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Da hilft nur Tucholsky

 

Was ist das nun in Afghanistan – Krieg oder nicht Krieg?

Sie rollen mit Panzern durchs Gelände. Sie haben eine Offensive gestartet. Sie werden Opfer von Schusswechseln. Und sie erschießen selbst. Ist es nun ein Krieg, den die Bundeswehr in Afghanistan führt?

Das hängt natürlich von der Definition dessen ab, was wir unter Krieg verstehen wollen. Andere Nato-Soldaten, Amerikaner, Niederländer, Briten, Tschechen, Polen, Rumänen oder Balten, die im Süden und Osten des Landes regelmäßige Schlachten mit Taliban-Verbänden schlagen, halten den Norden des Landes, dort, wo die Deutschen stationiert sind, noch immer für vergleichsweise friedliches Gebiet. Zwar betreibt die Nato keinen Body Count. Doch im Süden des Landes haben nach inoffiziellen Angaben Isaf-Truppen allein im vergangenen Jahr etwa 20 000 Aufständische getötet – oder solche, die sie dafür hielten.

Wie der verteidigungspolitische Sprecher der Grünen, Winfried Nachtwei, kürzlich bei einem Isaf-Besuch notiert hat, konzentrieren sich die Angriffe auf die Schutztruppen auf die Provinz Helmand (durchschnittlich 10,6 Angriffe pro Tag zwischen Oktober 2008 und Mai 2009), Kandahar (4,6 Angriffe pro Tag) und Kunar (4 Angriffe pro Tag). Die Regionen, in denen die Deutschen stationiert sind, bilden statistisch noch immer die ruhigsten. In Kundus gab es 0,7, in Kabul 0,6, in Badakhschan weniger als 0,1 Angriffe pro Tag.

Doch es sind weder die Krieger anderer Nationen noch Statistiken, die definieren, was in Deutschland als Krieg gilt. Sondern die Bevölkerung. „Das Volk“ hat Kurt Tucholsky einmal gesagt, „versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.“

Über Afghanistan denkt das Volk, die Bundeswehr sei dort, um den Einheimischen einen westlichen Lebensstil aufzuzwingen. Das ist falsch, weil die Afghanen wollen, dass die Nato-Truppen ihnen Schutz, Sicherheit und eigene Entwicklungsmöglichkeiten bieten. 90 Prozent der Afghanen, sagen Umfragen, wollen die Taliban nicht zurück.

Was aber fühlt das Volk, wir Deutschen, über den Afghanistan-Einsatz?

Es fühlt zunächst einmal, dass die alte Rechtfertigung, wonach Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigt werde, zumindest gründlich perforiert ist. Denn erstens hat es in Deutschland bereits Attentatsplanungen gegeben, die rein gar nichts mit Afghanistan zu tun hatten (etwa die „Kofferbomber“ von Kiel, die aus dem Libanon stammten und sich spontan zu ihren Taten entschlossen), sind Deutsche in Bombenexplosionen gestorben, deren Drahtzieher aus Afrika oder Asien kamen (Dscherba, Bali) und ist selbst der 11. September nicht maßgeblich in Afghanistan vorbereitet worden, sondern in Hamburg-Harburg. Sicher, al-Qaida als quasi-militärische Organisation ist zerstört. Aber das Bild vom Funktionsprinzip Internet stimmt eben doch: Wird hier ein Server lahmgelehmt, übernimmt dort ein anderer das Geschäft.

Zweitens hat sich die Haupt-Trainingsdrehscheibe für Wanderdschihadisten längst nach Pakistan verlagert. Doch Bundeswehr-Truppen dorthin zu verlegen, fordert kein Mensch. Deswegen breitet sich das Gefühl aus, Deutschland mache bloß noch aus irgendwie altmodischer Solidarität mit in Afghanistan. Betreibe Verteidigungspolitik im Gänsemarsch, gewissermaßen.

Das Volk fühlt auch, dass sich Kanzlerin, Außenminister und der (rhetorisch ohnehin abzuschreibende, will man mundartliche Wortprägungen wie „friedsche Entwicklung“ nicht als kreativ gelten lassen) Verteidigungsminister vor einer ehrlichen, aktualisierten Diskussion um den Afghanistan-Einsatz drücken. Eine klare Botschaft wäre zum Beispiel die: Deutschland stabilisiert Afghanistan, weil es will, dass aus einem Land mit einer Gesellschafts- und Herrschaftsform aus dem 12. Jahrhundert ein Staat wird, der in der globalisierten Welt wenigstens minimale moralische und markwirtschaftliche Wettbewerbschancen hat. In dem Frauen nicht gesteinigt und Mädchen nicht erschossen werden, nur weil sie zur Schule gehen möchten. In dem nicht mehr 90 Prozent des Opiums für den weltweiten Heroinhandel produziert werden. In dem keine Steinzeitislamisten mehr an die Macht kommen, die Musik verbieten und Burkhas verordnen. „Es wird ja immer gerne Clausewitz zitiert, wonach der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist“, sagt unlängst der britische Außenminister David Miliband bei einem Besuch im Brüsseler Hauptquartier der Nato, „aber was wir in Afghanistan wollen, ist Politik als Fortsetzung der militärischen Anstrengungen.“

Das alles wäre eine Rechtfertigung, die ohne al-Qaida-Beschwörung auskäme – ja, ehrlicherweise auskommen müsste. Aber würde das reichen, um die Deutschen bei der Stange zu halten?
Wohl nicht. Denn wenn die Sicherheit Deutschlands nicht gefährdet ist, ja dann, so fühlt das Volk, warum sollen dann deutsche Soldaten dort sterben? Andere Völker mögen ja anders fühlen. Amerikaner zum Beispiel, die es schlicht als heldenhaft erachten, für die Durchsetzung von Menschenrechten in den Gebirgen Mittelasiens zu fallen. Wir, als postheroische Gesellschaft, tun das nicht. Die Bundeswehr kennt keine Helden, sie kennt nur Opfer. An dieser ethischen Grundierung Nachkriegsdeutschlands ändern auch Ehrenmale, Tapferkeitsorden und öffentliche Gelöbnisse nichts.

Das fehlende Faible fürs Heldentum hat aber auch damit zu tun, dass es den Deutschen im vergangenen halben Jahrhundert gelungen ist, tatsächlich eine Armee von Staatsbürgern in Uniform heranzuziehen. Deutschland verfügt über keine Kriegerkaste wie die Angelsachsen, also über keinen Berufstand, der ebenso akzeptiert und geachtet wäre dafür, dass seine Mitglieder auf Geheiß der Regierung ihr Leben opfern. Die Vorstellung, dass es Profis gibt, die genau „dafür da“ sind und deren Corpsgeist eine gewisse Verlustunempfindlichkeit mit sich bringt, ist diesem Land (zum Glück) fremd geworden. „Wenn britische Soldaten ums Leben kommen, tut das politisch nicht weh. Bei uns geht der Verteidigungsminister dagegen zu jedem Begräbnis“, sagt ein ranghoher deutscher Nato-Diplomat, „wenn britische Soldaten Taliban töten, gilt das in der Heimat als Erfolg. Bei uns nimmt nach jeder Tötung der Staatsanwalt Ermittlungen auf.“

Die Deutschen verfügen schlicht über eine niedrigere, nennen wir es einmal: Kriegstoleranz als andere Völker. Laut einer Umfrage des German Marshall Fund glauben nur 25 Prozent der Deutschen, dass es Umstände geben könnte, unter denen ein Krieg gerechtfertigt sein könnte. In Amerika glauben es 74 Prozent.

Mit anderen Worten: Wir Deutschen lehnen einen Krieg doppelt so schnell ab wie andere Nationen. Ob diese Sensibilität in sich selbst richtig ist, das spielt – für das politische Inertialsystem Berlin – keine Rolle. Die wahlkämpfenden Parteien werden nicht versuchen, die Kriegstoleranz der Deutschen zu verändern. Im Gegenteil. Sie werden ihre Gefühle umso ernster nehmen, je näher der 27. September rückt.

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