Auf ihrem Sondergipfel zu Georgien ringt sich die EU zu altbekannter Einigkeit zusammen: Sie reagiert vorerst gar nicht auf die russische Teilbesatzung der Kaukasusrepublik
„Es gibt keinen neuen Kalten Krieg“, stellte der russische EU-Botschafter Vladimir Chizov noch kurz vor Beginn des Europäischen Sondergipfels zur Georgienkrise fest. „Wir leben schließlich in einer vernetzten, globalen Welt“, sagt er in Brüssel. „Ich sehe nicht, dass heute noch unversöhnliche Ideologien aufeinanderprallen würden.“
Nein, unversöhnliche ökonomische Welterklärungstheorien sind es sicher nicht mehr, die Europa und Russland trennen (der Kapitalismus hat sich dort bloß in einer besonders raubtierhaften Ausprägung breitgemacht). Aber eine gemeinsame politische Weltsicht fehlen Europa und Russland wie eh und jeh.
„Stehen wir wirklich nicht vor einem Zusammenprall der Ideologien?“, antwortete der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski mit Blick auf die anhaltende Teilbesatzung Georgiens durch russische Truppen seinem Vorredner aus Moskau. „Der EU geht es schließlich darum, Grenzen aufzulösen und nicht zu verstärken. Ihre Ideologie ist es, aufgrund von Regeln zu handeln, nicht aufgrund von Macht.“
Vielleicht steckt in diesen Zitaten die kleine historische Marke, die der Brüsseler Septembergipfel setzte. Er steht, wie wohl noch kein anderer Termin seit 1989, für das Ende der Illusionen gegenüber Russland – aber auch für das Ende der Illusion Europas über sich selbst.
Zum einem ist da das vorläufige Ende jenes europäischen Traums zu besichtigen, auch der Rest der Welt, vor allem der nahe gelegene, werde über kurz oder lang die Vorzüge transnationaler Kooperation zu schätzen lernen. Die Vision, wie Jeremy Rifkin sie einmal formulierte, „mit Beziehungen kommt Geborgenheit, und mit der Geborgenheit kommt Sicherheit“, hat offenbar geringere Strahlkraft, als Europa dies bisher wahrhaben wollte.
Hat diese europäische Selbsteinhegung überhaupt je attraktiv gewirkt jenseits des Urals?
Viel spricht dafür, dass Europa den Reiz überschätzt hat, den eine kleingedruckte Hausordnung auf Großmächte mit unbelastetem Nationalgefühl auszuüben vermag. Entsprechend ratlos steht die friedensliebenden Wohngemeinschaft EU heute vor dem Rowdy im Nachbarhaus.
Zu besichtigen war bei diesem Gipfel deshalb auch das Einknicken Europas vor einer neuen Machtpolitik aus Russland. Für die Rückkehr der Realpolitik auf die eurasische Platte, das wurde heute deutlich, fehlt es der Brüsseler Meta-Demokratie schlicht an Verdauungskraft.
Gerade weil sich Europa zivilisierten Spielregeln verschrieben hat, gerade weil es die konsenstechnologisch fortschrittlichste Region des Planeten ist, mangelt es ihm an Regeln zum Umgang mit hartnäckigen Regelverletztern. Die EU erscheint in diesen Tagen, auf diesem Gipfel, wie eine gediegene Familienfeier, an deren Rand ein zu kurz gekommener Cousin kostbares Geschirr zerschmeißt. Man ist allerseits pikiert, möchte aber die projizierte Eintracht nicht zerstören.
Sagen wir es deutlich: Begrenzter als die europäischen Mittel, Russland zu maßregeln, erscheint nach dem heutigen Gipfel nur noch die europäische Bereitschaft, dieses schmale Arsenal von Zwangsinstrumente auch einzusetzen.
Wenn Russland noch Argumente für die Richtigkeit seiner anderen, nennen wir sie neo-imperialen Weltsicht gesucht hat, auf diesem Brüsseler Gipfel konnte es fündig werden. Die 27 EU-Staatschefs haben ihren gemeinsamen Nachmittag für nichts weiter genutzt, als sich in langwierigen Gesprächen zu einigen, vorerst nicht zu reagieren.
Weder die anhaltende Teilbesatzung Georgiens durch Moskau, noch die völkerrechtswidrige Anerkennung Südossetiens und Abchasiens wird bis auf weiteres spürbare Folgen für die Putinisten haben. Zwar verurteilten die EU-Chefs in ihrer Abschlusserklärung alle diese Aktionen. Doch statt aus diesen Feststellungen Konsequenzen zu ziehen, sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel davon, jetzt müsse „die Evaluierung beginnen und fortgesetzt werden.“ Vielleicht sollte man besser sagen: Das Aussitzen und Verdrängen.
Ideen, wie die EU auf die Aggression hätte reagieren können, gab es zuhauf. Und einige wären absolut verhältnismäßig gewesen angesichts der Schwere des russischen Aggression. Hier eine kurze Aufzählung des Möglichen und das, was dem Sondergipfel dazu eingefallen ist:
Die EU ruft ihre Mitglieder auf, die georgischen Teilrepubliken Südossetien und Abchasien nicht als Staaten anzuerkennen. Das ist nun kein starkes Signal, sondern eine Selbstverständlichkeit, die in Artikel 2 der UN-Charta ihren Ausdruck findet ( „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“)
Die EU könnte die Verhandlungen über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) mit Russland aussetzen. Über diesen Pakt sollen auf dem EU-Ratsgipfel im Oktober sowie beim EU-Russland-Gipfel am 14. November weitere Beschlüsse gefasst werden. Bei letzterem Termin wird es wohl auch nach der so unpartnerschaftlichen Aggression Russlands in Georgien bleiben. „Ich habe nirgendwo gehört, dass jemand das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen nicht mehr will“, antwortete der Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, am Rande des Gipfels fast überrascht auf die entsprechende Frage eines Journalisten. Vielmehr sei wichtig, „dass unsere Prinzipien in dem Abkommen mit Russland eindeutig zum Ausdruck kommen.“
Als Rechtsfolge des „unverantwortlichen Völkerrechtsverstoßes Russlands“ wäre Pöttering Folgendes am liebsten: „Wir sollten die strategische Partnerschaft nicht beenden. Wir sollten zum Dialog bereit sein, denn wir brauchen Russland.“ Dito äußerten sich Außenminister Steinmeier, dito die Kanzlerin. Die Treffen zu Aushandlung des Partnerschaftsabkommen werden allerdings verschoben, bis die russischen Truppen sich aus dem Kerngebiet Georgiens zurückgezogen haben.
Die EU könnte Reisebeschränkungen erlassen, etwa für russische Regierungs- oder Armeevertreter. Diesen Vorschlag hat Polen in die Runde geworfen. Es gehe allerdings nicht darum, russische Bürger vom Reisen abzuhalten, stellte Polens Außenminister fest, „aber wir sollten über differenziertere Visa-Vergabemöglichkeiten nachdenken.“ Hausverbot für die schlimmsten Krawallmacher also? In der Schlussfolgerung des EU-Gipfels findet sich zu dieser Überlegung kein Wort.
Die EU könnte darauf dringen, Russland teilweise aus der G 8, den wichtigsten Industrienationen der Welt, auszuschließen. Diese Option hat der britische Außenminister David Miliband vor wenigen Tagen vorgeschlagen. “Wir sollten bereit sein, als G 7 zu agieren, falls Russland eklatante Völkerrechtsverletzungen begeht”, schrieb er in einem Beitrag für mehrere englische Zeitungen. Auch dazu kein Satz in der Abschlusserklärung.
Der Westen könnte die Bestrebungen Russlands, der Welthandelsorganisation (WTO) beizutreten, vorerst blockieren. Diese Idee stammt zwar nicht aus Europa, sondern vom demokratischen amerikanischen Präsidentschaftsbewerber Barack Obama, aber warum sollte die EU sie nicht erörtern? Warum auch immer, sie tat es nicht.
Die EU könnte darauf dringen, die olympischen Winterspiele 2014 nicht in der Schwarzmeerstadt Sotschi stattfinden zu lassen. Dies würde allerdings erstens ziemlich hilflos (ist jetzt das IOC für Europas Würde zuständig?) und zweitens ziemlich ziemlich zwecklos würden (nein, ist es nicht, deswegen würde das IOC diese Idee wohl auch nicht sehr beeindrucken.).
Europa könnte sich eine Energiepolitik geben, die den Namen verdient. Bisher lässt sich die EU von Russlands Monopolisten Gazprom systematisch auseinanderdividieren. Dabei ist gar nicht klar, welche Seite eigentlich am längeren Hebel säße, ließe man es drauf ankommen. Zwar ist Europa zu etwa 30 Prozent von russischen Gasimporten abhängig, aber Gazprom liefert 70 Prozent seiner Gesamtexporte in die EU, noch dazu fehlen dem Konzern westliche Investoren, um die Förderleistung aufrechtzuerhalten. War hätte da eigentlich mehr Druckpotenzial? Dass die EU hier die Reihen schließen muss, sehen die Regierungschefs nun mit gewisser Dringlichkeit (Schlussfolgerung Nr.8: „Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass Europa seine Bemühungen im Bereich der Sicherheit der Energieversorgung verstärken muss. Der Europäische Rat ersucht den Rat, in Zusammenarbeit mit der Kommission, die diesbezüglich zu ergreifenden Initiativen, insbesondere im Bereich der Diversifizierung der Energieversorgung und der Lieferwege, zu
prüfen.)
Die EU könnte ihre Nachbarschaftspolitik ernsthafter vorantreiben. „Die Bevölkerung der Europäischen Union ist dreieinhalbmal so groß wie die Russlands, unsere Wirtschaft fünfzehnmal größer, und unsere Militärausgaben sind zehnmal größer als die Russlands“, stellt der schwedische Außenminister Carl Bildt heute in der FAZ fest. Eine Ost-Partnerschaft der Europäische Union, eine weitere europäische soft power-Vervielfältigung könnte deshalb einhegend auf russische Großmannsgesten wirken. Die Bundeskanzlerin verwies in soweit auf die dafür zuständigen Gipfel, etwa den EU-Ukraine-Gipfel am 9. September.
„Wir sind in ständigem Gesprächskontakt“, sagte die Bundeskanzlerin zum Abschluss des Brüsseler Gipfels. Mit „wir“ meinte sie die EU. Schöner und schrecklicher kann man das Wesen europäischer Außenpolitik derzeit kaum beschreiben.