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Zuckersüßes Imperium

 

Soll sich die EU irgendwann bis in die Ukraine erstrecken?

Immer lauter wird in Brüssel derzeit über dieses Zukunftsszenario gesprochen – vor allem wegen der knappen Güter Gas und – pardon – Fraß. Der Kaukasus ist ein wichtiger Energiekorridor für Europa, quasi der Schlauch, der uns mit dem Gastropf des Kaspischen Meeres verbindet.

„Die Ukraine arbeitet weiter am Ausbau der Odessa-Brody-Ölpipeline nach Danzig in Polen und hat sich mit Georgien, Aserbaidschan, Polen und Litauen darauf geeinigt, bei diesem Projekt zu kooperieren. Dies könnte die Möglichkeit eröffnen, die Ölversorgung aus dem Kaspischen Meer deutlich zu steigern“, heißt es im jüngsten Fortschrittsbericht der EU-Kommission zur Ukraine.

Zudem könnte die Ukraine, ja tatsächlich, geopolitisch wieder als Getreidelieferant wichtig werden. Angesichts einer weltweiten Verknappung von Anbauflächen steigen seit langem die Preise für Weizen. Die gute Ernte von den riesigen Felder der Ukraine führte soeben einer spürbaren Erleichterung an den Börsen. Schon ventiliert Russland Pläne für eine „Getreide-OPEC“ mit dem Nachbarn.

Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy will im Herbst das derzeitige EU-Partnerschaftabkommen mit Kiew zu einem Assoziierungsabkommen aufwerten. Dies würde vor allem Erleichterung beim Handel nach Westen mit sich ziehen. Die ukrainische Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um knapp sieben Prozent gewachsen. Der zweitwichtigste Exportpartner des Land ist Deutschland, die Wachstumsraten betragen hier rund 30 Prozent pro Jahr.

Die osteuropäischen EU-Staaten, vor allem Polen und Tschechien, sehen die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union schon als Vorstufe der Vollmitgliedschaft der Ukraine in der EU. So illusorisch solche Pläne derzeit seien mögen, so sehr zeigt uns der Nachbar Ukraine, wie – sagen wir ruhig – selbstschöpfend die EU nach außen wirkt.

Denn egal ob man es nun Nachbarschaftspolitik, Partnerschaftsabkommen und EU-Beitrittsprozess nennt – ist nicht der generelle Befund wichtig, der uns die Avancen der Ukraine liefert? Ist es nicht Europas unausgesprochene Mission, sich als zivilisatorischer Standard auszubreiten und sich – vielleicht, letztendlich – in eine reine Idee umzuformen? Eine Idee, die Nachbarn einfach deswegen annehmen, weil sie ihnen richtig erscheint? Vielleicht ist die Vorstellung politischer Pächter am Rande Europas nicht verkehrt; die Ukraine, wie auch Moldawien oder die Türkei, verhalten sich in vielerlei Hinsicht wie Franchise-Nehmer der Marke EU. Sie übernehmen seine Spiel- und Marktregeln und machen sich damit ganz sachte zum Subunternehmer des Konzerns.

Institutionell betrachtet, trägt Europa alle Züge eines klassischen Imperiums: eine starke Zentrale, geteilte Souveränität, einen einheitlichen Rechtsraum, einen mächtigen Kern (die Gründerländer), unterprivilegierte Neumitglieder (diejenigen ohne Euro und mit Arbeitsbeschränkungen in den alten Ländern) und eine Peripherie aus möglichen künftigen Mitgliedern.

Der Unterschied zu klassischen Imperien ist freilich: Europa dehnt sich nicht durch Unterwerfung aus, sondern durch Überzeugung. Haben wir es also womöglich mit einer ganz neuen, unerprobten Art des Imperiums zu tun? Eines liberalen, wohlwollenden Imperiums?

Der Kommissionspräsident Manuel Barroso beantwortet diese Frage klar mit ja (bei 4:10 Minuten im Video).

Die Theorie ist nicht neu, sie stammt aus angelsächsischen Denkschmieden, aber gerade erst hat sie der deutsche Journalist Alan Posener prägnant zusammengefasst.

„Ob die alten Europäer es wollen oder nicht: Die Mitte liegt ostwärts, der Balkan schon lange nicht weit hinten in der Türkei, die Türkei nicht am Ende der Welt. Als geopolitisches Modell hat das Reich Karls des Großen ausgedient.“ (Imperium der Zukunft, S. 107)

Dann stellt sich allerdings Frage, ob ein solches (nichtimperiales) Imperium überhaupt jemals an Überdehnung leiden kann. Oder ob sein ultimativer Zweck nicht darin bestünde, seine Idee zu so weit zu tragen, bis es sich irgendwann in einer relativ gleichmäßig temperierten Welt auflöst.

Wie ein Stück Zucker eben, das den Kaffee etwas süßer gemacht hat.