Was der neue EU-Präsident und der „Außenminister“ dürfen, können und sollen – und was nicht
Ein Abendessen soll es klären. Um 18 Uhr kommen heute abend die 27 Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel zusammen, um im hermetischen Granitbau des Justus-Lipsius-Gebäudes die vornehmsten Ämter zu vergeben, die der Kontinent je zu bieten hatte. Ein permanenter Präsident des Europäischen Rates und ein Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, kurz „EU-Außenminister“ sollen dem weltgrößten Demokratienverbund mehr Zusammenhalt im Innern und mehr Schlagkraft nach außen verschaffen.
So will es der Lissabon-Vertrag, der zum 1. Dezember in Kraft tritt. Aber welche Macht besitzen die Erwählten tatsächlich – und welche nicht? Was, tatsächlich, nutzen sie Europa?
Zur Stunde ist noch völlig unklar, welcher Herr oder welche Dame das Rennen machen wird. Umso klarer sind seit langem die Ambitionen, die den neuen Ämtern anhaften. Sie sollen, kurz gesagt, die Antwort auf Henry Kissingers legendäre Frage liefern, wie Europas Telefonnummer lautet. Diese Hoffnung auf Anschlussklarheit, so viel lässt sich allerdings schon sagen, wird das neue Reform-Europa nicht erfüllen.
Die EU bleibt ein schizophrener Gesprächspartner. Sie lädt sogar sich ein paar Anschlüsse Ämterpersönlichkeiten mehr auf. Den oder die eine Mr. oder Mrs. Europa wird es auch künftig nicht geben. Dafür steckt in den Personal-Paragrafen des Lissabon-Vertrages zu viel Widersprüchliches. Und im Ernennungsverhalten der 27 EU-Staatschefs, soweit dies abzusehen ist, zu wenig Mut.
Um mit dem Präsidenten zu beginnen: Er wird eben kein „Europäischer Präsident“ sein, sondern der Präsident des Europäischen Rates, also der vierteljährlichen Zusammenkunft der EU-Staatschefs. Er, so will es der Lissabon-Vertrag, „führt den Vorsitz und gibt Impulse.“ In der Praxis wird dies zunächst einmal heißen, dass er den Ministerpräsidenten bei ihrer Ankunft am Brüsseler Ratsgebäude die Hände schüttelt und sie zum Sitzungssaal geleitet. Was dann dort drin passiert, dürfte weniger von den Impulsen des Vorsitzenden abhängen als von den Egos der versammelten Alpha-Tiere aus Frankreich, Deutschland, Italien oder Großbritannien.
Mehr Kontinuität bei der Themensetzung, so will’s die Lissabon-Theorie, soll der neue, auf zweieinhalb Jahre ernannte Sachwalter herbeikoordinieren. Doch die Praxis lehrt, dass Regierungschefs nicht geneigt sind, sich von Zeremonienmeistern die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Sie müssen schließlich daheim wieder gewählt werden – der Ratspräsident hingegen von ihnen.
Entsprechende strategische Bescheidenheit haben die Kontinentaleuropäer mit den Kandidaten demonstriert, die sie in den vergangenen Monaten – halböffentlich oder öffentlich – ins Rennen schickten. Juncker, Schüssel, Balkenende hießen die häufigsten genannten Euro-Prinzen.
Als aussichtsreichster und auch von Deutschland unterstützter Kandidat gilt derzeit – bei allen Überraschungen, die das heutige Gipfeltreffen bieten kann – der belgische Ministerpräsident Herman Van Rompuy. Der 61jährige Konservative steht in seiner Unauffälligkeit als primus inter pares der Zwergen-Riege. Der praktizierende Katholik, heißt es in europäischen Regierungskreisen, sei uneitel, verschwiegen, scheu unter Großen und scheinwerfer-avers. Eine graue und verlässliche Maus, die keinem die Kameras klaut, kurzum.
Nennenswerte Erfahrung im Umgang mit 27 nationalen Egos und Interessen in der Brüsseler Arena sind für den neuen Präsident ebenfalls kein Muss. Denn unterhalb der Staatschefs-Ebene, im Maschinenraum der EU, laufen die rotierenden Präsidentschaften weiter wie bisher. Alle sechs Monate reicht ein Land den Staffelstab für europäische Gesetzes- und Projektinitiativen weiter ans nächste. Derzeit haben ihn noch die Schweden in der Hand, im Januar folgt Spanien. Unter deren Ägide, im Ministerrat, wird der allergrößte Teil der europäischen Integration geschmiedet.
„Der neue Präsident hat keine Befugnisse für Rechtssetzung im Ministerrat“, stellt der deutsche EU-Abgeordnete Elmar Brok (CDU) klar. „Das Amt soll nicht für Operationelles gebraucht werden.“
Der mit so viel Hoffnung erwartete EU-Präsident ist, mit anderen Worten, ein König Ohneland, der möglichst unsichtbar bleiben und zum laufenden EU-Geschäft brav den Mund halten soll. Der neue Hausherr (oder die neue Hausfrau) des Justus-Lipsius-Gebäudes, sagt der liberale Brüsseler Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff voraus, dürfte sich deshalb alsbald „unterbeschäftigt“ vorkommen. „Pfusch am Bau“, lautet Lambsdorffs Fazit zu den Kompetenzregeln des Lissabonvertrags. „Was Europa bekommt, dürfte ein besserer Frühstückdirektor sein.“ Oder einen Sündenbock.
Ein hoffnungsvollerer Vergleich freilich wäre der mit einem „europäischen Bundespräsidenten“. Immerhin ist nicht ausgeschlossen, dass der Neue sich Nischen sucht, in denen er ungestört und unstörend wirken kann. Er könnte sich etwa des Problems der wachsenden Bürgerferne der EU annehmen. Die Wahrnehmung Brüssels als politisches Raumschiff wird sich mit dem Macht- und Geschwindigkeitszuwachs, den der Lissabon-Vertrag bringt, aller Voraussicht nach verschärfen. Für mehr Bodenhaftung zu sorgen, wäre womöglich keine schlecht Idee für die Kommando-Brücke.
Zwar soll der Ratspräsident laut Vertrag auch die „Außenvertretung der Union“ wahrnehmen. Doch wenn er den Außenauftritt Europas nicht unnötig chaotisieren möchte, wäre er gut beraten, sich nicht als Gegenpart des amerikanischen, russischen oder chinesischen Präsidenten, von Obama, Medwedjew oder Hu Jintao zu sehen. Ein Mann vom Profil eines Van Rompuy tut das nicht. Damit wäre die Gefahr gebannt, dass der neue „EU-Generalsekretär“ dem künftigen „EU-Außenminister“ ins Gehege kommt.
Dieser (oder diese) dürfte, verglichen mit dem Präsidenten, zur weitaus mächtigeren Figur der EU heranwachsen. Denn erstens wird der „Hohe Vertreter“ zugleich Vizepräsident der EU-Kommission. Zweitens wird er als solcher vom Europäischen Parlament bestätigt, was ihm mehr demokratische Legitimität verleiht als dem Ratspräsidenten. Drittens wird er über einen eigenen, vermutlich 7000 Diplomaten starken Auswärtigen Dienst verfügen.
Solche institutionellen Fakten können, das lehrt die Baustelle Brüssel, echte Einflussgewinne gegenüber den Nationalstaaten nach sich ziehen. Der Noch-Amtsinhaber Javier Solana wirkte politisch oftmals wie ein gerupftes Huhn – kaum eine Feder, mit der die nationale Außenämter sich schmücken konnten, ließen sie dem EU-Chefdiplomaten. Der neue Amtsinhaber dagegen kann mithilfe seines Apparats eigene Pflöcke einschlagen – und zwar auch innerhalb der Kommission, deren Ressorts (ob in der Entwicklungs-, Nachbarschafts-, oder Erweiterungspolitik) bisher eine Menge zerstückelte Mini-Außenpolitik betrieben.
Diesen Top Job für Deutschland zu sichern, hatte die Kanzlerin allerdings nie im Sinn. Um den in Europa durchaus geachteten Frank-Walter Steinmeier ins Gespräch zu bringen, hätte sie über den schwarz-gelben Schatten springen müssen. Andere Länder schafften das, etwa Italien mit der Aufstellung des Sozialisten Massimo D’Alema.
Doch wer die Besten für die neuen Top Jobs gewesen wären, darüber sollten Europas Öffentlichkeiten nicht mitdiskutieren. Die EU mag der größte Demokratienverbund der Welt sein, doch ihre Spitzenämter vergab sie – diesen Vergleich gestattete sich die frühere lettische Präsidentin und Eigenkanditatin für die EU-Außenministerin Vaira Vike-Freiberga – „wie in der Sowjetunion, im Dunkeln und hinter verschlossenen Türen“. Über baldige Alternativen für dieses Gekungel nachzudenken, auch das könnte eine ehrenwerte Aufgabe für Europas neue hohe Repräsentanten sein.