine „Paketlösung“ wird allerdings dadurch erschwert, dass ein neuer Kommissionspräsident erst nach den Wahlen zum nächsten Europaparlament bestimmt werden kann. Und die finden erst im Juni 2009 statt – ein halbes Jahr, nachdem das Fell von Lissabon verteilt sein muss.

 

Die Bundeswehr – eine Generalsabrechnung

bwgutachten.JPG

Der Bericht löste einen Donnerschlag im Verteidigungsministerium aus. Gleich nachdem der Generalinspekteur der Bundeswehr das als Verschlusssache eingestufte Papier auf den Tisch bekommen hatte, leitete er es an den Führungsstab von Minister Franz Josef Jung sowie an die Chefs der Luftwaffe, des Heeres und der Marine weiter – mit der Bitte um „Unterstützung aus Ihrem Verantwortungsbereich.“ Der Bericht trägt den schlichten Titel „Auslandseinsätze der Bundeswehr“. Was das 55-seitige Papier in aller Kälte des Militärjargons festhält, fügt sich zu einem niederschmetterndes Bild von der Handlungsfähigkeit der deutschen Streitkräfte zusammen.

Es zeigt, wie wenig die Bundeswehr organisatorisch noch immer mit den übrigen Nato-Staaten gleichgezogen hat. Statt konsequent auf schnellere Befehlswege zu setzen, steht die deutsche Armee noch immer mit einem Bein in der Nachkriegszeit. Und zwar nicht wegen des Parlamentsvorbehalts, der die Bundeswehr aus historischen Gründen eng an Entscheidungen des demokratischen Souveräns bindet. Sondern vor allem, weil sich die Berliner Politik weigert, die Grundsätze der „vernetzten Sicherheit“ im Einsatzgebiet auch auf die Zusammenarbeit der Ministerien anzuwenden. Der Bundeswehr fehlt ein politisch-strategischer Kompass. Die Folgen schlagen sich bis zum Unteroffizier durch.

Verfasst wurde das Gutachten von sieben der ranghöchsten ehemaligen Generale, die die Bundeswehr zu bieten hat. An ihrer Spitze stand der einstige Oberbefehlshaber der Afghanistan-Schutztruppe Isaf, Norbert van Heyst. Fünf Monate lang, von Februar bis Juli 2007, recherchierten sie an einem knappen Dutzend Standorten und sprachen mit den wichtigsten Kommandanten aller Auslandsmissionen. Ihre Schlussfolgerung: Die Bundeswehr ein ist umständliches, uneffektives, ja zum Teil gefährlich schlecht kontrolliertes Gebilde von einer Armee.

Schon auf der ersten Seite nehmen die Generale einige deutliche Eindrücke aus dem Leben der neuen Interventions-Bundeswehr vorweg:

„Abgrenzungsdenken, mangelnde Akzeptanz eines auf Kooperation ausgerichteten Rollenverständnisses, Überschätzung des eigenen Beitrags und auch Führungsfehler führen zu Effizienzverlusten, die teilweise durch die Führungsstruktur (…) noch begünstigt werden. Über alle Führungsebenen hinweg werden Grundsätze der Führung trotz besseren Wissens nicht immer beachtet, mitunter aber zugleich von denen eingefordert, die dagegen verstoßen.“

Die Bundeswehr, legt der Bericht ausführlich dar, leide unter einem Mangel an kohärenter Führung, fehlender strategischer Planung, teilweise bizarrer Bürokratie und einer kleinkarierten Kontrollwut des Berliner Ministeriums. Zwischen den Zeilen geht die Kritik der Generale dabei weit über alltägliche Defizite hinaus. Um künftig Einsätze effizienter führen zu können, empfehlen die Generale, „eine in der Hierarchie des BMVg höher angesiedelte Operationsabteilung“ zu bilden. Diese solle unmittelbar dem Generalinspekteur unterstellt werden und „alle auf die Einsätze einwirkenden führungsrelevanten Weisungen und Befehle aller Organisationsbereiche im BMVg für die nachgeordnete Ebene erlassen.“
Im Klartext: Die Bundeswehr solle endlich so etwas wie einen Generalstab erhalten.

Der Begriff – und damit der Gedanke – wird seit Ende des Zweiten Weltkriegs in deutschen Militärkreisen offiziell nicht mehr gebraucht. Die Bundeswehr war seit der Wiederbewaffnung 1955 als gezähmte Armee konzipiert, die allenfalls Schlachten unter Nato-Oberkommando führen sollte, keinesfalls aber eigene Operationen zu planen hatte. Seitdem hat sich zwar die Welt umstürzend verändert, nicht aber die Befehlsstruktur der deutschen Armee. Noch immer sind in Deutschland die klassischen Aufgaben eines Generalstabes – also einer planerischen und operativen militärischen Oberbehörde – zersplittert zwischen dem Verteidigungsministerium, den Teilstreitkräften und dem Einsatzführungskommando für Auslandseinsätze in Potsdam.

Verantwortlich für die Entwicklung von Einsatzstrategien ist der Verteidigungsminister. Der Generalinspekteur ist als höchster Soldat verantwortlich für deren Umsetzung. Bei der Planung und Führung ist der Generalinspekteur dem „Konsensprinzip“ unterworfen, das heißt, im Minsterium soll es zwischen der politischen Spitze und militärischen Handwerkern nicht zum Streit kommen. Dieses Prinzip erfordert nach Einschätzung der Arbeitsgruppe „regelmäßig einen nicht unerheblichen Zeitbedarf.“ Zeit, die die Soldaten im Ausland nicht immer hätten.

„Von zentraler Bedeutung für die Führung von Auslands ist (…) [die] Fähigkeit, bei konkurrienden Interessen Führungsentscheidungen zügig fällen (…) zu können.“ Im Klartext: Im Ministerium werde zuviel geredet und zu wenig entschieden.

Tatsächlich klagen Kommandanten im Einsatz immer wieder über quälend lange Befehlswegen und grotesk lebensferne politische Vorgaben. Stehe ein Kabinetts- oder ein Parlamentsbeschluss zu einem Auslandseinsatz an, so hält das Gutachten fest, bleibe wegen mangelnder strategischen Planungsressourcen im Verteidigungsministerium zunächst oft zu wenig Zeit, um die Mission gründlich zu durchdenken. Dies ziehe das „Risiko von Unschärfen und Fehlern“ nach sich. Die Expertise nachgeordneter Kommandoebenen könne „oft nur ,informell’ und damit nicht ausreichend einbezogen“ werden.
„Beispiele hierfür sind zu frühe Festlegungen von Kontingentobergrenzen, die sich (…) als zu niedrig erweisen (…) oder sehr kurze Zeitvorgaben für die Verlegung von Kontingenten und das Herstellen ihrer Einsatzbereitschaft. Beides kann große Risiken für die die Realisierung der Planung und für die Sicherheit des Kontingents selbst verursachen.“

Mit anderen Worten: Auslandseinsätze werden bisweilen gefährlich hektisch übers Knie gebrochen. Das Primat der Politik schlägt dann um in ein heikles Diktat der Politik. Der Bericht nennt als „drastisches Beispiel“ die überstürzte Aufstellung eines Containerlazaretts im Kongo, die „ohne Beteiligung des Sanitätsführungskommandos getroffen“ vonstatten ging. Das medizinische High-Tech-Modul wäre beinahe im Schlamm versunken, weil es an einem „völlig ungeeigneten Ort aufgebaut“ werden sollte. Erst im letzten Moment sei ein „Totalschaden“ verhindert worden.

Dafür setze, sobald die Truppe im Ausland angekommen sei, sofort eine lähmende Bürokratie ein. „Regelungsdichte und Informationsflüsse haben (…) die Grenze des Handhabbaren überschritten“, konstatieren die Generale. Selbst im Stammesland von Afghanistan ist die Bundeswehr gezwungen, deutsche Rechtsstandards einzuhalten, von der Mülltrennung über die Straßenverkehrsordnung bis zur Zahlung eines Fahrkostenzuschusses an einheimische Mitarbeiter.

Unter dem Stichpunkt „Bürokratie im Einsatz“ halten die Autoren ungläubig fest: „Als Beispiel mag die Weisung zur ,widerruflichen Zahlung eines Fahrkostenzuschusses an die Ortskräfte in Afghanistan’ dienen, die einzustellen sei, sobald die Sicherheitslage es zulasse, da dann ,ein eigener Bus-Shuttle-Verkehr i. S. des Erlasses über Werk-, Schul- und Fürsorgefahrten (VMBl 1990 S. 114) einzurichten und in der Folge die Zahlung des Fahrkostenzuschusses einzustellen’ sei.“
Sobald die Lage ruhig genug ist, muss die Bundeswehr also einen Pendelverkehr für die afghanischen Arbeiter in ihren Feldlagern einrichten. So will es das deutsche Arbeitsrecht.

Selbst wenn Fragen von Leben und Tod betroffen sind, kann es mitunter Jahre dauern, bis Entscheidungen durch die Bürokratie sickern. Der Bericht schildert etwa, wie lange es dauerte, bis Störsender für Bundeswehrkonvois in Afghanistan ankamen. Mit diesen „Jammern“ lässt sich verhindern, dass Terroristen per Mobilfunk Sprengfallen am Straßenrand auslösen – eine Methode, die immer beliebter wird. Die entsprechende Anforderung, hält der Bericht fest, sei bereits 2003 in den „Auswerteprozess eingesteuert“ worden. „Trotz ihrer Dringlichkeit“ sei sie „bis in das Jahr 2006 noch nicht erfüllt“ worden. Die Bundeswehrsoldaten fuhren also geschlagene drei Jahre lang ohne einen einfachen, aber wirkungsvollen elektronischen Schutzschirm am Hindukusch herum.
In der Heimat fehle es währenddessen an Material, um die Soldaten ordentlich auf den Auslandseinsatz vorzubereiten: „Großgeräte stehen für die Ausbildung gar nicht (z.B. Dingo) oder nicht ausreichend (z.B. Füchse) zu Verfügung.“
Bisherige Versuche der Entbürokratisierung, so die Generale, „entmutigen eher“: „Statt einer umfassenden Entfrachtung der Bürokratie wurden mitunter minimale Verbesserungen mit zusätzlichem Überwachungsaufwand ,erkauft’.“

Vollends an der Einsatzzentrale Potsdam vorbei operiert laut dem Bericht das Kommando Spezialkräfte (KSK). Die Elitetruppe werde von einer eigenen Dienststelle, dem Kommando Führung Operation Spezialkräfte (FOSK) befehligt, was bereits „zu deutlichen Koordinations- und Informationsmängeln geführt“ habe. Dieses Eigenleben der KSK berge „große Risiken für die Sicherheit im gesamten Operationsgebiet und für Leib und Leben der dort eingesetzten Soldaten.“ Die Arbeitsgruppe warnt, das KSK polterte mitunter wie eine loose canon durch die Szenerie.

„Ein von der allgemeinen Operationsführung im Einsatzland völlig getrennter, paralleler operativer Führungsstrang des Kommando FOSK in das Einsatzgebiet hinein und die unter großer Geheimhaltung in der Regel mit den Einsatzkontingenten nicht abgestimmten Maßnahmen der Spezialkräfte können (…) Gefahren für die Gesamtoperation, die Kontingente sowie das Ansehen und den Erfolg der Missionen vor Ort selbst erzeugen. Die Risiken dieser aufbauorganisatorischen Lösung sind nach Auffassung der Arbeitsgruppe unvertretbar hoch.“

Dieser Fehler müsse dringend korrigiert werden: „Die Arbeitsgruppe empfiehlt, Spezialkräfte bei den Einsätzen der Bundeswehr im Ausland grundsätzlich wieder aus dem Einsatzführungskommando zu führen.“

Nach ihren Besuchen in den Auslandstützpunkten zeigten sich die Generale überrascht über eine Vielzahl von Verstößen gegen verantwortliche Führung. „Sie sind auf allen Ebenen und in beiden Richtungen zu finden“, was wohl nicht nur etwas mit den bestehenden Befehlsstrukturen zu tun habe:

„Nach intensiver Diskussion hat die Arbeitsgruppe die Überzeugung gewonnen, dass die Defizite im Rollenverständnis und Kooperationsverhalten nur zu einem geringen Teil durch organisatorische Maßnahmen gemindert werden können. Ein nachhaltiger Erfolg bei der Abstellung dieser Defizite muss durch eine Änderung der Mentalität des Führungspersonals erreicht werden.“

Zwischen den vielen an ein einem Auslandseinsatz beteiligten Dienststellen der Bundeswehr fehle es am nötigen Teamgeist: „Anstatt die ihnen zukommenden Rollen zu akzeptieren, sind bei den Kommandos häufig Abgrenzungsdenken, Überschätzung des eigenen Beitrags und auch Führungsfehler feststellbar.“

Zudem sind dem Bericht zufolge allen Diensträngen mehr als die Hälfte aller Stellen mit allenfalls mäßig geeigneten Soldaten besetzt:

„Mit seinem Einsatzcontrolling hat das Einsatzführungskommando eine Quote von bis zu 60 % an nicht forderungsgerecht besetzen Dienstposten ermittelt. Die genannten Beispiele bezogen sich fast ausschließlich auf unerfüllte Einzelkriterien, wie z.B. Sprachleistungsprofil oder Impfstatus.“

Gleichzeitig herrscht im Verteidigungsministerium eine ausgeprägte Panik vor schlechten Schlagzeilen. Der Bericht spricht von einem „Wettlauf mit den Medien“, der dazu führe, dass das Ministerium den Soldaten beständig in ihr Handwerk hineinrede. „Informationen werden mitunter direkt im Einsatzgebiet unter Umgehung des Einsatzführungskommandos abgefragt. Damit besteht – zumindest aus Sicht des Einsatzführungskommandos – beim BMVg die Tendenz, bei Führungsvorgaben und –entscheidungen einen zu hohen, nicht ebenengerechten Detaillierungsgrad zu wählen, der zwangsläufig zu nicht erforderlichen Einschränkungen der operativen Ebene führt.“

Stattdessen fehle es an einer strategischen Planung aller Ministerien, die an Auslandmissionen beteiligt sind, also dem Auswärtigen Amt, dem Entwicklungshilfeministerium, dem Innenministerium und dem BMVg. „Sowohl in Deutschland als auch in den Einsatzgebieten besteht die zwingende Notwendigkeit einer Abstimmung auf allen Ebenen“, schreiben die Gutachter. Insbesondere vermissen sie „Koordinierung und engen Zusammenarbeit verschiedener Ressorts auf der strategischen Ebene (z.B. AA, BMZ, BMVg, BMI).“

Seit gut einem halben Jahr liegt der Heyst-Bericht dem Verteidigungsministerium vor, versehen mit einem „dickel Deckel“, wie es ein Insider formuliert. Selbst der sonst gut informierte Wehrbeauftragte der Bundestages, Reinhold Robbe (SPD), erfuhr erst durch die Recherchen der ZEIT von dem Papier. „Aus meiner Sicht ist das Gutachten mehr als interessant“, sagt Robbe, nachdem er Auszüge gesichtet hat. „Vieles ist sehr zutreffend beschrieben. Ich hätte manches genauso formuliert.“ Auch ihm seien bei seinen Besuchen an den Einsatzorten immer wieder Defizite bei der langfristigen Planung aufgefallen.

Während Verteidigungsminister Jung und Kanzlerin Merkel bei jedem Truppenbesuch den „comprehensive approach“ der deutschen Streitkräfte loben, also die enge Zusammenarbeit mit Diplomaten, Entwicklungshelfern und Polizeiausbildern, fehlt es zuhause in Berlin an ebenjener Synergie zwischen den Ressort. „Die beklagte fehlende Kohärenz zwischen den Ministerien bildet sich übrigens auch im Parlament ab“, sagt der Wehrbeauftragte Robbe. „Nach meiner Kenntnis hat es bisher keine gemeinsamen Sitzungen zwischen dem Auswärtigen- und dem Verteidigungsausschuss gegeben.“ Im Einsatzland predigen die Verantwortlichen also die Sicherheitspolitik des 21. Jahrhundert, während sie zuhause noch immer mit den Zuständigkeiten der Verteidigungspolitik des 20. Jahrhunderts vor sich hin werkeln.

Daran soll sich nach dem Willen von Minister Jung auch nach dem Bericht der Heyst-Gruppe nichts ändern. Über eine breitere interministerielle Abstimmung wird nach Auskunft seines Hauses ebenso wenig nachgedacht wie über eine neue militärische Spitzengliederung der Bundeswehr. „Wir sind nicht in England und auch nicht in Frankreich“, kontert ein Spitzenbeamter die Idee eines Generalstabes. Eine Folge aber soll der Bericht haben: bis zum Sommer wird im Berliner Ministerium ein neuer „Einsatzführungsstab“ eingerichtet, bestehend aus 90 Dienstposten, die direkt dem Generalinspekteur unterstellt sind. Ziel sei es, eine „flachere Hierarchie“ zu schaffen, die den Anforderungen von Auslandseinsätzen besser gewachsen sei. Wie sich dieses neue Gremium allerdings gegenüber den Kompetenzen der Potsdamer Einsatzzentrale einfügen soll, das scheinen die Beteiligten bisher nicht so recht zu wissen. Nach mehr „Führung aus einer Hand“, wie sie sich die Kommandanten im Ausland wünschen, klingt es jedenfalls nicht.

 

Der „Rat der Weisen“ darf nicht so heißen

Soll die Europäische Union eigentlich mehr sein als nützlich? Mehr als nur nützlich für den Warenaustausch, für die Lebensmittelsicherheit, für die wirtschaftliche Liberalisierung des Kontinents und für die Sicherung seiner Außengrenzen?

Nein, könnte man gelassen antworten. Es handelt sich bei der EU eben schlicht um ein Zweckbündnis aus Staaten, die sich gegenseitig das Leben ein bisschen leichter machen wollen. Das ist nicht besonders herzerwärmend, zugegeben. Aber darf man ernsthaft mehr erwarten?

Ja. Man muss sogar.

Denn siehe da, es gibt außerhalb Europas auch noch so etwas wie eine böse Welt. Es gibt ein neo-imperiales Russland, das mit seinen Gasreserven hantiert wie ein Halbstarker mit einem Klappmesser. Es gibt immer weniger Öl unter den Böden muslimischer Staaten, die von Terroristen erschüttert werden. Es gibt neue Marktmächte wie China oder Indien, die in rasender Geschwindigkeit Kapital und Ideen aus Europa absaugen und die für entscheidungsträge Demokratien mit solchem Sozialluxus wie Arbeiterrechten nur ein mildes Lächeln übrig haben.

Währenddessen läuft Europa seit Jahrzehnten auf einem politischen Stand-by-Betrieb. Alle Systeme funktionieren ordentlich, noch dazu hat sich der Apparat mit dem Reform-Vertrag eine neue Bedienungsanleitung geschaffen. Bloß: Wozu soll das noble Gerät eigentlich dienen? Was ist die Aufgabe der EU jenseits der Sicherung inneren Friedens und Wohlstands? Diese historischen Gründungsziele sind schließlich erreicht. Jetzt braucht es neue.
Zum Beispiel die Vision eines Europas, das in der Lage ist, seinen Frieden und seinen Wohlstand gegenüber einem nicht ganz so friedlichen, dafür umso aggressiver nach Wohlstand strebenden Rest der Welt zu erhalten. Zum Beispiel, indem es sich fragt, warum ein so unglaublich reicher Club wie die EU unglaubliche 50 Milliarden Euro jährlich in die Taschen seiner Bauern pumpt, während China in die modernsten Containerhäfen Welt investiert und High-Tech-Ingieure produziert wie am Fließband.

Ob Frankreichs Präsident Sarkozy diese Fragen vorschwebten, als er vor einigen Monaten vorschlug, einen „Rat der Weisen“ ins Leben zu rufen, der sich mit der Zukunft Europas beschäftigen solle, wissen wir nicht. Höchstwahrscheinlich hat der Mann eher im Sinn, sich seine Ansicht, die Türkei gehöre geografisch und kulturell nicht zu Europa, von einem berufenen Gremium absegnen zu lassen.
Jedenfalls löste sein Vorschlag in den anderen Ländern keine hörbare Begeisterung aus. Deutschland nickte immerhin freundlich und versprach Prüfung.

Ende dieser Woche nun wollen sich die EU-Regierungschefs bei ihrem halbjährlichen Gipfel in Brüssel über den „Weisenrat“ unterhalten.

Das, was von deutscher Seite schon heute an Erwartungen zu hören ist, gibt Anlass zur Befürchtung, dass eine im Kern gute Idee bis zur Unkenntlichkeit verbürokratisiert werden wird. So soll der „Weisenrat“ schon einmal nicht „Weisenrat“ heißen, sondern „Reflexionsgruppe“. Das ist dann geschlechtlich ebenso korrekt wie klanglich widerwärtig.

Ferner ist der Bundesregierung vor allem klar, was der Rat nicht sein soll.
Er soll nicht über die geografischen Grenzen der EU nachdenken (wegen des Türkei-Streits).
Er soll nicht über Institutionen nachdenken (das hat die EU lange genug getan, und die Ergebnisse stehen im Reformvertrag).
Er soll nicht viel länger tagen als ein Jahr.
Er soll seine Ergebnisse nicht vor der Europawahl 2009 veröffentlichen.
Er soll nicht mehr Mitglieder haben als ein knappes halbes Dutzend.
Es ist angeblich noch nicht klar, wen Deutschland als Kandidaten für den Rat bennen möchte.

Das Vorstellungsvermögen Brüsseler Diplomaten reicht derzeit, nicht ganz im Ernst freilich, von Helmut Kohl bis Franz Beckenbauer.

Schade eigentlich.
Die Idee hätte weiser sein können als ihr Urheber.