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Europas Guantánamos

Wissen wir, was wir diesen Sommer getan haben?

Ein Report

Die Tragödie schwappt an Europas Ufer wie alljährliche Gezeiten. Im Sommer erwärmt sich das Mittelmeer, und mit den Temperaturen steigt der Mut verzweifelter Afrikaner. Zu Tausenden machen sie sich von den Küsten auf Richtung Norden, in überfüllten Booten, oft von kriminellen Schleppern zusammengepfercht in lebensbedrohliche Enge. Die Migranten zieht die Hoffnung auf ein besseres Leben. Für viele besteht das schon aus einem Tag ohne Hunger. Oder aber sie flüchten vor politischer Verfolgung, vor Folter und Gefängnis.

Genauso regelmäßig wie der Zustrom übers Meer fehlt den Europäern das Interesse an den Dramen an ihren Flanken. In einer Nacht Ende März 2009 ertrinken auf dem Weg nach Italien über 300 Menschen vor der libyschen Küste. Ein Unglück, gewiss. Aber es gibt auch Schicksale, die noch grauenhafter sind, und an denen sich Europa durch Unterlassen mitschuldig macht.

Am 20. August entdeckt die italienische Küstenwache vor der Insel Lampedusa ein Schlauchboot mit fünf völlig entkräfteten Insassen. Ursprünglich waren 78 Menschen an Bord. Fast Drei Wochen lang driftete das Schlauchboot ohne Nahrung, Treibstoff und Trinkwasser übers Mittelmeer. Es handelt sich um Eritreer. Ihre Chancen, in Europa Asyl zu erhalten, stehen gut – vorausgesetzt sie erreichen das EU-Festland. Die Anerkennungsquoten für Eritreer sind hoch, denn sie kommen aus einem Land, das die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch  aufgrund von Folter, Zwangsarbeit und oft lebenslanger Wehrdienst als „gigantisches Gefängnis“ bezeichnet. 

Leichen in Italiens Fischernetzen

Die Überfahrt von der libyschen Küste nach Lampedusa ist die letzte Etappe einer tausende Kilometer langen Reise. Die Flüchtlinge haben Trinkwasser und Treibstoff für drei Tage an Bord. Doch erst geht der Sprit aus, dann der Proviant. Nach und nach, berichten die Überlebenden, hätten sie die Leichen ihrer verdursteten Landsleute über Bord geworfen.

Die Todesfahrt macht für einige Tage Schlagzeilen in Europa. Nicht nur das alptraumhafte Geschehen auf dem Schlauchboot bewegt die sommerlichen Zeitungsleser, sondern auch der Umstand, dass offenbar mehrere Handelsschiffe das driftende Boot sichteten, ohne zu helfen. Nur die Besatzungen zweier Fischkutter, erzählt ein Überlebender, habe ihnen Brot und Wasser gegeben, seien dann aber abgedreht.

Im Restaurant des Straßburger Europaparlaments sitzt, vor einem Tellerchen mit kunstvollen Desserttörtchen, Barbara Lochbihler. Sie kommt nicht dazu, das Besteck anzurühren. Immer wieder sausen ihre Hände beim Reden auf die Tischdecke nieder. „Die Dramen, die sich vor den europäischen Küsten abspielen, haben viele hier noch nicht richtig vor Augen. Dabei werden wir es durch den Klimawandel und die Versteppung in Afrika noch mit Flüchtlingsströmen zu tun bekommen, die alle bisherigen Dimensionen sprengen. Darauf kann Abschottung doch wohl nicht die Antwort sein.“

Doch die Europäische Union, schildert Lochbihler, sei einstweilen zu sehr damit beschäftigt, die Welt vorm Klimatod zu retten. Für Flüchtlinge bleibt da kaum Zeit.

Lochbihler ist die ehemalige Deutschland-Chefin von Amnesty International. Im Juli 2009 ist die 50jährige für die Grünen ins Europäische Parlament eingezogen. Zwei Monate und einen Flüchtlingssommer später, nach den ersten Ausschuss-Sitzungen, Kommissions-Anhörungen und Plenardebatten, hat sie eines gelernt: „Als Menschenrechtsfrau kommen Sie hier immer erst dran, wenn die großen Klima- und CO2-Debatten durch sind. Und dann dürfen Sie vielleicht eine Minute reden.“ Als unlängst der EU-Justizkommissar Jacques Barrot vor den Abgeordneten über Migrationspolitik sprach, berichtet Lochbihler, „kam der einzelne Mensch gar nicht vor.“ Ständig sei nur von „Flüchtlingsströmen“ oder „Kriminalität“ die Rede gewesen.

„Europa fehlt ein Konzept“

„Man muss sich doch mal klar machen, was an unseren Grenzen eigentlich geschieht“, empört sich die frischgebackene Europapolitikerin. Dann berichtet sie von italienischen Fischern, die Leichen in ihren Netzen finden und zur Warnung für sich und ihre Kollegen Leuchtbojen über gesunkenen Flüchtlingsbooten aussetzen. Bilder wie aus einem Horrorfilm steigen in den Kopf. „Das Problem ist, dass in Brüssel in der Sache eine Zuständigkeitszersplitterung herrscht“, sagt Lochbihler. „Legale Migration gehört in den Bereich Arbeitsmarkt, also in die Kommission. Flüchtlingsabkommen mit Libyen hingegen sind klassische Außenpolitik, mithin Angelegenheit der Mitgliedstaaten, da hat die EU keine Zuständigkeit.“ Das Ergebnis: „Es fehlt ein europäisches Konzept für eine Migrationspolitik.“ 

Infolge zunehmender Dürren, Trinkwasserknappheit und Bodenerosionen in Afrika könnte Europa schon bald vor Herausforderungen stehen, denen alle bisherige politische Koordination nicht gewachsen ist. Bis zum Jahr 2050, schätzt die Armutsbekämpfungs-NGO Germanwatch, könnte die Anzahl der „Umweltflüchtlinge“ weltweit auf 150 Millionen ansteigen. Die EU kann zwar von Finnland bis Malta die Glühbirne verbieten und Qualitätsnormen für Gurken verhängen, aber für eines der perspektivisch drängendsten Probleme des Kontinents bietet der Brüsseler Behördenapparat keine Schnittschnelle. Nicht einmal auf eine gemeinsame Grammatik in der Migrationspolitik können sich Europas Politiker bisher einigen.

 „Wir haben aber in der EU leider noch nicht einmal die ganz banale Frage geklärt, wer eigentlich ein Flüchtling ist“, sagt Manfred Weber, der für die CSU im Europaparlament unter anderem zuständig ist für Einwanderungfragen. „Irakische Christen werden in Schweden zu hundert Prozent anerkannt, in Griechenland zu hundert Prozent nicht anerkannt.“ Es wäre schon ein großer Schritt, glaubt Weber, wenn Europa sich auf gemeinsame „Spielregeln“ einigen könnte. Doch gerade dort, wo ein gemeinsames europäisches Handeln richtig und wichtig wäre, beim Asylrecht und bei der Migrationskontrolle, sind die EU-Mitgliedsstaaten Bastionen der nationalen Souveränität geblieben.

Solidarität? Vielleicht später

Die Folge sind zunehmende Spannungen nicht nur von außen, sondern auch im Innern. „Gerechte Lastenteilung“ heißt das Reizwort im Diplomatenjargon. Denn EU-Kernländer wie Deutschland sind geografisch von den Flüchtlingsströmen übers Meer abgeschottet. Um sie herum liegt eine Pufferzone europäischer Nachbarn, die den Andrang abfangen müssen. Die meisten Migranten und Flüchtlinge kommen auf Malta und Zypern, in Italien, Spanien, und Griechenland an. Der Staatenverbund hat sich bisher lediglich auf ein Prozedere geeinigt, das „Asyl-Shopping“ in verschiedenen EU-Staaten verhindert soll. „Verordnung (EG) Nr. 343/2003“ oder kurz „Dublin II“ heißt das EU-Abkommen, wonach jeder Flüchtling in dem Land seinen Asylantrag stellen muss, in dem er zuerst EU-Boden betreten hat. Doch das Problem bleibt die Verteilung der Flüchtlinge. Bisher gilt hier lediglich schwammiges „Solidaritäts-Prinzip“ unter den Staaten.

Einem verbindlichen Schlüssel zur Verteilung der Ankömmlinge auf alle EU-Mitgliedsländer verweigern sich vor allem die Regierungen in Berlin und Wien. Die mehr oder weniger unverhohlene Begründung: Deutschland und Österreich seien damals in den 90er Jahren mit Flüchtlingen aus dem Balkan allein gelassen worden. Die Integration von hunderttausenden Bosniern und Kosovaren erfordere noch immer außergewöhnliche Anstrengungen. 

UN: „verabscheuungswürdige Zustände“

Einigermaßen brachial gebärden sich in der Zwischenzeit die Anlaufläner im Süden gegenüber den Flüchtlingen aus Afrika. Im Sommer 2009 tritt in Italien ein so genanntes „Sicherheitsgesetz“ in Kraft, wonach illegale Einreise mit Geldbußen zwischen 5.000 und 10.000 Euro bestraft werden kann. Die Abschiebung soll auf dem Fuße folgen. Italienern, die illegale Einwanderer beherbergen oder beschäftigen, drohen Haftstrafen zwischen drei und sechs Jahren. Die Regelung schrecke Fischer ab, Flüchtlinge in Notlagen zu helfen, sagt die Ex-Amnesty-Chefin Lochbihler. „Die haben jetzt Angst, dass sie vor Gericht kommen, wenn sie Schiffbrüchige retten.“

In Griechenland, wo die Zahl der Flüchtlinge und Migranten von rund als 40 000 im Jahr 2005 auf 146 000 im Jahr 2008 empor geschnellt ist, setzt die Regierung ebenfalls im Juli 2009 neue Asylregeln in Kraft. Die Verfahren werden in die Polizeidirektionen in der Provinz verlagert, die Berufungsinstanz wird abgeschafft, und Flüchtlinge dürfen ab sofort statt bis zu drei bis zu sechs Monaten in Lagern interniert werden. In den wenigsten Polizeiquartieren gibt es Übersetzer und geschulte Beamte, die Asylanträge entgegennehmen können. Der Vertreter des UN-Flüchtlingswerkes in Athen kündigt einstweilen die Zusammenarbeit mit der griechischen Regierung auf. Bereits 2008 hatte der Europarat die Bedingungen in einem der größten griechischen Internierungslager als „verabscheuungswürdig“ und als „Gesundheitsrisiko für Betreuer wie für Internierte“ bezeichnet.

Anfang dieser Woche, während eines EU-Innenministertreffens in Brüssel, nutzt Wolfgang Schäuble die Gelegenheit, um harsche Kritik an Griechenland zu üben. „Die Einhaltung der menschenrechtlichen Grundsätze darf in keinem Teil Europas in Zweifel gestellt sein“, sagte der Bundesinnenminister. Was in Griechenland geschehe sei „nicht nur ein griechisches Problem, es ist ein Problem für die EU.“ Es ist besonders ein Problem für Deutschland. Denn am 9. September untersagte das Bundesverfassungsgericht einstweilen die Abschiebung eines Irakers nach Griechenland, wo er ursprünglich – und erfolglos – einen Asylantrag gestellt hatte.

Karlsruhe: „Erhebliche Überlastung“

Zur Begründung führten die Karlsruher Richter aus, sie sähen Klärungsbedarf hinsichtlich der Frage, „welche Auswirkungen der europarechtliche Grundsatz der Solidarität, der im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auch für eine gemeinsame Asylpolitik Geltung beansprucht, bei einer erheblichen Überlastung des Asylsystems eines Mitgliedstaates auf die Rechte des einzelnen Asylantragstellers (…) hat.“ Kurzum, von einheitlichen europäischen Asylgarantien könne nicht im Ernst die Rede sein. Die Zustände im EU-Partnerland Griechenland erscheinen dem Bundesverfassungsgericht in juristischer Hinsicht als offenbar europaunwürdig.

Die Tatsache, dass Europas moralische Havarie außerhalb von Expertenkreisen kaum wahrgenommen wird, ist allerdings ist nicht so sehr einem vermeintlich trägen Brüsseler Behördenapparat geschuldet. Justizkommissar Jacques Barrot hat die Brisanz des Themas schon erkannt. „Die Länder der EU dürfen nicht die Augen verschließen vor solchen Trägodien wie im Mittelmeer“, appelliert der Franzose, und: „Asylpolitik ist eine Pflicht für Europa.“ Das bedeute, glaubt er, einerseits, kriminelle Schlepperbanden stärker zu verfolgen. Anderseits aber auch die Achtung der Menschenrechte. Doch was kann Kommissar Barrot, als suprastaatlicher Interessenwalter ohne Hoheitsmacht, tatsächlich tun, außer von Brüssel zu reden und zu mahnen? – Er kann ein wenig mehr zwischen den Mitgliedstaaten koordinieren.

Anfang September schlägt die EU-Kommission in Zusammenarbeit mit dem UNHCR ein gemeinsames „Resettlement-Programm“ vor. Gemeint ist nicht die Aufnahme von Menschen aus Athen oder Lampedusa, sondern von besonders Schutzbedürftigen aus Flüchtlingslagern in Kriegs-und Krisengebieten. Im vergangenen Jahr siedelte der UNHCR 66.000 Menschen im Rahmen dieses Programms um. Mitgliedsländer der EU nahmen lediglich 4.400 von ihnen auf, neben den 10.000 irakische Flüchtlinge, die nach einem EU-Beschluss von 2008 nach Europa geholt werden sollen – auch nach Deutschland. Die österreichische Regierung begrüßt den Vorschlag – und betont, das die Teilnahme am „Resettlement Programm“ freiwillig sei.

Maulkorb für den Justizkommissar

Was die humanitären Zuständen in Europas eigenen Flüchtlingslagern angeht, sagt Justizkommissar Barrot: „Ich werde nicht aufhören, die Regierungen auf ihre Pflichten als EU-Mitgliedstaaten hinzuweisen“, beteuert Barrot.

Wird er nicht?

Am 1. September erklärte ein Sprecher im Auftrag von Barrot, die Kommission erwarte von Italien eine Erklärung zu den Vorwürfen, es seien Migranten noch auf See nach Libyen zurückgeschickt worden. Silvio Berlusconi, der gerade den Gedenkfeierlichkeiten zum Ausbruch des 2. Weltkriegs in Danzig beiwohnte, feuerte daraufhin schwere Kaliber gen Brüssel. Kommissare und ihre Sprecher, die sich auf diese Weise in die italienische Innenpolitik einmischten, herrschte er, müssten „rausgeworfen“ werden. Sollte so etwas noch einmal vorkommen, werde er, Berlusconi, jede Einigung im Europäischen Rat blockieren.

Nach dieser Attacke fragte die ZEIT mehrmals bei Barrots Pressestelle nach, welche Mittel der EU-Kommission blieben, um bei den Mitgliedsstaaten Rechtsgehormsam einzufordern. Eine Antwort blieb aus. Unnachgiebiges Ansprechen? Das sähe anders aus.

Dabei begehen europäische Küstenwachschiffe unter Mitwirkung der EU-Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeer eklatante Völkerrechtsbrüche, wenn sie Flüchtlingsboote abdrängen. Zwar darf jeder Staat nach EU-Gesetzen Asylbewerber zurück- oder ausweisen. Dies hat aber „unter Wahrung der Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention“ zu geschehen. Und die statuiert ein Rückweisungsverbot. Wenn Leben oder Freiheit der Flüchtlinge im Ursprungsland gefährdet sind, dürfen sie nicht ohne ordentliche Asylprüfung abgewiesen werden.

Sanktionen gegen Griechenland?

Doch was kann die EU-Zentrale tun, um ihre Mitglieder zum Rechtsgehorsam zu bewegen? Sie besitzt nur eine Keule, den Artikel 7 des EU-Vertrages. Laut ihm kann einem EU-Mitglied, das „schwerwiegend und anhaltend“ gegen Menschenrechtsgrundsätze verstößt, das Stimmrecht im Brüsseler Rat entzogen werden. Das ist schon einmal geschehen, im Jahr 2000, als die Österreicher die rechtspopulistische FPÖ in die Regierung hoben. Das Resultat der Sanktion war vor allem eine lang anhaltende diplomatische Krise – und die Lehre, dass Artikel 7 im Zweifel mehr Ärger als Nutzen bringt.

In Wien sitzt mittlerweile eine EU-Behörde, die nach Ansicht der grünen Europaabgeordneten Franziska Brantner „genau die Aufgabe haben sollte, solche Menschenrechtsverletzungen wie sie Flüchtlingen geschehen, aufzudecken und anzuprangern.“ Brantner meint die 2007 gegründete „Agentur der Europäischen Union für Menschenrechte“. Doch diese EU-Zweigstelle ist ausdrücklich ohne die Intention ins Leben gerufen worden, Mitgliedsstaaten zur Ordnung zu rufen. „Die Agentur“, heißt es in ihrer Selbstdarstellung, „ist NICHT dazu ermächtigt (…) die Lage der Grundrechte in den Ländern der EU (…) zu überwachen oder sich mit der Rechtmäßigkeit von gemeinschaftlichen Rechtsakten und deren rechtlicher Umsetzung in den Mitgliedstaaten zu befassen.“ Mehr als „Papiere zu verfassen“, beklagt Brantner, dürfe man dort nicht leisten. Insider unken, die Agentur sei ohnehin nur gegründet worden, um Österreich, wie andere Mitgliedsstaaten auch, mit einem EU-Behördenableger zu versorgen.

Der FDP-Europaabgeordnete Alexander Alvaro findet am Ende dieses Sommers die Frage berechtigt, „wie ernst es einige Mitgliedsstaaten eigentlich mit der Garantie der Menschenrechte meinen.“ Aus seiner Sicht ist es höchste Zeit, das Thema Flüchtlinge von einem Saisonaufreger zu einem der grundlegenden „Top 3“-Thema auf der EU-Agenda zu machen. „Es ist ja tragischer Weise zur allsommerlichen Routine geworden, dass Menschen vor unseren Küsten ertrinken. Danach sorgt die Angelegenheit dann nicht mehr für besondere Aufmerksamkeit.“ Das strategische Ziel der EU-Politik, glaubt Alvaro, müsse sein, die Lebensbedingungen in Afrika zu verbessern, damit die Menschen gar nicht erst gezwungen seien, sich auf den gefährliche Seereise nach Norden zu machen. „Das heißt, dass wir die Afrikapolitik endlich ernst nehmen müssen“, sagt er. Warum ist das bisher nicht geschehen? Alvaro atmet tief aus. „Ehrlich gesagt: Der Politik fehlt manchmal der Weitblick über die aktuelle Legislaturperiode hinaus.“

 

Mit Charme und Orangen

Seit einem halben Jahr jagen EU-Schiffe Piraten am Horn von Afrika. Doch die zeigen sich bisher wenig beeindruckt

– 2 Videobeiträge inklusive –


Das Schicksal der Besatzung auf dem kleinen Holzschiff hängt jetzt an einer Handvoll Eis. „Ich will das Eis sehen“, gibt Fregattenkapitän Ulrich Brosowsky energisch übers Funkgerät durch. Der braungebrannte, sonst eher ruhige Mittvierziger und studierte Pädagoge steht von seinem Kommandanten-Drehstuhl auf. Durch die Fenster der Brücke sticht sein Blick hinaus aufs Wasser, wo, etwa dreihundert Meter entfernt, das Marine-Beiboot mit seinen Soldaten neben einem bunt bemalten Fischerkahn dümpelt. Ein paar Meter von Brosowsky entfernt, draußen an der Schiffswand, haben Maschinengewehrschützen die Szene im Visier. Bei knapp 40 Grad Hitze und sengender Sonne rinnt den stämmigen Matrosen der Schweiß in Bächen unter die Splitterschutzwesten. Noch einmal greift der Kapitän zum Funkgerät. „Lasst euch jetzt das Eis zeigen!“

Video von Bord der „Emden“

Brosowsky und seine Besatzung auf dem Bundeswehr-Kriegsschiff „Emden“ sind im Auftrag der Europäischen Union unterwegs. Mitten im Golf von Aden, zwischen der afrikanischen und jemenitischen Küste, hat die Fregatte aus Wilhelmshaven eine der vielen Hundert so genannten Dhows gestoppt, die in den Gewässern kreuzen. Die meisten der traditionellen Holzkutter gehören harmlosen Thunfisch-Fischern. Doch diese spezielle Schaluppe, so schien es den Wachoffizieren der „Emden“ schon durch die Ferngläser, könnte auf andere Beute aus sein. Dutzende Fässer Treibstoff liegen auf dem Kutter verzurrt, viel zu viel für ihn allein.

Der Verdacht liegt nahe, dass das Boot als schwimmende Nachschubbasis für Piraten dient – also eines jener „Mutterschiffe“ sein könnte, von denen aus Seeräuber das viel befahrene Meer vor dem Suezkanal seit Monaten in das reinste Kriegsgebiet verwandeln. Aufgekratzt geht Kapitän Brosowsky auf der Brücke auf und ab. Wenn die zehn Somalis Eisbarren zur Kühlung an Bord haben, will er ihnen die Erklärung abnehmen, dass sie bloß zu einer Fischerflotte gehören. Wenn nicht, verspricht dieser Vormittag ungemütlich zu werden.

Interview mit dem Kommandanten

Auf der Brücke beobachtet die Wachmannschaft, junge Männer und eine Frau, kaum einer älter als 35 Jahre, mit angespannten Mienen, was sich vor dem schlanken Bug der „Emden“ abspielt. Das graue 130-Meter-Schiff mit der gewaltigen, drehbaren 76-Millimeter-Kanone auf dem Vordeck muss auf den verlorenen Kutter so bedrohlich wirken wie ein Kampfstern. Über eine Kamera zoomt ein Soldat mit Sonnenbrand auf den Armen ein Wärmebild der Dhow heran. Bläuliche Schatten von Menschen bewegen sich über die Holzaufbauten.

111 Mal griffen im Jahr 2008 Piraten in der Gegend Frachtschiffe an, 42 mal gelang es ihnen, mithilfe von Kalashnikows, Enterhaken und Raketenwerfern Schiffe zu kapern. Ganze Öltanker haben sie schon in ihre Gewalt gebracht. Volle vier Monate dauerte das Martyrium der Besatzung auf dem deutschen Frachter „Hansa Stavanger“. Im April von Piraten geentert, kam das Schiff diese Woche für 2,75 Millionen Dollar Lösegeld frei. Doch acht weitere Schiffe mit 157 Menschen an Bord halten Piraten noch immer besetzt. Es sind längst keine armen Fischer mehr, die aus Verzweiflung Containerriesen entern. Am Horn von Afrika entsteht vielmehr eine hochgerüstete maritime Mafia.

Diesem Spuk, beschloss die Europäische Union im Herbst 2008, müsse ein Ende gemacht werden. Und tatsächlich, die Mission „Atalanta“ war für Brüsseler Verhältnisse geradezu in Speedboat-Geschwindigkeit auf den Weg gebracht. Schon zum Jahreswechsel 2009 dampften die ersten Marine-Schiffe mit blauem Sternenbanner am Schornstein Richtung Afrika. Heute patrouillieren ein gutes Dutzend Boote aus Spanien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien und Schweden durch das Einsatzgebiet, dessen Größe einem Viertel der Fläche der EU entspricht. Zwei deutsche Fregatten, einen Einsatzgruppenversorger und ein Aufklärungsflugzeug hat Deutschland geschickt.

Der Schifffahrtskorridor zwischen Arabien und Afrika ist die Achilles-Ferse des Welthandels. Etwa 90 Prozent des globalen Warenverkehrs quetschen sich durch die Meerenge. Rund 20 000 Schiffe pro Jahr befördern Öl aus Iran, Turnschuhe aus Bangladesh oder DVD-Spieler aus China über diese Route gen Westen. Ein einziges von ihnen kann Ladungswerte von einer Milliarde Dollar an Bord haben.

Mit der Schutzmission „Atalanta“ hat Europa, so scheint es jedenfalls, ein sicherheitspolitisches Traumprodukt für das 21. Jahrhundert entwickelt: einen vorbildlich vernetzten, rundum sinnvollen, allseits akzeptierten Militäreinsatz. Anders als beim ungeliebten Afghanistan-Einsatz der Nato versteht in Europa jedes Kind, warum es gut ist, Soldaten gegen Piraten in See zu schicken. Und bei genauem Hinsehen werden die Gründe gar noch nobler. Denn Europas blaue Jungs eskortieren nicht nur Handelschiffe. Sie schützen vor allem die Transportschiffe des UN-Welternährungsprogramms, deren Kornladungen hungernden Somaliern das Leben retten. Methodisch besteht bei all dem wenig Gefahr, unschuldige Frauen und Kinder zu bombardieren oder selbst Soldaten zu verlieren.

Besser geht’s kaum, wenn man, wie die EU, zur smarten Militärmacht der Zukunft aufsteigen will. Hektisch bemüht sich derweil die deprimierte Nato, einen eigenen Flottenverband zu entsenden, die Operation „Ocean Shield“. „Der reinste Schönheitswettbewerb ist das hier“, sagt ein Offizier hinter vorgehaltener Hand.

Doch die EU-Mission zeigt auch, wie vorsichtig-tastend sich Europa trotz aller Erfolge (kein von ihr eskortiertes Schiff wurde bisher von Piraten angegriffen) in die Welt der harten Sicherheitspolitik hineinwagt. Auf entscheidende Fragen der Piratenbekämpfung nämlich liefert „Atalanta“ – in der griechischen Mythologie eine jungfräuliche Jägerin – noch keine klaren Antworten. Wie viel Milde etwa kann man Seeräubern gegenüber sinnvoller Weise walten lassen? Was geschieht mit ihnen, wenn man sie festnimmt? Und vor allem: Wie lange lässt sich die Ursache der Piraterie politisch umschiffen, die Staatsruine Somalia?

Was die erste Frage betrifft, können sich, soweit ein erster Eindruck aus der Praxis, die Gejagten über mangelnde Herzlichkeit der Europäischen Seestreitkräfte nicht beschweren. „Habt ihr das Obst schon übergeben?“, fragt Kapitän Brosowsky das Einsatzteam im Beiboot. Anders als andere Schiffe der Atalanta-Flotte hat die Emden noch keine der für diese Fälle eigentlich vorgesehenen Geschenkrucksäcke an Bord. „Consent Winning Gifts“, heißen die eigens designeten Taschen in der Bürokratensprache, frei übersetzt etwa Fürchtet-euch-nicht-Beutel. Sie sollen, so will es die EU, bei Annäherungen an verdächtige Bootfahrer überreicht werden. Gefüllt sind sie mit Kugelschreibern, Taschenlampen, Notizblöcken und anderen „Souvernirartikeln“ (Brosowsky) mit EU-Logo, nebst Informationsmaterial über den Atalanta-Einsatz. Die „Emden“ hilft sich einstweilen mit Bordmitteln. „Mit Charme und Orangen“, sagt der Kapitän, ließe sich auch oft eine entspannte Amtosphäre schaffen. „Und die lockert hoffentlich die Zungen.“

Genau diese Lockerung ist infolge der Obstübergabe zwischen der Dhow und dem Marinebeiboot offenbar soeben eingetreten. „Der Schiffsführer lädt uns ein, an Bord zu kommen und die Kühlkammer anzusehen“, meldet der Einsatztrupp übers Walkie-Talkie. Brosowsky überlegt. – Was, wenn das eine Falle ist? Soll er eine Auseinandersetzung riskieren? Festnahmen gar? Letztere nämlich könnten den Deutschen im Zweifel ungelegener kommen als den Delinquenten selbst. Als vor wenigen Wochen eine schwedische Marineeinheit sieben Piraten aufgriff, berichtet eine Presseoffizierin des Königreiches, seien diese recht entzückt gewesen über den nordischen Lebensstil auf dem Versorger: „Sie haben gesagt, das sei ja der reinste Luxus hier, vor allem das Essen. Wir könnten sie solange festhalten, wie wir wollten. Das einzige Problem schien zu sein, dass wir weder Zigaretten noch Khat (ein in Somalia verbreitetes Rauschmittel, d.Red.) an Bord hatten.“

Zigaretten gibt es Bord der Emden reichlich, eine Stange für knapp fünf Euro abends im kleinen Shop auf dem klaustrophobisch-engen Mannschaftsdeck. Eine kleine Linderung der Härten, die ein Auslandseinsatz zur See mit sich bringt. „European Warship F 210“ lautet seit dem Atalanta-Einsatz die kuriose Funkkennung der „Emden“. In Dienst gestellt worden ist das Schiff 1983, in der Hochphase des Kalten Krieges. Die Luken aufs Außendeck machen ein saugendes Geräusch, wenn man sie öffnet. Das Schiffsinnere steht unter Überdruck. Im Falle von – damals einkalkulierten – ABC-Angriffen sollte er verhindern, dass Kampfstoffe ins Boot eindringen. „Ist für hier aber auch nicht schlecht“, sagt ein Matrose und drückt kräftig gegen die Stahltür, „hält das Ungeziefer draußen.“

2014 Jahren soll die Emden durch einen neuen Fregattetyp (F125) ersetzt werden, einen, der für die „assymetrischen“ Herausforderungen, wie Terror und Piraterie im Militärsprech heißen, besser geeignet ist. Die neuen Schiffe sollen andockfähig für Spezialkräfte und vier Speedboote werden, ein Tarnkappen-Design bekommen und länger auf See bleiben können.

An der „Emden“ erscheint dagegen vieles schon etwas nostalgisch. Die 12-Mann-Schlafräume, zum Beispiel. Die Duschen mit dem Papp-Pfeil an der Tür, der sich auf „Mann“ oder „Frau“ drehen lässt. Oder der Bordingenieur, der zwar noch keine 30 ist, aber Gasturbinen und Frischwassergewinner erklären kann als sei er im Maschinenraum aufgewachsen. Er ist einer der beschäftigtsten Männer an Bord. Statt mit Sonnencreme ist er mit Öl beschmiert, und sein Lieblingswort lautet „normaler Verschleiß“. Gerade ist der Backbord-Diesel ausgefallen. Letztes Jahr war es die Antriebswelle. „Für die Piratenjagd heißt das aber gar nicht“, beschwört der blasse Techniker.

Nur nach Hause, nach Wilhemshaven, würden seine Kameraden schon gerne pünktlich kommen. Nach fast einem halben Jahr auf See wirken viele von ihnen erschöpft. Auch deswegen ist die Neigung gering, jetzt noch Gefangene zu machen.

Auf der „Emden“ reisen für den Fall solcher Einquartierungen zwei Feldjäger mit. Die Militärpolizisten würden, so schildern sie es, festgenommene Piraten zunächst einmal nach demselben Ablauf behandeln würden wie Verdächtige auf einem deutschen Polizeirevier. Sie würden Fotos machen, Fingerabdrücke nehmen, eine ärztliche Untersuchung abwarten, Dusch- und Waschgelegenheiten stellen und den Beschuldigten Gelegenheit geben, einen Anwalt anzurufen. Falls sie einen kennen.

Danach allerdings wäre Schluss mit deutscher Strafprozessrechtsordnung. Die Festgenommenen würden in nummerierte blaue Overalls gesteckt und mit Handschellen unter einer Sonnenschutzplane auf Deck angekettet. Einer der Feldjäger hebt ein armdickes, gelbes Kunststofftau vom Decksboden auf. An ihm entlang würden die Piraten aufgefädelt. Betretenes Schweigen zwischen Crew und Reporter. Weht da ein Hauch von Guantánamo über die „Emden“? Der Soldat zuckt mit den Schultern. Tja. Arrestzellen gibt es an Bord nun einmal nicht. Was soll man machen?

Gemäß einem Abkommen mit der EU müssten Festgenommenen einstweilen in Kenia vor Gericht gestellt werden. Im März hat die deutsche Fregatte „Rheinland-Pfalz“ dies schon mit neun Piraten getan. Doch bis der Hafen von Mombasa erreicht ist, können ein paar Tage vergehen. Zu lange eigentlich, nach deutschen Standards, um Menschen ohne Haftbefehl festzuhalten. Aber sollen deswegen Richter an Bord mitfahren? Und müssten die Festgesetzten nicht eigentlich auch in Deutschland vor Gericht gestellt werden? All das, sagen die Feldjäger an Bord, seien berechtigte Fragen. Aber über die müßte Politiker entscheiden, nicht sie.

Eine Idee, die die deutschen Justizminister diskutieren, lautet, den Internationalen Seegerichtshof in Hamburg um eine Strafrechtskammer zu erweitern; ein Den Haag für Piraten, gewissermaßen. Dann wäre bloß noch die Frage, wo dieses Gericht am besten seinen Sitz haben sollte. Vielleicht doch eher in Afrika? Bisher sind 68 mutmaßliche Piraten nach Kenia in Landhaft überführt worden.

Die derzeit heikelste Frage aber lautet, wie weit die Bundesregierung gehen würde, um ein entführtes Schiff zu befreien. Am 4. April fiel die „Hansa Stavanger“ in die Hände von Piraten, seitdem lagen deutsche Marineschiffe in der Nähe, um die Szene zu beobachten. Die Soldaten auf der „Emden“ sind dabei in den vergangenen Wochen Zeugen geworden, wie sich die GSG9 für eine Erstürmung des Schiffes erst rüstete – und dann unverrichteter Dinge wieder abzog. Die deutsche Marine brachte dem Vernehmen nach nicht genügend Hubschrauber auf, um eine Befreiungsaktion starten zu können. Und die amerikanische Navy weigerte sich, die heikle Mission zu unterstützen.

Manch einer an Bord fragt sich nach der unnützen Warterei, ob Berlin, gerade im Wahljahr, überhaupt den erforderlichen politischen Willen besitzt, „auch mal ein klares Zeichen zu setzen.“ Schließlich würden die Piraten-Banden mit jeder Lösegeldforderung gestärkt. „Wir sehen doch gerade, dass die in die Glasfaser-Klasse aufsteigen“, sagt ein Marine-Mann. Moderne, schnellere Boote gehören mittlerweile ebenso zum Arsenal der Seeräuber wie Schiffserkennungsgeräte, Panzerfäuste und Satellitentelefone – sie rüsten schneller auf als die deutsche Marine. Nach einem halben Jahr „Atalanta“ haben die Angriffe zudem keinesweg abgenommen; seit Jahresbeginn wurden 130 Attacken (Quelle: International Maritime Bureau) gezählt, schon mehr also als im gesamten Vorjahr. Andere Soldaten sind skeptisch, ob „Eskalationen“ weiter helfen würden. „Wir lernen hier schließlich auch noch dazu“, heißt es in der Offiziersmesse über einem Stück heimatlichem Schweinebraten.

Ein historischer Vergleich macht klar, was Seemacht auch bedeuten kann: Als die britische Regierung 1807 beschloss, die Sklaverei zu beenden, schickte das Königreiche seine Navy, um vor der Westküste Afrikas Menschenhändler von ihrem Tun abzuschrecken. Bis zu 240 Schiffe waren dafür im Einsatz, mit 40 000 Mann Besatzung. Bis 1840, schildert der britische Historiker Niall Ferguson (in „Empire“) habe die Royal Navy 425 Sklavenschiffe aufgebracht und nach Sierra Leone eskortiert, wo den Kapitänen der Prozess gemacht wurde.

Kapitän Brosowsky entschließt sich, jedenfalls heute, lieber zum defensiven Rückzug. Das Eis hat er zwar nicht gesehen. Aber seine Soldaten sollen die Dhow trotzdem nicht betreten. Schließlich habe sich deren Besatzung „kooperativ“ gezeigt. Er befiehlt dem Beiboot zur „Emden“ zurückzukehren – auch wenn Zweifel bleiben, wie er zugibt. „Aber es ist nicht Aufgabe von Atalanta, Piraterie mit allen Mitteln zu verhindern“, sagt er. Und: „Allein von See aus läßt sich das Problem ohnehin nicht lösen.“

Dazu müsste, das ist hier allen Beteiligten klar, vielmehr die Piraten-Heimat Somalia stabilisiert werden. Doch dort tobt seit Monaten ein Krieg zwischen einer schwachen Übergangsregierung und Clanmilizen, die sich nebenbei auch gegenseitig terrorisieren. Zudem gewinnen Islamisten an Boden, nachdem bereits mehrere Interventionen – unter anderem mit Hilfe Amerikas – blutig scheiterten. Nach UN-Schätzungen sind 1,2 Millionen auf der Flucht aus der Staatsruine. Es ist ein Afghanistan in Afrika, mit anderen Worten. Und damit keine Aufgabe, die Europas Militär sich zutrauen würde.

 

Botschaftsasyl für Teherans Demonstranten?

Wie werden sich europäische Botschaften im Iran verhalten, wenn verletzte Demonstranten oder politisch Verfolgte an ihre Türen klopfen? Können, müssen die EU-Staaten ihnen Hilfe oder Asyl gewähren?

„Wir haben von einer Menge von Fällen gehört, in denen Verletzte sich an Botschaften gewandt haben“, sagt Aaron Rhodes von der International Campaign for Human Rights in Iran. Laut Informationen der Organisation sind Demonstranten bei dem Versuch verhaftet worden, sich ihre Wunden in iranischen Krankenhäusern behandeln zu lassen. „Die Angst, verhaftet zu werden, hat verletzte Demonstranten, einige von ihnen in kritischem Zustand, keine Behandlungsmöglichkeit gelassen, und einige von ihnen haben angeblich Hilfe in ausländischen Botschaften gesucht“, so die NGO. In welchen Botschaften und wie viele Fälle dies gewesen sein soll, kann die Organisation allerdings nicht sagen.

Eine per Twitter und Facebook verbreitete Meldung, wonach sich Oppositionelle am Wochenende in die kanadische Botschaft in Teheran geflüchtet haben sollen, hat das kanadische Außenministerium dementiert.

„Bestätigte Berichte:“, jubiliert die Facebook-Gruppe Free Iran am Samstag um 22.18 Uhr, „Ausländische Botschaften akzeptieren verletzte Demonstranten zwecks medizinischer Hilfe. Die kanadische Botschaft ist heute voll.“ – „Bravo!“, kommentierten darauf ein Dutzend Facebook-Nutzer, „Canada… YOU GO!!! – Today I am a happy Canadian!“

Der Sprecher des kanadischen Außenministerium, Simone McAndrew, wies die Nachricht aus der World-Wide-Webküche allerdings zurück: „Berichte, wonach wir iranischen Demonstranten Zuflucht gewähren, sind falsch.“

Zwar erreichen eine Reihe von europäischen Botschaften E-Mails, mit der Bitte, die Türen für Flüchtlinge zu öffnen, doch ein tatsächlicher Fall, in dem dies geschehen wäre, lässt sich bisher nicht bestätigen.

Außenamtssprecher in Deutschland, Frankreich, Dänemark, Österreich, Belgien und Norwegen sagten, ihnen seien keine solchen Fälle bekannt.

Was natürlich nicht heißt, dass sie vorkommen können. Und was dann?

Eine Entscheidung, Oppositionellen in europäischen Botschaften Asyl zu gewähren, hätte „politische“ Auswirkungen, zitiert die Nachrichtenagentur AFP die schwedische Außenamtssprecherin Cecilia Julin. Insbesondere das Verhalten ihres Landes hätte Signalwirkung. Schweden übernimmt zum 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Nach Stand der Dinge, sagt Julin, könne Schweden „kein Asyl auf Botschaftsgelände gewähren“.

Dies ist auch nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (AA) in Berlin auch die deutsche Position. Politisches Asyl muss an den Grenzen zu Deutschland beantragt werden. An Botschaftsschranken ist dies nicht zulässig (anders wäre es allenfalls, wenn die Person sich schon in der Botschaft befände). Leichter zu gewähren wäre kurzfristiges „Botschaftsasyl“, also Zuflucht für Hilfssuchende, die sich in unmittelbarer Gefahr befinden – sei es aufgrund einer Hetzjagd auf der Straße oder aufgrund von Verwundungen – und die an die Tür der Vertretung pochen

„Noch ist ein solcher Fall im Iran nicht eingetreten“, sagt eine Sprecherin des AA in Berlin. „Wenn er vorkommen sollte, müsste man den Einzelfall bewerten.“ Etwa die Art und Schwere der Verletzung und die Umstände der Verfolgung. Von allen europäischen Außenministern hat sich bisher Italiens Franco Frattini am deutlichsten für spontane Hilfe ausgesprochen. Laut einer Pressemitteilung wies er die Botschaften an zu helfen, „wo es Nachfrage oder Bedarf nach Hilfe von verletzten Demonstranten gibt.“

Die Frage allerdings ist, ob nicht alle europäischen Staaten unter Zugzwang gerieten, falls ein Land beginnt, Hilfesuchende aufzunehmen. Die tschechische Ratspräsidentschaft der EU versucht deshalb, die Politik der Botschaften im Iran zu koordinieren. Nach ZEIT-Informationen sollen die EU-Botschafter in Teheran in Kontakt stehen, um ihr Vorgehen abzustimmen. Außerdem hat die tschechische Ratspräsidentschaft alle 27 EU-Ländern aufgefordert, die jeweiligen iranischen Botschafter in die Außenämter einzubestellen. Mit dieser Maßnahme solle ihnen klargemacht werden, dass die EU die Behauptung Irans, die europäischen Regierungen nähmen mit ihrer Kritik ungerechtfertigten Einfluss auf innere Angelegenheiten, „kategorisch zurückweist.“

In Berlin ist das schon geschehen. Am dortigen Wederschen Markt erhielt der iranische Botschafter Ali Reza Sheikh Attar, die Auskunft, „die jetzige Lage sei nicht durch westliche Staaten ausgelöst worden. Vielmehr gehe es um die Achtung der grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte durch den Iran“.

Aber spielt die Propaganda des Teheraner Regimes wirklich keine Rolle bei der Frage, wie die EU mit Botschaftsflüchtlingen umgehen soll? Aus mehreren Gründen immerhin kämen den EU-Vertretungen Nachrichten über einheimische Gäste ungelegen: Erstens können sie kein Interesse daran haben, dass es zu einem Massenansturm auf die Botschaften kommt, zweitens könnte das Regime solche Fälle als Belege für die These von der westlichen Verschwörung nutzen, und drittens droht Teheran schon jetzt einzelnen EU-Diplomaten mit der Ausweisung, unter anderen den Deutschen. Motive, nicht jeden Flüchtlings-Fall an die große Glocke zu hängen, gäbe es also.

 

Geld gegen Dorsch

Die Isländer möchten der Euro-Zone beitreten. Und stellen Bedingungen

(Video-Beitrag inklusive)

Reykjavik
Der Außenminister legt die Füße auf den Couchtisch und macht ein paar Vorschläge zur Umgestaltung der Europäischen Union. „Natürlich möchten wir den Fischereikommissar stellen, wenn wir Mitglied werden“, sagt Össur Skarphédinsson. Wer verstehe schließlich mehr von diesem Geschäft als die Isländer? Als Gegenleistung würden die Inselbewohner den Kontinentaleuropäern dann erklären, wie sie endlich die Erdwärme nutzen könnten, die auch unter ihren Füßen schlummere.

In Ungarn zum Beispiel, schwört Skarphédinsson, habe die Geothermie eine echte Zukunft, in Slowenien, auch in Deutschland. „Amsterdam und Paris liegen auf Wärmepools, sagen unsere Wissenschaftler. Unser Know-How könnte der EU helfen, ihre Klimaschutz-Ziele zu erreichen.“ Skarphédinsson nimmt die Füße vom Tisch und träufelt sich ein Häuflein Schnupftabak auf den Daumenballen. Er meint das alles ernst.

Am Wochenende haben die Isländer gewählt, und die Sozialdemokraten, zu denen Skarphédinsson gehört, haben zusammen mit den Linksgrünen einen deutlichen Sieg davon getragen. Schon im Januar hatten die krisengeschockten Isländer nach 18 Jahren ungebrochener Herrschaft die konservative und Brüssel-feindliche Unabhängigkeitspartei aus dem Amt gejagt.

In einem Akt, der als die Küchengerät-Revolution in die Geschichte des Landes eingehen könnte, zogen Tausende Isländer eine Woche lang mit Töpfen und Pfannen vor den Regierungssitz, um sich Neuwahlen zu ertrommeln. Für die Mehrheit der Bevölkerung steht seit Monaten fest, dass die Konservativen den Absturz des Landes durch eine laisser-faire-Politik gegenüber den Banken nicht nur heraufbeschworen, sondern auch beim Management der ‚kreppa“, der Krise, jämmerlich versagt haben. Als beim abendlichen Kochlöffelschwingen Handgreiflichkeiten gegen Minister drohten und die Polizei zum ersten Mal seit den Protesten gegen den Nato-Beitritt Islands 1949 Tränengas einsetzen musste, sahen die Konservativen ein, dass es Zeit war zu gehen.

Die politische Thermodynamik allerdings verhält sich etwas anders als Skarphédinsson und Rehn wähnen: Island braucht die Wärme der Europäischen Union, vor allem die des Euro, viel dringender als umgekehrt. Alle drei Banken der Insel sind im vergangenen Krisenjahr kollabiert, die Arbeitslosigkeit ist von zwei auf zehn, die Inflation auf knapp zwanzig Prozent emporgeschnellt. Jeden Tag gehen im Schnitt drei Firmen Pleite. Island, die Finanzumwälzpumpe im Nordatlantik, die jahrelang mit zweistelligen Zinssätzen Kapital anzog und für Investitionen in aller Welt weiterleitete, ist den Infarkttod gestorben. Der Wert der einst hochgehandelten Krone hat sich binnen eines Jahres mehr als halbiert. Die Währung ist, schlicht gesagt, im Eimer. „Wenn die Isländer jetzt sagen, sie wollen der Euro-Zone beitreten, löst das hier schallendes Gelächter“, sagt ein Brüsseler Diplomat.

Genau das sagen sie aber. Das Ansinnen einer Währungsunion mit Norwegen hat Oslo unlängst dankend zurückgewiesen, und der Dollar ist für ein Land, das 80 Prozent seines Außenhandels mit Europa betreibt, keine ernsthafte Option. Immer mehr hartgesottene EU-Gegner auf der Insel erkennen deshalb an, dass die Zukunft entweder Brüssel heißt oder Niflheim – wie die lebenserstickende Eiswelt der Sagas.

Der notwendige Papierkram für einen Aufnahmeantrag an die Europäische Union, glaubt der Außenminister, könnte bis Juni erledigt sein. Island könnte dann, eher unerwartet, das 28. Mitglied der Union werden. In Brüssel breitet der Erweiterungskommissar schon die Arme aus. „Die Verhandlungen könnten schnell vonstatten gehen“, sagt der Finne Olli Rehn. Immerhin sei Island eine der ältesten Demokratien der Welt – und seine Mitgliedschaft würde die EU atlantisch abrunden.

Als nächstes, so der Außenminister, könne dann ein Referendum über den EU-Beitritt angehalten werden. Die Frage ist bloß: Zu welchen Bedingungen ist der denkbar? Der Streit darüber wird dieser Tage in Zeitungsbeiträgen, Fernsehdebatten und Kneipen ausgetragen. Auf der Contraseite dabei immer: die sturköpfigen Fischer.

Steindór Oliversson (VIDEO-Interview hier) sitzt an einer Bucht im Hafenstädtchen Akranes und klopft seine Pfeife an einem Basaltstein aus. Sein Vollbart umwuchert den Großteil des Gesichts, und aus der Baseballkappe hängt ein angegrauter Zopf heraus. Seit 23 Jahren zieht Oliversson Dorsche und Schellfisch aus dem Nordatlantik, in Handarbeit. Vor ein paar Jahren ist ihm dabei einmal ein Köderhaken ins Auge geflogen, so groß wie eine Wäscheklammer. „Aber ich habe trotzdem noch die Leinen eingeholt“, erzählt er.

Die Fangquote, die vom Staat kaufen muss, sei schließlich zu teuer, um sie zu verschwenden. Oliversson und seine Berufskollegen müssen Kredite aufnehmen, um sich die jährlichen Anlande-Erlaubnis leisten zu können. Jetzt, mit dem Währungszusammenbruch, schießen die Zinsraten ins Unermessliche. Wahrscheinlich, stimmt Oliversson nickend zu, wäre der Euro schon gut. Aber was, fragt er, wenn dafür irgendwelche Bürokraten mit ihren viel zu hohen Fangquoten die ganze isländische Fischerei ruinieren?

„Ich sage ja nicht, dass das in Brüssel schlechte Menschen sind“, meint Oliversson. „Aber sie sind ist so weit weg. Verstehen die überhaupt etwas von unserer See? Und wenn schnell mal was geklärt werden muss“, er legt die muskulöse Hand ans Ohr, „kann man da doch keinen anrufen.“

Was der 56jährigere eher intuitiv formuliert, sagt wahrscheinlich mehr über ein schwelendes Strukturproblem der EU aus, als ihm klar ist. Zu viele Entscheidungen werden in einer Entfernung von den Betroffenen getroffen, die nicht zur Weisheit der Regelungen beiträgt, besonders in der Fisch- und Agrarpolitik. Wäre es anders, hätten die Isländer überhaupt kein Problem mit der Brüsseler Perspektive. Immerhin ist das Land seit 1994 Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum, nimmt an Schengen teil, übernimmt fast jede Binnenmarktregel und beteiligt sich sogar an EU-Sanktionen gegenüber Weißrussland, Serbien oder Zimbabwe.

Grundlegende Fehlentwicklungen des Brüsseler Zentralismus registriert das Inselvolk andererseits sensibler als andere Staaten. Der Fischfang steht in Island stellvertretend für Souveränität – und damit für die Grenzen akzeptabler Einmischung. Um seine Küstengewässer vor Überfischung zu schützen, weitete Island sein Hoheitsgebiet bis 1976 auf 200 Meilen aus. Dabei kam es im wörtlichen Sinne zu Zusammenstößen zwischen isländischen Trawlern und britischen Kriegsschiffen. Bis Westminsters Flotte schließlich beidrehte.

„Wir sind wahrscheinlich das einzige Land, das das britische Empire jemals auf See besiegt hat“, witzelt der Reykjaviker Politikprofessor Ólafur Hardarsson und stößt seine Gabel in ein Stück Hummerschwanz. „Ich will damit sagen, dass unsere Fischgründe uns als vitale Ressource gelten. Sollte ein EU-Beitritt bedeuten, dass spanische oder schottische Trawler hier herumkurven dürfen, dann“, er reißt die Augen auf, „vergiß’ es! Ganz einfach.“

Dass dies unter dem Einfluss des Imperiums EU passieren könnte, ist zwar so gut wie ausgeschlossen. Dennoch, die Brüsseler Grundregel lautet: Wer in europäischen Gewässern wie viel Fisch fangen darf, legen die Nationen nicht für sich allein fest, sondern per Mehrheitsbeschluss im europäischen Ministerrat. So soll vermieden werden, dass einzelne Ländern sich maßlos an wandernden Fischschwärmen bereichern und damit auch die Bestände für andere schädigen.

Der Gedanke gemeinsamer Regulierung sei ja gut, sagt der Chef der isländischen Fischerboot-Vereinigung, Fridrik Arngrímsson. Aber warum müssten italienische oder polnische Politiker darüber mitentscheiden, wer welche Menge aus dem Nordmeer ziehen dürfe? „Wir regeln per Abkommen mit Großbritannien, Norwegen und Russland schon selber, wer welchen Anteil an den Heringsschwärmen bekommt“, sagt er. Das funktioniere gut. Zudem sei der EU-Wahnsinn, untermäßigen Fang zurück ins Meer zu kippen, in Island schlicht verboten.

Tatsächlich hält selbst die Brüsseler Kommission die EU-Politik für missraten. „Die meisten europäischen Bestände sind überfischt“, heißt es in einem Arbeitspapier, niedrige wirtschaftliche Effizienz stehe hohen Umweltschäden gegenüber.

„Unser Rezept dagegen lautet, dass kein einziger Fischer Subventionen bekommt“, sagt Arngrímsson mit erhobenem Zeigefinger. Stattdessen garantiere die teure isländische Staatsquote, dass sie ihre Lebensgrundlage sorgfältig schützten. Anders vielleicht, will er damit andeuten, als manch zuwendungsgewohnter Berufskollege in Spanien oder Frankreich. Aber wenn das Überleben der gesamten isländischen Wirtschaft nun doch an der Euro-Mitgliedschaft hängt? „Dann“, antwortet Arngrímsson, „sollten wir eben darüber nachdenken, den Euro einseitig einzuführen.“

Vor diesem Schritt allerdings hat die Europäische Zentralbank die Isländer schon eindringlich gewarnt. Auf eine Rosinenpickerei europäischer Errungenschaften, droht auch die Kommission, könnte die EU durchaus giftig reagieren.

Unverantwortliche Angstmacherei werfen die EU-Freunde auf der Insel den Fischern vor. Es sei einfach „Unsinn“ zu behaupten, die EU erhalte die Kontrolle über die Fischerei. „Die Union hat noch niemals vitale Ressourcen eines Landes unter ihre Verwaltungshoheit genommen, weder den finnischen Wald, noch das britische Öl“, sagt Andrés Pétursson von der „Europäischen Bewegung“ in Island. Kiefern und Ölquellen pflegen allerdings auch nicht über Ländergrenzen hinweg zu schwimmen. Die Angst der Angler ist deshalb nicht ganz unberechtigt.

Womöglich aber nehmen größere Fische den Isländern die Entscheidung über einen EU-Beitritt ab. Angela Merkel und Nicolas Sarkozy haben mehrfach betont, ohne den Lissabon-Vertrag könne die Union keine neuen Mitglieder aufnehmen. Das gelte, heißt es aus offiziellen Quellen, auch für Island.

Der Außenminister in Reykjavik will das nicht ganz glauben. „Ich spüre keinen Widerstand bei den Deutschen, kein bisschen“, sagt Össur Skarphédinsson. Man könne Island doch auch nicht allen Ernstes mit EU-Kandidatenländen auf dem Balkan vergleichen. Reykjavik habe Europa schließlich die Sagas gebracht, später die Abrüstungsverhandlungen – und als nächstes vielleicht ein klügeres Fischereimanagement. Skarphédinsson weist mit dem Daumen auf den Reykjaviker Hafen hinaus. „Wir können das besser“, sagt er. „Aber das Gelegenheitsfenster bleibt nicht lange offen. Wir müssen uns jetzt alle ein bisschen beeilen.“

Fotos: JB

 

„Lieber Rom als Reykjavik!“

Irland fürchtet den wirtschaftlichen Untergang. Und hofft auf Rettung aus Europa

Dublin
Der Wirt von Reilly’s Pub in Dublins Lower Merrion Street wartet neuerdings an Freitagabenden verdächtig lange auf seine Stammkundschaft. Einige der Beamten aus dem Finanzministerium gleich nebenan schieben sich erst weit nach neun Uhr durch die Eingangstür der holzgetäfelten Eckkneipe. Sie lockern die Krawatten, bestellen ein Feierabendbier und sagen Sachen wie: „Junge, die Entfernung zwischen Irland und Island sollten wir vielleicht besser in Wochen berechnen als in Meilen.“

Die grüne Insel erlebt den gefühlten Untergang. Jahrzehntelang profitierte die Iren vom Besten beider Wirtschaftswelten; von phantastischen US-Direktinvestitionen und von endlos sprudelnden EU-Subventionen. „Wirtschaftspolitisch sahen wir uns in der goldenen Mitte zwischen Boston und Berlin“, sagt ein Finanzbeamter und umgreift sein Pint-Glas. Doch der Flug des Phoenix, jahrelang zu messen in zweistellige Wachstumsraten und den teuersten Ladenmieten Europas, geriet zu nah an die Sonne. Jetzt zerrieselt der Wohlstand der Iren zu Asche. Die Immobilienblase ist geplatzt, viele Banken sind pleite und die Arbeitslosigkeit hat sich innerhalb eines Jahres auf 8,4 Prozent beinahe verdoppelt. Die Wirtschaft könnte laut Vorhersagen in diesem Jahr um sechs Prozent schrumpfen und das Haushaltsdefizit das europäische Rekordmaß von 10 Prozent erreichen.

„Wir stehen unter Schock“, sagt der Schriftsteller Hugo Hamilton (Gescheckte Menschen, Legenden). „Ich habe von Leuten gehört, die in den Schlafzimmern ihrer Kinder Reissäcke horten. Eine Mutter hat ihre Teenager-Söhne sogar zum Löchergraben in den Garten geschickt, zwecks Überlebenstraining, sagte sie.“ Die bürgerlich-grüne Regierung suche zwar krampfhaft nach Lösungen, verliere aber bloß in jeder Umfrage mehr Vertrauen. Die Zustimmung zur ehemals stärksten Fianna Fail-Partei ist binnen Jahresfrist um 20 Prozent abgerutscht. Ein bekannter Fernsehmoderator brach unlängst live im Staats-TV vor lauter Verzweiflung in Tränen aus. Zu sehr fühlte er sich an das bitterarme Irland seiner Jugend erinnert. „Es wäre gut“, fasst Hamilton zusammen, „wenn uns Europa jetzt etwas Führung bieten würde.“

Europa allerdings erwartet umgekehrt erst einmal ein bisschen mehr Verantwortungsgefühl und Solidarität von den Inselbewohnern. „Ich würde der irischen Regierung dringend raten, ihre Bevölkerung vom EU-Lissabon-Vertrag zu überzeugen“, sagt Martin Schulz, der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Tatsächlich überkommt immer mehr gebeutelte Iren die nackte Scham darüber, dass sie im vergangenen Jahr per Volksabstimmung „Nein“ zum großen Reformwerk gesagt haben. Zwar hätte der Lissabon-Vertrag die Krise kein bisschen abgemildert. Aber den Iren geht es jetzt vor allem um ein wärmendes kontinentales Gemeinschaftsgefühl.

„Wissen Sie, wir denken gerade über einen griffigen Slogan für das zweite Referendum nach“, sagt der irische Finanzminister Brian Lenihan. „Ein Vorschlag lautet: Lieber Rom als Reykjavik.“ Immerhin, der Humor ist dem Mann noch nicht vergangen. Dabei zählt er neben dem Premierminister Brian Cowen zu den derzeit meistgehassten Politikern auf der Insel. In dieser Woche will Lenihan eine Gehaltskürzung im öffentlichen Dienst um 6,5 Prozent durchsetzen. Und die, sagt er, sei nur die erste bittere Pille, die das Volk zu schlucken habe – mag es sich noch so sehr sträuben. „Kein Truthahn mag Weihnachten“, sagt Lenihan. „Aber wir haben keine Wahl. Wir sind Teil des Euro-Raums, und wir wollen es bleiben. Bis zum Ende der Legislaturperiode 2012 haben wir Zeit, das Erforderliche zu tun, um unsere Kreditwürdigkeit wiederherstellen.“

So lange will ein großer Teil der Iren die derzeit Herrschenden aber nicht mehr ertragen. Im ehrwürdigem Pfeifenladen Peterson’s gegenüber dem Trinity College sorgt ein älterer Herr mit Tweedmütze am Samstagmorgen vor. „Gib mir mal noch ein paar Packungen Tabak, bevor hier die Revolution ausbricht“, bittet er den Mann hinterm Tresen. Tatsächlich füllen sich eine halbe Stunde später die Hauptstraßen der Innenstadt mit geschätzten 120 000 zornigen Bürgern. Angestellte des öffentlichen Dienstes aus allen Teilen des Landes haben zur Demonstration gegen die Regierung aufgerufen, selbst Polizisten marschieren mit. Die klagenden Laute irischer Bagpipes wehen durch die Stadt, geblasen vom nationalen Feuerwehrcorps. „Unsere Ersparnisse sind weg, unsere Häuser sind wertlos!“, zürnen die Demonstranten. Und warum? „Weil diese Regierung in der Keltischen-Tiger-Zeit nichts gespart hat. Jetzt muss sie die Rentenkasse plündern“, sagt ein Gewerkschafter.

Eine junge Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschiebt, sagt, ihrem Mann sei gerade gekündigt worden, und die monatliche Hypothekenrate für ihr Haus betrage 1500 Euro. „Wir müssen zwei Kinder ernähren“, sagt sie. “Aber wovon denn jetzt?“ Weg mit dieser Regierung!, fordern Hunderte Marschierer auf Plakaten. Immer mehr Verbände kündigen nach der Großdemo Urabstimmungen an. Irland droht eine beispiellose Streikwelle.

Der Finanzminister zeigt sich unerschüttert. „Wenn sie die irische Regierung lahm legen wollen, können sie das versuchen. Sicher, kann sein, dass wir das nicht überleben. Aber mir geht es schlicht darum, das Land zu schützen.“ Erwartet er für diese Opferbereitschaft wenigstens ein bisschen Entgegenkommen aus Brüssel? Stützungsgelder vielleicht, falls es ganz schlimm kommt? Er könne, sagt Lenihan nach einigem Zögern, nicht ausschließen, dass Europa dem irischen Bankensektor zur Hilfe kommen müsse.

Die erste spürbare Reaktion der EU-Kommission auf die Krise bestand derweil in der Androhung eines Defizit-Strafverfahrens gegen Dublin. „Das fanden wir gut“, sagt der Politikchef der Irish Times, Stephen Collins. „Immerhin waren das mal klare Worte. Der Premierminister beruft ja bloß ein Komitee nach dem nächsten, trifft selbst keine Entscheidungen mehr. Diese Trägheit macht die Leute wahnsinnig.“ Als Folge steige die Anerkennung der Europäischen Union als „Schutzgemeinschaft“.

Am kommenden Sonntag treffen sich deren 27 Staatschefs in Brüssel, zu einem von, so ist zu hören, noch vielen Krisengipfeln dieses Jahres. Wächst daraus tatsächlich Hoffnung auf Erlösung?

„Natürlich wollen wir euer Geld“, sagt David McWilliams und nimmt einen hastigen Schluck aus der Teetasse. „Ob es Herrn Steinbrück nun gefällt oder nicht – er muss Irland behandeln wie eines seiner Bundesländer.“ Der 42jährige McWilliams ist derzeit der gefragteste Kommentator Irlands. Zwölf Jahre lang arbeitete er als Karrierebanker, dann stieg er zum erfolgreichsten Sachbuchautor und zum TV-Star auf der Insel auf. Er sagte den keltischen Boom ebenso voraus wie den Absturz. Jetzt prophezeit er: „Die Deutschen werden uns aus der Patsche helfen.“ Irland vergleicht er mit einem unzurechnungsfähigen Kind, und Deutschland mit dem Erwachsenen, der für es haftet. „Wissen Sie, am Ende geht es um den Ruf der Familie, sprich: den Euro-Raum.“ Die reicheren Staaten der EU, ist McWilliams sicher, könnten schlicht nicht zulassen, dass mit Irland der erste Dominostein der Währungsunion kippt. Denn wenn das passiere, risse es auch andere Staaten um. Spanien, Griechenland, Portugal, Italien… Der wahrscheinlichste Ausweg aus dem Schlamassel sei, glaubt McWilliams, dass die EU europäische Staatsanleihen herausgebe, für die alle Mitgliedsländer einträten. Das würde zwar Deutschlands Kreditwürdigkeit ein wenig schmälern, aber Geld in die Brüsseler Gemeinschaftskasse spülen.

Dass es die Iren deswegen am Ende emotional und ökonomisch weg von Boston und hin nach Brüssel treibt, darf man allerdings getrost bezweifeln. Sie werden ein atlantisches Völkchen bleiben, mit geteilter Treue und Hoffnung zu beiden Ufern. In den T-Shirt-Läden der Hauptstadt, die schon das Sortiment für den Nationalfeiertag St Patrick’s Day anbieten, hängt ein vielsagender neuer Verkaufshit. Das Hemd zeigt ein Konterfei des neuen US-Präsidenten, eingerahmt von grünen keltischen Zierbändern. Darunter steht: „O`Bama“ Und: “It’s great to be Irish!“

 

Am Limit

Warum die EU in der Finanzkrise kaum mehr etwas ausrichten kann

Europa wuchs bisher mit jeder Katastrophe.

Nach dem 11. September erkannte es die Risiken unzureichenden Informationsaustausches zwischen seinen Polizeien und Geheimdiensten. Die Folge war eine Vertiefung der gemeinsamen Rechts- und Innenpolitik, mit dem prominentesten Produkt des Europäischen Haftbefehls.

Nach dem Irakkrieg erkannte es die Risiken der Abhängigkeit von einem fremden GPS-System. Die Folge war Galileo, ein eigener europäischer Satelliten-Ortungsverbund.

Nach der Finanzkrise erkannte Europa die Risiken von… ja, was eigentlich? Einem ungefesselten amerikanischen oder europäischen Finanzmarkt? Die Folge ist… ja, was eigentlich?

Sowohl mit der Diagnose wie auch mit möglichen Reaktionsformen auf den Zusammenbruch der Kreditspekulationen werden sich die europäischen Staatschefs am Mittwoch und Donnerstag beim ihrem Ratsgipfel in Brüssel beschäftigen.

Was bisher geschah: Die EU-Finanzminister einigten sich darauf, notfalls in einer konzertierten Aktion Banken zu retten, die „systemrelevant“ für Europa sind. Im übrigen hilft sich erst einmal jeder Mitgliedsstaat selbst. Insgesamt stehen die wichtigsten Euro-Staaten ihren Banken mit rund 2000 Milliarden Euro als Bürgen zur Seite.

Für eine gemeinsame Stützungsaktion fehlt der EU derweil erstens die Kompetenz und zweitens der Wille. Einen gesamteuropäischen Hilffonds, wie von Nicolas Sarkozy vorgeschlagen, für trudelnde Kreditinstitute aufzulegen, halten insbesondere die Deutschen für keine gute Idee. Damit würde die EU „falsche Anreize“ schaffen, heißt es aus Kreisen der Bundesregierung. Immerhin könnte ein Sack Geld Begehrlichkeiten bei den falschen Leuten auslösen, wenn er erst einmal auf dem Tisch stehe.

Was also können die EU-Staatschefs in Brüssel eigentlich noch tun?

Nun, sie können sich zunächst einmal anhören, was ihnen der Chef der EU-Kommission, José Manuel Barroso, zu sagen hat. Der Mann war in den vergangenen heftig dafür kritisiert worden, dass es seine Mannschaft angeblich trotz besseren Wissens unterlassen habe, Vorschläge für eine striktere Regelung der europäischen Finanzmärkte vorzulegen.

„Die Politik der Kommission war es, weniger zu regeln, weniger zu intervenieren“, ärgert sich der Fraktionschef der europäischen Sozialisten im Europaparlament, der Deutsche Martin Schulz (SPD). Den Binnenmarktkommissar Charlie McGreevy (Irland) nennt Schulz einen „Apologeten einer irregeleiteten Marktradikalität.“ Der Mann sei „nicht mehr tragbar“, so Schulz. Der SPD-Mann hat Barroso nach eigenen Angaben aufgefordert, McCreevy von seinem Posten zu entfernen.

Barroso und McGreevy ihrerseits schieben das Ausbleiben von strikteren Regelungen den EU-Mitgliedsstaaten zu. Allen voran Deutschland und Großbritannien hätten sich gegen eine genauere Aufsicht auf Finanzprodukte gestemmt. Gleichwohl verspricht nun der Kommissionschef: „Die Kommission wird noch in dieser Woche einen Gesetzesvorschlag für eine europaweite Vereinbarung über Kreditgarantien vorlegen.“

Aber würde das helfen, eine nächste Krise zu verhindern? Und selbst wenn sich Europa schon heute die besten Finanzmarktregeln der Welt gehebt hätte: Hätte uns das vor den Sogeffekten des Crashs in Amerika geschützt? Europa kann sich zwar regulieren. Abschotten von den globalen Kapitalflüssen kann es sich nicht.

Frage also an Martin Schulz: Stößt Europa in der gegenwärtigen Krise nicht an die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit? Müsste nicht die amerikanische Regierung mit am Tisch sitzen, wenn die EU-Staatschefs über die Folgen des Crashs beraten.

„Das geschieht ja im Rahmen der G8“, antwortet Schulz.

Das stimmt zwar. Aber ob die G8 das passende Gremium für dieses Thema sind, das ist die nächste Frage. Denn was passiert eigentlich, wenn die nächste Finanzkrise von China oder Indien ausgeht? Mehr als ein Drittel der 6,5 Milliarden Weltbewohner werden von zwei Hauptstädten, Peking und Neu-Delhi, aus regiert. Und keines der beiden Länder ist Mitglied der G8.

„Außergwöhnliche Ereignisse rufen nach außergewöhnlichen Maßnahmen“, sagt José Manuel Barroso mit Blick auf den anstehenden Ratsgipfel.

Da hat er Recht. In diesem Fall hieße das aber, über den europäischen Tellerrand hinaus zu schauen.

 

Die Entführung Europas

Die EU ist brennend attraktiv für ihre Nachbarn. Aber welchem Liebhaber soll sie sich hingeben?

Ein Date mit der Ukraine

Vasyl Filipchuk reicht die Hand und sagt: „Ich spreche noch ein bisschen Deutsch, ein kleines bisschen. Meine Großmutter sprach es als Muttersprache. Sie hat mir als Kind immer deutsche Märchen vorgelesen. Welche, weiß ich aber nicht mehr.“ Filipchuk stammt aus Tschernowitz in der Ukraine. Heute wohnt er in Brüssel, als Abgesandter seiner Regierung bei der Europäischen Union. Die Ukraine drängt nach Westen, und Vasyl Filipchuk ist einer der Diplomaten, die dieses Ziel mit Herzblut verfolgen. Auch wenn er nicht mit allem einverstanden ist, was die Brüsseler EU-Zentrale beständig an Regelungen und Bürokratie ausspuckt. „Aber welche andere Option haben wir?“, fragt Filipchuk. Russland doch bitte nicht! „Und die Schweiz sind wir auch nicht.“

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EU-reif? Die Europaflagge jedenfalls trägt das ukrainische Außenministerium schon

Filipchuk Heimatstadt Tschernowitz ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie hin- und hergerissen die Ukraine seit jeher zwischen europäischen und eurasischen Machtsphären war. Tschernowitz lag schon immer an der Grenze mehrerer Imperien, und sie tut es bis heute. Im Mittelalter war sie Teil des mächtigen Fürstentums Moldau, als dessen Nachfolger sich heute Rumänien und Moldawien sehen. Im 16. Jahrhundert fiel díe Stadt, nach mehreren Anstürmen türkischer Truppen, unter das Vasallentum des osmanischen Reiches. Am Reibepunkt der Großmächte der Osmanen, Österreich und Russland gelegen, fiel Tschernowitz 1775 unter österreichische Herrschaft. Hundert Jahre später gründete Kaiser Franz-Joseph I. eine deutsche Universität in der Stadt, die Franz-Josephs-Universität Czernowitz.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Tschernowitz mit dem Vertrag von St. Germain Rumänien eingegliedert. 1940 besetzten die Sowjets die Stadt, und nach einem nochmaligen rumänischen Herrschaftsintermezzo von 1941 bis 1944 wurde Tschernowitz schließlich Teil der Sowjetunion – bis sich die Ukraine 1991, dem Fall der Kreml-Herrschaft, unabhängig erklärte.

Es ist ein heißer Sommer in der EU-Hauptstadt, als ich Filipchuk treffe. Rund um die Villa der Ukrainischen Mission sind die Behörden in den Sommerschlaf gefallen. Filipchuk hingegen, der stellvertretende Leiter der Mission, ist eingeklemmt zwischen dringenden Telefonaten. Er entschuldigt sich zu Beginn des Gesprächs fürs Zuspätkommen, und am Ende klingelt ihn sein Handy aus dem gemütlichen Kaminzimmer.

Filipchuk liegt vor allem eines am Herzen: Europa muss aufhören, die Ukraine wie einen Nachbarn zweiter Klasse zu behandeln. „Macht keinen Fehler mit uns!“, sagt er. Aus dem Mann spricht Verbitterung. Warum, fragt er, wird es seinen ukrainischen Landsleuten immer noch so schwer gemacht, Visa für die EU zu bekommen? Warum ist es einfacher, eine Einreisegenehmigung für Amerika zu bekommen als für das Nachbarland Polen?

„Zehn Jahre sind vergangen seit dem ersten Partnerschaftsabkommen mit der Europäischen Union. Und was ist seither passiert? Nichts. Gar nichts. Die Reisebedingungen haben sich noch verschlechtert.“

In umgekehrter Richtung gilt das nicht. EU-Bürger brauchen bloß einen Reisepass, um in die Ukraine zu gelangen. Und hat man mit dem erst einmal die unfreundlichen Grenzbeamten hinter sich gelassen (ihre Mentalität sei ein Relikt aus Sowjetzeiten, entschuldigen sich zivile Ukrainer) , öffnet sich ein Land, dass sich mit Macht nach Westen stemmt.

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Imperiale Pracht in der U-Bahn von Kiew

Der Mann an der Bahnsteigkante spricht kein Englisch, aber als er hört, wo der Besucher aus dem Westen hinmöchte, stellt er seine Aktentasche auf den Boden. Jetzt kann er besser mit den Fingern auf dem Kiewer Stadtplan hin- und herfahren. Sie nehmen die nächste U-Bahn auf der anderen Seite, macht er klar, dann zwei Stationen, dann umsteigen, bei der nächsten raus – und schon sind Sie da, Madain Nezalezhnosti. Independence Square, yes!, sagt er strahlend, während sein eigener Zug davonfährt.

Wahrscheinlich gehörte der Mann zu den Tausenden von Ukrainern, die im eisigen Winter 2004 so lange auf dem Zentralplatz der Stadt campierten, bis der Autokrat Leonid Kutschma aufgab. Die Menschen hatten die Selbstherrlichkeit und die offenkundigen Wahlfälschungen des moskautreuen Regierungschefs satt, ihr neuer Präsident sollte, machten die Orangenen Revolutionäre der Welt klar, Viktor Juschtschenko heißen, ein Beinah-Märtyrer der Demokratie. Noch gezeichnet von einer Dioxin-Vergiftung, die ihm mutmaßlich ein russischer Hintermännern Kutschmas beigebracht hatte, stellte Juschtschenko nach seiner Vereidigung fest: „Wir haben Europa nicht nur in geografischer Hinsicht gewählt, sondern auch wegen seiner geistigen und moralischen Werte.“

Vier Jahre später könnte ein hastiger Besucher glauben, Juschtschenko habe Recht gehabt. In der Innenstadt von Kiew funkeln nicht nur wieder die goldenen Kuppel der orthodoxen Kirchen, die die Ukrainer nach der anti-religiösen Sowjetzeit zurück in ihre alte Pracht versetzt haben. Es glitzern auch die Auslagen und Leuchtreklamen der großen westlichen Handelsketten. Zara ist da, Heiniken und BMW, und an der repräsentativen Stirnseite des Unabhängigkeitsplatzes prangt, fast als hätten die Wende-Stadtplaner das Klischee inszenieren wollen, McDonald’s gelber Doppelbogen.

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Der Unabhängigkeitsplatz der Orangenen Revolutionäre heute

Doch wer hinter die Fassaden tritt, merkt schnell, das Kiew noch längst keine europäische Metropole ist – sondern bloß ein Potemkinsches Dorf des Westens. In den Wohnsilos am Rande der Stadt leben die Menschen in schlimmster postsowjetischer Tristesse, apathische Hausmeister wachen über Hochhauseingänge, die an Bunkerschächte erinnern, und vor den Türen lassen Jugendliche die Wodkaflaschen kreisen. Viele von ihnen hat das Vertrauen, das sie der neuen Führung nach der Orangen Revolution entgegen gebracht haben, enttäuscht. Das Dreamteam Viktor Jutschenko und Julia Timenschenko (Markenzeichen blonder Erntedank-Haarkranz) hat in der Wendezeit andere als kameradschaftliche Eintracht bewiesen.

Über die Frage, wie viel Macht Präsident und Ministerpräsidentin und Parlament einander zugestehen sollten, zerbrach die hoffnungsvolle Allianz, und an der grassierenden Korruption im Staate hat sich ebenso wenig geändert wie an der Macht der Oligarchen. „Gemessen an europäischen Regierungsstandards, ähnelt die Ukraine eher Pakistan als Polen“, stellt der reisende US-Gelehrte Parag Khanna fest.

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Blumenverkäuferinnen vor der St.Michaels-Kathedrale

„Auch wenn im Lande immer wieder nach externen Gründen für die außenpolitischen Probleme gesucht wird, steht die Ukraine sich in diesen Fragen derzeit klar selbst im Weg“, glaubt der Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew, Nico Lange. Vor allem in der Bekämpfung der endemischen Korruption gehe es kaum voran. Die Ukraine steht auf dem Bestechlichkeitsindex von Transparency International auf Platz 118, noch hinter Mosambik, der Mongolei, Burkina Faso und Ruanda. Ein Universitätsdiplom, heißt es, sei derzeit für etwa 500 Dollar zu haben. Die Befreiung vom Militärdienst koste ungefähr das Dreifache.

Wie sollte sich die EU verhalten gegenüber diesem willigen, aber unreifen Aspiranten? Fragt man ukrainische Politiker, ist die Antwort klar: Wir brauchen die EU, um uns zu reformieren. Im Außenministerium, dessen Fassade eine gigantische Europaflagge ziert, sagt ein Diplomat: „Es geht nicht zuletzt um das Gefühl, dazuzugehören.“ Aber wer hindert die Ukraine, ihre Gesetze dem acquis communitaire, dem Europäischen Gemeinschaftsrecht anzupassen? „Wir wollen unser Recht ja anpassen“, antwortet der Mann, „besonders das Wirtschaftsrecht. Aber dafür brauchen wir substanzielle Hilfe aus Brüssel. Beratung und Überwachung, unter anderem.“

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Touristensouvenirs – Bush und Putin als Babuschkas

Mächtige Stimmen innerhalb der EU sehen es genau umgekehrt. Die Ukraine müsse sich erst einmal aus eigener Kraft zur modernen Demokratie entwickeln. Ein Gesprächspartner aus Berlins Regierungskreisen fasst die deutsche Haltung so zusammen: „Die Mitgliedschaft in der EU ist kein Hebel zur Demokratie. Sie ist die Krönung. Demokratien in unserer Nachbarschaft zu stabilisieren, ist die Aufgabe kluger Außenpolitik, von Nachbarschaftsprogramm und von politischen Stiftungen.“ Die EU sei schließlich keine Erziehungsanstalt. „Das Schlagwort Erweiterung löst bei den Regierungschefs rund um den Brüsseler Ratstisch derzeit eher negative Vibes aus“, sagt einer, der es weiß. Im Abschluss-Communiqué des jüngsten EU-Ukraine-Gipfel wurde mit Bedacht ein Wort ausgespart. Das von der „Mitgliedschafts-Perspektive“. Die Ukraine wird zunächst mit einem „Assoziationsabkommen“ zur Förderung des Freihandels Vorlieb nehmen müssen – ebenso wie Albanien, Mazedonien und Serbien.

Vielleicht hat Europa seinen Namen noch so verdient wie heute. Er kommt von der griechischen Abendgöttin, die so verführerisch am Strand von Sidon spielte, dass der Gottvater Zeus sich schon nach kurzem Zuschauen in sie verliebte. Doch die Schöne gab sich höflich desinteressiert. Zeus musste sich in einen Stier verwandeln, damit Europa seinem Werben nachgab. Damenhafte Reserviertheit gegenüber voreiliger Nähe – ist das nicht genau die Haltung, die Europa heute ausmacht?

Wenn der Vergleich stimmt, dann stimmt es auch, dass die EU genauer hinsehen sollte, mit wem sie Bande knüpft. Die Ukraine hat sicher das Zeug zum Stier. Aber was ist ihr wahres Wesen?

Im zehnten Jahrhundert ruderten Wikinger in ihren Drachenbooten den Dnjepr von Ostsee bis zum Schwarzen Meer hinunter und fassten dabei auch in Kiew Fuß. „Rus“, Ruderer, nannten die slawische Bevölkerung die Siedler aus Skandivien. In Allianz mit örtlichen Fürsten trugen die Nordmänner wesentlich zur der Entstehung des Kiewer Reiches, sprich: zur Geburt Russland bei.

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Der Dnjepr trennt Ost- und Westukraine

Bis heute fühlt sich eine Mehrheit der Bevölkerung östlich des Dnjepr kulturell Russland zugehörig. Die Menschen im Osten der Ukraine (der Landesname bedeutet übrigens „Grenzland“) sprechen Russisch, und die Erinnerung an Sowjet-Zeiten ist bisweilen wehmütig.

Wenn die Menschen dort von der EU träumen, träumen sie nicht von einer transatlantischen Wertegemeinschaft, sondern von einer eurasischen. Die Variaton, welche die Ukraine für das traditionelle Selbstbild der EU hätte, zeigt sich in der strikten Ablehnung jeder amerikanischen Vormachtstellung. Während eine Zugehörigkeit zur EU selbst von moskautreuen ukrainischen Politikern unterstützt wird, lehnt der russland-orientierte Bevölkerungsteil des Land eine Mitgliedschaft in der amerikanisch dominierten Nato strikt ab.

Wohin würde also der Stier Ukraine die holde Europa entführen? In Mythologie ritt sie mit ihm nach Kreta. In unserer Zeit würde der Kurs nach Osten weisen. Oder, in anderen Worten: hin zu einem neuem Westen. Einem mit immer weniger Amerika. Die Frage, über die sich vielleicht auch die Ukrainer Gedanken machen sollte, lautet: Wollen sie wirklich die EU als EU? Wollen sie das Europa der havarierten Verfassungsverträge, der Karlspreise und der Förderbürokratie? Oder wollen sie die EU bloß als Alternative zu Russland? Das wäre ein großer Unterschied.

 

Zu sanft für diese Welt

Zehn Jahre ist es her, dass die Europäische Union im französischen St. Malo eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschloss. Was ist eigentlich daraus geworden?

Europa, so das Fazit, betreibt Verteidigungspolitik auf die denkbar langsamste Art: auf Basis kleinster gemeinsamer Nenner

Ein Report

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Wer das militärische Hauptquartier der Europäischen Union betritt, ist gleich zweifach erstaunt. Erstens darüber, dass es so etwas überhaupt gibt. Und zweitens über die Sicherheitssorgen der EU-Soldaten. Die Kontrollen am Eingang des Bürogebäudes mitten im Eurokratenviertel von Brüssel fallenstrenger aus als am Empfangsschalter der Nato, jenes großen transatlantischen Konkurrenten draußen vor den Toren der Stadt. Freundliche Wachen bitten den Besucher, neben dem Handy auch seinen USB-Stick am Empfang abzugeben.

Ja, können denn EU-Truppen Feinde haben? Sie sind schließlich notorisch unaggressiv, keine andere Weltmacht wie die aus Brüssel schickt derart diplomatische, derart neutral, sprich: solch tiefblaue Friedensbringer in ferne Länder. Die neueste Manifestation der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) macht sich gerade abmarschbereit für Georgien. Mindestens 200 Beobachter der EU sollen von Anfang Oktober an die Waffenruhe überwachen, die Tbilissi und Moskau nach dem Krieg um Südossetien und Abchasien vereinbart haben. Ausschließlich ziviles Personal, betonen EU-Diplomaten, werde an den Kaukasus entsandt – 40 Kräfte auch aus Deutschland –, um verbotene Truppenbewegungen oder Munitionsdepots in der Krisenregion aufzuspüren.

Natürlich ist das ein Soldatenjob. Aber ebenso natürlich wird die EU sich hüten, in Armeeuniform an den Rändern Russlands zu patrouillieren. Europas Stärke, so die Philosophie seiner Sicherheitsdenker, sind gerade seine Sanftheit, seine Glaubwürdigkeit als Mittler. Ob in Bosnien, dem Kosovo, den Palästinensergebieten, Afrika oder Aceh in Indonesien – wo Europa eingreift, wandeln sich seine Soldaten, Polizisten und Richter zu Nannys für schwer erziehbare Regierungen, zu Sozialarbeitern zwischen Milizenfronten. Was gut war für Europa – Versöhnung, Demokratie und Respekt vor Vielfalt –, kann schließlich für den Rest der Welt nicht schlecht sein. Oder?

Die Frage ist bloß, wie die EU ihre Prinzipien – im konkreten Fall das Eintreten für die territoriale Integrität Georgiens und die Nichtanerkennung von Südossetien und Abchasien – in operative Politik übersetzt.

Im Kaukasus-Case steht zu befürchten: gar nicht.

Weder wird die EU einen weiteren Konflikt mit Russland riskieren, um seine Beobachter in die eigentlichen Krisenregionen hinein zu bekommen, noch wird Brüssel Moskau drängen, die Vertreibungen von Georgiern aus den Provinzen rückgängig zu machen. Europäische Peacebuilding bedeutet in der Praxis, die eigenen Überzeugungen zugunsten einer weitgehenden Neutralität zu verwässern.
Eben dieser Spalt zwischen hehrem Anspruch und nüchterner Wirklichkeit zieht sich durch die gesamte Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

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Die französische Ratspräsidentschaft hatte sich vorgenommen, das militärische Profil der EU zu ungeahnter Schärfe zu schleifen.
Dann kam anderes dazwischen.

Die Selbstwahrnehmung der EU als Soft Superpower, sie mag zwar auf den ersten Blick stimmen. Zwischen 2002 und 2004 waren nach Zählung des Pariser EU Institute for Strategic Studies deutlich mehr europäische Soldaten (33 261) in Friedensmissionen eingesetzt als amerikanische (20 966). Gleichzeitig pflegt das europäische Militär ein gänzlich anderes Lebensgefühl als das amerikanische; es fühlt sich im Frieden, nicht im Krieg.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die EU regelmäßig so niedrigschwellig interveniert, weil jeder Entsendebefehl zugleich den militärischen Minimalkonsens von 27 Mitgliedsstaaten widerspiegelt.

Ein irischer Offizier führt durch die »Operationszentrale« des EU-Militärstabes in Brüssel. In dem Raum, etwa so groß wie drei Klassenzimmer, sieht es aus wie im Arbeitsstall eines Start-up-Unternehmens. Dunkle Flachbildschirme reihen sich aneinander. Das knappe Dutzend Stuhlreihen ist leer.

Bis zu 2000 Soldaten, sagt der Offizier, könnten von hier aus im Ausland geführt werden. Theoretisch. »Aktiviert worden ist das Zentrum seit seiner Gründung 2007 noch nicht.« Denn noch werden die EU-Missionen in aller Welt von nationalen Befehlsständen aus geführt.

Europa mag grenzenlos geworden sein – seine Verteidigungspolitik ist es noch lange nicht. Noch immer dienen die meisten Soldaten und das meiste Gerät zur Verteidigung der Nationalstaaten.

Europas Kraft bleibt daher zersplittert. Die EU verfügt mit 1,9 Millionen Soldaten zwar über mehr Streitkräfte als die USA (1,5 Millionen), und zusammen bringen die Mitgliedstaaten fast ein Viertel der weltweiten Militärausgaben auf. Doch Europas statistische Stärke ist dividiert in je 27 Oberkommandos, Heere und Luftwaffen sowie 22 Marinen. Zudem ist der Zuschnitt der Armeen veraltet. So bringt die EU aus Kalten-Kriegs-Kontingenten zwar noch immer viele Heeressoldaten, 10 000 Kampfpanzer und 2500 Jagdflieger auf – nicht aber genügend weitreichende Transportflugzeuge und staubfeste Hubschrauber, um ihre Truppen in Krisengebiete zu fliegen. Nur ein Fünftel aller europäischen Soldaten gelten derzeit als „verlegbar“.

Im Tschad beispielsweise, wo 3700 EUFor-Soldaten Flüchtlinge aus dem Sudan beschützen sollen, ist Europa auf die Hilfe Russlands angewiesen. Moskau schickte auf Brüsseler Bitten hin vier MI-8 Transporthubschrauber samt 200 Mann Betriebspersonal in den Tschad Ohne sie wäre die EU-Mission gelähmt. Regelmäßig klagen Offiziere außerdem über mangelnde Satellitenaufklärung und inkompatible Kommunikationssysteme der verschiedenen Truppen.

Immerhin hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass europäische Soldaten künftig schneller und besser in modernen Krisen eingesetzt werden sollen, ob zur Terrorprävention, zur Eindämmung regionaler Konflikte oder zum Stopp von illegalem Waffenhandel. Bundeswehr, British Army und Armée française bemühen sich daher um Strukturreformen.

Nur fünf Länder, Großbritannien, Frankreich, Bulgarien, Griechenland und Zypern, geben derzeit mehr als 2 Prozent ihrer jährlichen Haushaltssummen für Verteidigung aus und treffen damit die Marke, die sich alle Nato-Mitglieder selbst gesetzt haben. Am anderen Ende der Skala, weit unter der 2-Prozent-Schwelle, liegen Deutschland, Spanien, Schweden, Österreich und Irland.

Hinzu kommt, dass die militärische Großplanung ist in Europa nach wie vor ein geradezu absurd nationales Geschäft ist. Bis zu 200 Milliarden Euro könnten eingespart werden, wenn die EU-Mitgliedsstaaten ihre Verteidigung gemeinsam koordinieren würden, schreibt Nick Witney in einem Report für den European Council on Foreign Relations.

Doch der Brite, der bis vor Kurzem die Europäische Verteidigungsagentur leitete, kennt die Realität nur zu gut. Bisher hätten »die EU-Mitgliedsstaaten wenig getan, um diesem Ziel näher zu kommen«, lautet sein Fazit. Mehr als einmal hat Witney erleben müssen, wie Europas Verteidigungsministerien munter Waffensysteme nur für ihr Land entwickeln lassen und die Kooperation an nationalen Eitelkeiten scheitert. Witney wirbt auf seinen Reisen durch Europa unverdrossen für eine besser abgestimmte Rüstungspolitik. Bislang mit begrenztem Erfolg.

Im Durchschnitt werden nur 12 Prozent aller Rüstungsprojekte europaweit ausgeschrieben. Die Bundesregierung steht dabei ganz weit hinten. Sie stellt nur 2 Prozent der Beschaffung für die Bundeswehr in den europäischen Wettbewerb. In Frankreich, zum Vergleich, beträgt die Ausschreibungsquote 20 Prozent. In Zukunft, so will es das Europaparlament, sollen Schluss sein mit den Ausflüchten in vermeintliche „nationale Sicherheitsinteressen.“ Rüstungsaufträge, so will es eine Richtlinie, die das Parlament im Januar 2009 verabschiedete, sollen künftig nur noch vergeben werden können, wenn zuvor eine europaweiten Ausschreibung stattgefunden hat. „Ich erwarte nicht über Nacht eine Revolution auf dem Markt“, sagt der liberale Europaabgeordnete Alexander Lambsdorff, „aber es dürfte immerhin vorbei sei mit dem Missbrauch des bisherigen Ausschreibungsrechts.“ Freilich werden sich dann auch die Deutschen daran gewöhnen müssen, dass ihre Soldaten in Afghanistan künftig nicht mehr in Mercedes-Jeeps durchs Gebirge fahren, sondern in Renaults. Andererseits könnte das britische Militär auf Daimler-Laster umstellen.
Insgesamt erhofft sich Lambsdorff eine Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie – bei gleichzeitig sparsamerem Einsatz von Steuergeldern. Und langfristig auch eine ausbalanciertere transatlantische Investitionslandschaft. „Es gibt derzeit 89 militärische Forschungsprojekte in der EU, in den USA sind es nur 27“, so Lambsdorff. „Gleichzeitig haben die USA einen Anteil vom 48 Prozent am europäischen Rüstungsmarkt. Umgekehrt haben die EU-Hersteller einen Anteil von 2 Prozent der amerikanischen Militärbeschaffung.“

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Im Dezember will der Außenbeauftragte der Union, Javier Solana, eine neue Europäische Sicherheitsstrategie vorlegen. Sie wird allerdings, so viel ließ der Spanier schon durchblicken, trotz der Georgienkrise nicht noch einmal überarbeitet werden. Unsere Fotos zeigen belgische Soldaten auf der Rue de la Loi, der Hauptstraße des EU-Viertels in Brüssel

Dabei klingen selbst Kanzlerinnen und Kanzlerkandidaten bei offiziellen Anlässen ganz euphorisch. Kurz vor der 50-Jahr-Feier der EU plädierte Angela Merkel öffentlich für eine »EU-Armee«. Im Frühsommer dieses Jahres zog Außenminister Steinmeier nach. Auf einer Tagung der SPD-Bundestagsfraktion forderte er, die »Europäische Armee« so schnell wie möglich zu verwirklichen – sekundiert vom Generalinspektor der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan.

Seither ist die Integration europäischer Armeen selbst in militärischen Kreisen kein Tabu mehr. Zwar wissen die soldatischen Planer, dass es selbst bei gutem Willen Jahrzehnte dauern würde, um eine Parlamentsarmee wie die deutsche und eine Atommacht wie die Franzosen unter gemeinsamem Kommando steht. Doch auch sie halten das Ziel nicht mehr für irreal.

Der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Generalleutnant a. D. Kersten Lahl, warnt gar: »Europa muss seine Hausaufgaben machen und wird in der globalen Welt nur dann eine Rolle spielen, wenn wir auf allen Gebieten handlungsfähig sind. Das bedeutet vor allem die Verbesserung von Fähigkeiten, damit es als ernstzunehmender Partner der USA auch seine eigenen, europäischen Interessen umsetzen kann.«

Noch freilich bleibt der Spalt zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Eigentlich hätte die französische Ratspräsidentschaft in diesen Monaten zumindest ein paar Hürden aus dem Weg räumen wollen. Ursprünglich hatte Präsident Sarkozy einige weitreichende Pläne, um zumindest die Armeen einiger Pionierländer zur stärkeren Synergie zu bringen.

Doch inzwischen ist das vertagt – wegen der Iren. Seit die Nein zum Lissabon-Vertrag gesagt haben, ruht in Brüssel fast jedes Dossier, das mehr Integration bringen könnte, allen voran die Verteidigungspolitik. Zu groß ist die Angst, vor einem möglichen zweiten Referendum über den EU-Vertrag die falschen Signale nach Irland zu schicken.

Dabei könnte Europa seine Fähigkeiten schon heute selbstbewusster vermarkten, nach innen wie nach außen. Denn zwischen der oftmals prekären Sicherheit, die UN-Blauhelme bieten, und der »roten«, feuerstarken Sicherheit, die das US-Militär verbreitet, klafft eine geopolitische Marktlücke. Die Nische für die Europäer, sie hieße: weiche Sicherheit, hart durchgesetzt.

Das jedenfalls ist eine Vorstellung, die nicht nur draußen, beim ausgelaugten Bruder Nato, immer mehr Sympathisanten findet.

Mitarbeit: Petra Pinzler

 

Die neue Nato heißt EU

Oder: Wie der Georgienkrieg das Zentrum des Westens nach Osten verschoben hat

Welches Bündnis sorgt eigentlich noch für mehr Sicherheit in Europa?
Die Nato oder die EU?

Gut einen Monat nach Ende des Fünftagekrieges um die abtrünnigen Provinzen in Georgien drängt sich eine klare Bilanz auf. Die Nato hat sich durch eine amerikanisch injizierte Überreaktion selbst gelähmt. Unmittelbar nach Ausbruch der Kämpfe legte sie den Nato-Russland-Rat auf Eis und begab sich damit der Möglichkeit, als Mittler einzuspringen. Die EU hingegen hat zwar kleinmütig, am Ende aber wenigstens als formender Akteur gewirkt.

Zwar ist das Ergebnis von Sarkozys Pendel-Diplomatie zwischen Moskau und Tiflis nicht formidabel (die EU nimmt es hin, dass die von ihr noch immer als georgisch betrachteten Provinzen Südossetien und Abchasien von 7600 russischen Soldaten überflutet werden, dass ethnische Säuberungen ungesühnt bleiben und dass ihre Beobachter sich auf Kerngeorgien beschränken müssen). Aber immerhin reden die Konfliktparteien mit Brüssel, ja, sie nehmen die EU als halbwegs unparteiisch war – im Gegensatz zu den Amerikanern, die von Anfang an wie eine pro-georgische Schutzmacht auftraten.

Die Ukraine hat (die innenpolitischen Gründe einmal unerwähnt) daraus eine interessante Lehre gezogen. Sie strebt vor allem eine EU-Mitgliedschaft an, erst dann, vielleicht, einmal eine Mitgliedschaft in der Nato.

Das Resüme der Georgien-Krise lautet deshalb: Das Solidaritäts- und Sicherheitsversprechen des Westens hat sich nach Osten verschoben. Weg von der Nato, hin zur EU. Der Westen ist nicht mehr Washington-zentrisch, er ist Brüssel-zentrisch.

Diese Entwicklung ist auch eine Folge der gewandelten Vorstellungen von den Methoden, die geopolitische Sicherheit schaffen. Der Paktgedanke der Nato, sprich: mit überlegener Raketen- und Soldatenschlagkraft den Gegner abzuschrecken, ist überholt.
Laut einer Umfrage des Institutes Harris und der Financial Times von September würden 50 Prozent aller Deutschen, 40 Prozent aller Spanier und 39 Prozent aller Italiener es ablehnen, nationale Truppen zur Verteidigung der Baltenstaaten zu schicken, falls diese von Russland angegriffen würden. 73 Prozent der Deutschen und 62 der Franzosen lehnen es außerdem ab, trotz der neuen Aggressivität Russlands mehr Geld für die Verteidigung auszugeben. Und fast die Hälfte aller Deutschen, Engländer und Franzosen stehen einem möglichen Nato-Beitritt Georgiens und der Ukraine gleichgültig gegenüber.

In der globalisierten Welt zählt eben mittlerweile ein anderer Gedanke: Wir alle sind auf wirtschaftlichen Austausch angewiesen. Wer aber gemeinsam engen Handel treibt, der entwickelt auch besonderes enge gemeinsame Interessen – inklusive Sicherheitsinteressen.

Zu dieser These zwei Proben aufs Exemple:

Finnland ist kein Nato-, wohl aber ein EU-Mitglied. Was würde nun passieren, wenn Russland den finnischen Teil der Grenzregion Karelien angreifen würde (das ist kein besonders wahrscheinliches Szenario, aber nehmen wir es einfach einmal an)?
Es stünde wohl außer Zweifel, dass die EU (jedenfalls ihre Eliten) reagieren würde wie ein Militärbündnis. Sofortige Sanktionen, Reisebeschränkungen und das Ende aller Partnerschaftsverhandlungen mit Moskau wären die erste Folge, Truppenmobilisierungen und eine Alarmierung der EU Battle Groups höchstwahrscheinlich die zweite. Die EU würde sämtliche Zähne zeigen. Ganz einfach deshalb, weil sie in Finnland handfeste Interessen bedroht sähe. Allen voran die Integrität ihres Wirtschaftsraumes.
„In Finnland lautet ein Argument gegen den Nato-Beitritt, er sei doch einfach nicht nötig. Schließlich seien wir doch EU-Mitglied, und niemand traut sich ein EU-Mitglied anzugreifen“, sagte mir unlängst ein finnischer Diplomat in Brüssel.

Nun die Gegenprobe:

Die Türkei ist Nato-, aber kein EU-Mitglied. Was würde wohl passieren, wenn Russland die Türkei angreifen würde, an der Schwarzmeerküste etwa. Kein Zweifel. Europa brächte längst nicht so viel Solidarität auf wie im Finnland-Fall. Im Nato-Hauptquartier würden die Gesandten aus Berlin, Paris oder Warschau so lange wie möglich nach politischen Alternativen suchen, um bloß nicht einen ihrer Soldaten an den Bosporus entsenden zu müssen.

Was lernen wir daraus? Die EU ist de facto die viel stärkere Solidargemeinschaft als die Nato. Weil sie die viel stärkere Schicksalsgemeinschaft ist. Der Begriff der „Finnlandisierung“ stand in der Sicherheitpolitik früher einmal für etwas anderes. Heute könnte er als Chiffre stehen für die natürliche Fürsorge, die ein Freundeskreis wie die EU sich untereinander gewährt.

It’s the economy, stupid! – diese Weisheit gilt auch für die Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts.

Mehr zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der aktuellen Print-Ausgabe der ZEIT, Seite 9