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Schmerz durch Kuscheln

Sarkozys Moskau-Reise zeigt: Europa beginnt, seine eigentliche Stärke zu entdecken. Es ist die rücksichtslose Kooperation mit den Rändern Russlands

Die ganze Kraft und den ganzen Kleinmut Europas vereinte Nicolas Sarkozy in Moskau in nur einem Satz. „In einem Monat werden die russischen Truppen von georgischem Territorium abgezogen sein, mit Ausnahme natürlich von Ossetien und Abchasien“, sagte der französische Staats- und derzeitige EU-Ratspräsident nach einem vierstündigen, angeblich spannungsgeladenen Gespräch mit dem russischen Präsidenten Dimitri Medwedjew über die Krise im Kaukasus.

Teil eins des Satzes, die russische Abzugszusage aus dem georgischen Kernland, ist der kleinst denkbare Erfolg, den Sarkozy für die Europäische Union Anfang dieser Woche mit nach Hause bringen konnte. Alles andere wäre für die EU eine blanke Blamage gewesen.

Auf ihrem Brüsseler Krisengipfel schließlich hatten die 27 Staatschefs diese Forderung (die nach ihrer Ansicht ja schon im Waffenstillstandsabkommen vom 12. August festgeschrieben war), mit aller der Gemeinschaft möglichen Verve bekräftigt. Solange noch ein russischer Soldat jenseits der abtrünnigen Provinzgrenzen stehe, lautete die sachte Drohung der EU, werde es keine weiteren Verhandlungen über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland geben.

Zurück zum institutionellen business as usual könnte es jetzt schneller gehen als erwartet. Spätestens bis zum 1. Oktober will die EU in der Pufferzone zwischen Abchasien und Südossetien 200 Beobachter in Stellung bringen, im Austausch für die 500 russischen Soldaten, die sich dort völkerrechtswidrig eingegraben haben. Diese Einheiten, so Medwedjews Zusage, werden sich binnen zehn Tagen nach Ankunft der Europäer zurückziehen. Wohin sie marschieren, falls sie marschieren, liegt nahe: zu ihren Kameraden in jene beiden Provinzen, die Russland nach dem georgischen Angriff auf Tschinwali erobert, einseitig anerkannt und allem Anschein nach in den Tagen darauf ethnisch „gesäubert“ hat. Dies jedenfalls legt die georgische Regierung derzeit vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag mit einiger Überzeugungskraft dar.

Genau diese Vorgeschichte lässt den zweiten Teil von Sarkozys Moskauer Erfolgsmeldung verrutscht erscheinen. Wie kann es „natürlich“ sein, dass Europa zu der russischen de-facto-Einverleibung Südossetiens und Abchasiens schweigt? Selbst wenn Georgiens Präsident Michael Saakaschwili den Krieg begann, indem er in Tschinwali Zivilisten bombardieren ließ, und selbst wenn man die russische Argumentation eine historische Sekunde lang ernst nimmt, lediglich die eigenen Staatsbürger verteidigen zu wollen, so rechtfertigt das eine Verbrechen nicht das andere, und schon gar nicht entschuldigt die zweifelhafte neue Doktrin eines Ethno-Protektionismus den beispiellosen Unilateralismus, mit dem Russland die Karte des Kaukasus neu zeichnet.

Wie entschiedener der Tonfall der amerikanischen Außenministerin Condoleeza Rice in einem Beitrag in der FAZ vom 24. September:

„Auf beiden Seiten wurden Fehler gemacht“, stellt Rice über die gegenseitigen Provokationen von Russland und Georgien fest, „aber die Reaktion der russischen Führung – der Einmarsch in ein souveränes Land über eine international anerkannte Grenze hinweg, und dann der Versuch, das Land durch die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens zu zerteilen – war unverhältnismäßig.“

Diese Aggression fordere vom Westen erstens Standhaftigkeit:

„Wir können es uns nicht leisten, die Vorurteile zu bestätigen, die einige russische Politiker anscheinend haben: dass, wenn man Druck auf freie Nationen ausübt – wenn man einschüchtert, bedroht und losschlägt, wir aufgeben und uns letztendlich geschlagen geben werden. Die Vereinigten Staaten und Europa müssen derartigem Verhalten die Stirn bieten und dürfen es nicht erlauben, dass die Aggression Russlands irgendeinen Nutzen hat.“

Und zweitens eine klare strategische Ansage an Russland:

„Die Vereinigten Staaten und Europa werden nicht zulassen, dass die russische Führung doppelgleisig fährt und auf der einen Seite die Vorteile der internationalen Regeln, Märkte und Institutionen genießt, aber gleichzeitig ihre unmittelbaren Grundlagen in Frage stellt. Es gibt keinen Mittelweg. Ein Russland des 19. Jahrhunderts kann nicht Seite an Seite mit einem Russland des 21. Jahrhunderts in der Welt auftreten.“

Über das politisch wie moralisch Widernatürliche, das währenddessen in Sarkozys „Natürlich“ liegt, dürfte die EU schon bald wieder in Streit geraten. Denn während das „kalte Europa“ (die Baltenstaaten, Polen, Schweden und Großbritannien) nach wie vor der Ansicht ist, Russland müsse spürbarer bestraft werden, um weitere moskowiter Ausfallschritte zu verhüten, glaubt das „warme Europa“ (Frankreich, Deutschland und Italien), Russland am besten durch neue Sicherheitskooperativen zähmen zu können. Während des EU-Außenministertreffens vergangene Woche in Avignon trat diese Spaltung noch einmal klar zu Tage.

Vor allem Frank-Walter Steinmeier will die EU auf Konferenzkurs bringen. Zunächst soll am 15. Oktober in Genf ein internationales Treffen über die Zukunft des Kaukasus stattfinden. Darüber hinaus hat die Türkei angeboten, eine „Stabilitätskonferenz“ für die Schwarzmeeranrainer Ukraine, Moldawien, Russland, aber auch Armeniern und Aserbaischdschan auszurichten. Sie könnte, glaubt ein deutscher Diplomat, zu einem „dauerhaften Mechanismus“ werden, zu einer Art Kaukusus-OSZE also.

Tatsächlich ist zu hoffen, dass die Dialog-Befürworter der EU auf den noch anstehenden Krisentreffen der Gemeinschaft die Oberhand behalten. Denn die Steinmeierisierung der europäischen Russlandpolitik ist (ja, liebe Blogleser, damit auch etwas Abbitte) richtig. Allerdings nur deshalb, weil sie keineswegs so defensiv ist, wie ihre Verteidiger glauben.

Russland lässt nicht mit Peitschenhieben (Ausschluss aus den G8, Visa-Beschränkungen, Blockierung des WTO-Beitritts) zur Kooperationspolitik zwingen. Nachdenklich werden allerdings dürften die Putinisten, wenn der Westen jetzt umso entschlossener den Druck der russischen Pipelines drosseln würde – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Russland tritt vor allem deshalb so selbstsicher auf, weil es sich erfolgreich zum geopolitischen Nadelöhr für Gas- und Öllieferung nach Europa gemacht hat.

44 Prozent der Deutschen fürchten laut einer Allensbach-Umfrage, dass Russland seine Öl- und Gasvorräte nutzen könnte, um Deutschland politisch zu erpressen.

Mit jedem Schlauchanschluss, den der Westen selbst Richtung Kaspisches Meer legt, mit jedem Kubikmeter Gas, der durch die Nabucco-Pipeline vorbei an Russland, durch Aserbaidschan durch Georgien und die Türkei in die EU geschleust wird, werden die Europäer einen Teil dieser Angst und Moskau damit einen Teil seiner außenpolitischer Arroganz verlieren. Deshalb ist alles gut, was der Stabilisierung dieser Länder dient, alles, was Investoren anlockt und alles, was einen echten Wettbewerb um Rohstoffe zulässt, die in der Hand von Nationalisten schlecht aufgehoben sind. Das hübsch-perfide an der Europäischen Nachbarschaftspolitik ist, dass sie das Potenzial hätten, Russland zu isolieren ohne dass die EU irgendwelche Sanktionen gegen Moskau verhängen müsste. Die EU müsste bloß die russische Peripherie so warm an sich binden, dass sich Russland im Vergleich unterkühlt fühlt.

Öl und Gas machen Russland unilateral. Etwas weniger davon könnte es zum besseren Partner machen.

 

„Vielleicht war der Weckruf noch nicht laut genug“

Die Ukraine fürchtet, nach Georgien könnte auch sie in den Moskauer Klammergriff geraten. Die Regierung ruft deshalb die Europäische Union auf, sie in ihren Sicherheitsraum einzubinden

Ein Interview mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der Ukraine

Grigorij Nemyria deutet aus dem Fenster seines Büros über die Kiewer Innenstadt hinweg auf die funkelnden Türme der Klosterkirche St. Michael. Vor ein paar Jahren erst haben die Ukrainer die orthodoxe Kathedrale wieder aufgebaut. „Die Bolschewisten haben sie in den Dreißiger Jahren abgerissen“, erzählt der Vize-Premierminister. „An ihre Stelle wollten sie eine riesige Stalin-Figur setzen, sie sollte weit über das Dnjepr-Tal blicken.“ Aus der gigantomanischen Idee wurde nichts; was blieb, war das erste Segment eines gewaltigen Rundbaus, der den Stalin-Platz umschließen sollte. Es beherbergt heute das ukrainische Außenministerium. Die riesige blaue Europa-Flagge, die über seine graue Fassade gespannt ist, sie ist selbst von hier aus noch zu sehen.
Vize-Premier Nemyria ist gerade aus Georgien zurückgekehrt. Was er dort gesehen hat, hat ihn darin bestärkt, dass die Ukraine, jenes sicherheitspolitische Niemandsland zwischen Russland und der Nato, schnellstens eine klare Westbindung braucht. Am besten durch eine Art Sicherheitsgarantie der Europäischen Union. Am besten schon in den nächsten Wochen.
„Die Lehren aus Georgien lauten: Grauzonen sind gefährlich. Das Sicherheitsvakuum hat sich ausgedehnt. Die Ukraine befindet sich in diesem Vakuum.“ Nemyria, ein nüchternder Historiker, neigt nicht zu schlichten Parolen. Aber vielleicht genau deswegen scheint es gerade zu köcheln unter seiner akademischen Oberfläche.

Herr Nemyria, Sie sind gerade aus der georgischen Hauptstadt Tiflis zurückgekehrt, wo Sie Hilfsmaßnahmen koordiniert und Solidarität mit der georgischen Regierung demonstriert haben. Was sind Ihre Eindrücke?

Die Menschen sind geschockt. Gerade hatten sie gemerkt, dass es wirtschaftlich ein wenig bergauf geht. Jetzt fühlen sie sich um fünfzehn Jahre zurück geworfen. Viele Schulen zum Beispiel sind jetzt mit Flüchtlingen überfüllt, das Schuljahr wird also nicht wie üblich beginnen können, sondern vielleicht erst Ende Oktober. Die Regierungsvertreter, die ich getroffen habe, waren auch körperlich gezeichnet von den vergangenen Wochen. Einige redeten übrigens auch über Fehler, die man möglicherweise gemacht habe. Was freilich zeigt, dass Georgien ein Land ist, in dem die Opposition zu Wort kommen kann.

Welche Folgen hat dieser Konflikt nun für Ihr Land? Die Ukraine befindet sich ja in einer ähnlichen sicherheitspolitischen Grauzone zwischen der Nato und Russland wie Georgien.

So ist es. An den Begriff der Grauzone sind wir ja nun schon seit fast zwanzig Jahren gewöhnt. Und ich darf Sie daran erinnern, dass Ukraine einen gefrorenen Konflikt an ihrer Grenze hat, nämlich mit Transnistrien. Das ist übrigens nicht nur unser Problem, sondern auch eines für die EU, denn Transnistrien liegt auch an ihrer Grenze.
Darüber hinaus haben wir auf der Krim eine Lage, die alle typischen Voraussetzungen für die Entstehung eines gefrorenen Konflikts erfüllt. Die Krim ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einer der möglichen flashing points. Immerhin hat es die Ukraine bisher geschafft, ethnische Gewalt auf ihrem Territorium zu verhindern, was für den Zusammenhalt der Zivilbevölkerung und die Reife der politischen Klasse spricht.
Die Lehren aus Georgien lauten: Grauzonen sind gefährlich. Das Sicherheitsvakuum hat sich ausgedehnt. Die Ukraine befindet sich in diesem sich ausdehnenden Vakuum. Regionale Konflikte können sich, wenn die USA durch irgendeine Präsenz involviert sind, zu großflächigen, wenn nicht gar globalen Konflikten auswachsen.

Was folgt daraus für die Europäische Union?

Die EU hat den Kaukasus nicht ernst genug genommen. Die europäischen Führer glaubten, sie könnten mit diesen gefrorenen Konflikten und Grauzonen endlos lange und bequem leben. Sie dachten, sie könnten die Sache in den politischen Kühlschrank legen.

Es gibt ukrainische Intellektuelle, die fürchten, Russland könnte die Krim als ein ukrainisches Südossetien benutzen. Moskau könnte vorgeben, die russischsprachige Bevölkerung dort vor der Unterdrückung der Kiewer Regierung „schützen“ zu müssen. Ist das ein glaubwürdiges Szenario? Hat die Ukraine hier eine Achillesferse?

Nun ja, jedes Konfliktmanagement sollte mit einem Worst-Case-Szenario beginnen. Und dies wäre in der Tat der schlimmste Fall. Um dies zur verhindern, sollten wir politische Antworten parat haben. Die Krim gilt seit der Unabhängigkeit der Ukraine als der potenziell gefährlichste flashing point mit Russland. Denn in Hafen von Sewastopol ist die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Außerdem leben dort etwa 300 000 Krimtataren, die während des Zweiten Weltkrieges vertrieben wurden und nun auf die Halbinsel zurückkehren. Trotz der Schwierigkeiten, die dies für die soziale Integration mit sich bringt, herrschen dort noch immer Frieden und Stabilität. Was die Krim allerdings braucht, ist ein Programm zur nachhaltigen wirtschaftlichen Belebung. Sie hat ein enormes touristisches Potenzial.

Mit der Schwarzmeerflotte hat Russland allerdings die Möglichkeit, die Lage zu destabilisieren. Drei Viertel der Einwohner der Hafenstadt Sewastopol sind ethnischen Russen, und deren Lebensunterhalt hängt an der Flotte.

Laut des Stationierungsabkommens werden Russlands Schiffe dort bis 2017 bleiben. Es war allerdings von Anfang an klar, dass dieses Abkommen Regelungslücken hat. Jetzt, während des Georgien-Konflikts, tritt eine dieser Lücken sehr klar zutage: Russische Kriegsschiffe sind von Sewastopol aus in die Konfliktregion ausgelaufen, ohne dass die ukrainische Seite etwas davon wusste. Es wäre wünschenswert, dass so etwas in Zukunft abgestimmt wird. Denn auch das lehrt uns der Südkaukausus: Es ist wichtig, der Versuchung unilateraler Entscheidungen zu widerstehen. Denn dies könnte die andere Seite provozieren und zu einer gefährlichen Eskalation führen.

Ist es also an der Zeit, das Sewastopol-Abkommen neu zu verhandeln?

Nein. Es gibt einfach Lücken im Abkommen. Und über die sollte im Rahmen des Schwarzmeer-Subkomitees zwischen beiden Präsidenten gesprochen werden. Wir müssen darüber mit den Russen reden. Wir müssen ihnen harte Fragen stellen. Aber wir müssen auch den Willen haben, einen Kompromiss zu finden.

Weil Sie nicht möchten, dass die Ukraine als Brückenkopf für weitere russische Aggressionen dient?

Kein Land will der Brückenkopf für die Aggressionen eines anderen Landes sein.

Unterschätzt der Westen die Bedrohungen, die derzeit vom Kaukasus ausgehen?

Natürlich! Vielleicht war der Weckruf noch nicht laut genug. Wir müssen uns jetzt schwerwiegende Gedanken machen, auch über die Veränderung unserer Politik. Wir sehen doch gerade, wie schnell gefrorene Konflikt entfrostet werden können – geradezu mit Mikrowellengeschwindigkeit. Es brauchte nur drei oder vier Tage, bis die Lage eskaliert war.
Und wissen Sie, die Ukraine ist eine Ex-Atommacht. Unsere militärischen Kapazitäten sind moderner, und unsere ist Armee größer als die von Georgien. Und wir haben potenzielle Konflikte an unseren Grenzen. Und wenn wir schon von Worst-Case-Szenarios sprechen: Es gibt, anders als in Georgien, Atomkraftwerke auf dem Territorium der Ukraine.
Ich will nicht von einem Dominoeffekt reden, aber es ist doch offenkundig für jeden, der auf die Landkarte sieht, wie die Lage ist.
Das Schwarzmeer ist im strategischen Sinne kein Binnenmeer. Es hat militärische Bedeutung, von seiner Wichtigkeit für die Ölförderung ganz zu schweigen. Die EU allerdings hat sich innerhalb ihrer Schwarzmeerpolitik bisher um Umweltschutz, kleinen Grenzverkehr und kulturellen Austausch gekümmert. Vielleicht sollte sich auch fragen, was passieren würde, wenn der Ölstrom versiegt.

Was erwarten Sie angesichts dieser Analyse konkret vom Westen, von Europa?

Nun, die Reaktion der EU auf die Georgien-Krise ist ja schon einmal sichtbarer als sonst. Ich denke, die EU reagiert damit auf das Versagen ihrer eigenen Nachbarschaftspolitik. Denn ein Ziel der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) war es, eine stabile und sichere Nachbarregion zu schaffen. Dieses Ziel ist gescheitert. Das zeigt, dass die ENP in ihrem jetzigen Zuschnitt und Instrumenten nicht geeignet ist, ihren Zweck zu erfüllen. Das spricht dafür, diese Politik upzugraden, oder sie um etwas zu erweitern, das garantieren würde, dass etwas Ähnliches in Zukunft nicht passieren kann. – Und dass die bereits ausgebrochenen Konflikte angemessenen kontrolliert werden können.

An welches „etwas“ denken Sie dabei?

Wir denken, dass die Ukraine in ungewöhnlich hohem Maße in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESDP) hineinpasst, besonders in deren Konfliktmanagementdimension. Denn trotz der flashing points, die wir im Land haben, ist die Ukraine ein außergewöhnlich stabiles Land. Ich darf unter anderem an die Erfahrungen der ukrainischen Friedenstruppen erinnern, die sie während ihrer Missionen im ehemaligen Jugoslawien und außerhalb Europas gesammelt haben. Wir haben Fähigkeit und Kenntnis zur Kooperation bewiesen. Die ukrainische Führung hat darüber hinaus die politische Absicht, formellere Bande mit der ESDP zu knüpfen. Wir halten sie für eine der, wenn Sie so wollen, strategischen Autobahnen in Richtung europäischer Integration der Ukraine. Dazu zählen natürlich auch Freihandelsabkommen und Visa-Erleichterungen.
Die zweite klare Schlussfolgerung aus dem Georgien-Konflikt lautet: Es gibt gemeinsame Bedrohungen, und niemand darf isoliert sein. Es muss deshalb gemeinsame Antworten geben. Weder ein Einzelstaat noch Staatengruppen sind in der Lage, den Ausbruch solcher Konflikte zu verhindern. Dies kann also keine Aufgabe für subregionale Organisationen sein.

Aber glauben Sie denn, Russland würde sich von einer engeren Einbindung der Ukraine in die ESVP beeindrucken lassen? Wäre nicht vielmehr die Nato das Mittel der Wahl, um Sicherheit für die Ukraine zu garantieren?

Beides widerspricht sich nicht. Aber sehen Sie, anders als Georgien haben wir eine Grenze zur EU. Diese unmittelbare Nachbarschaft spricht doch für eine engere Zusammenarbeit in der ESDP. Noch einmal, das wäre ein wichtiger Schritt. Damit würde die EU auch zeigen, dass sie es ernst meint mit der Ukraine und keine Entwicklung übersieht, die womöglich zu Instabilität an ihren unmittelbaren Grenzen führt.

Woran denken Sie konkret? An eine Art militärische Solidaritätsklausel der EU für die Ukraine?

Ich denke, darüber sollten wir sprechen, wenn wir das neue Partnerschaftsabkommen verhandeln. Es geht dabei ja auch um Garantien für unsere Souveränität.

Denken Sie also, die Ukraine sollte letzten Endes Mitglied einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft werden, wenn schon nicht Mitglied der EU?

Wir betrachten das nicht als Alternativen. Wir betrachten es eher als Phasen (stages). Wir werden nicht eine Submitgliedschaft im Club gegen die Vollmitgliedschaft eintauschen.

Werden Sie also während des EU-Ukraine-Gipfels am 9. September eine engere militärische Zusammenarbeit mit der EU fordern?

Das wäre ein guter Ort, die Verhandlungen zu führen. Schweden und Polen haben ja schon eine Initiative in dieser Richtung vorgelegt. Ich habe mit den Außenminister Bildt und Sikorski schon darüber geredet. Wir haben jetzt die Gelegenheit, diese Ideen aufzuwerten, mehr Kooperation zu erreichen, als sie Frankreich bisher vorschwebte. Ich registriere übrigens auch bei meinen deutschen Gesprächspartnern einen größeren Appetit auf Zusammenarbeit.
Wir erwarten von diesem Gipfel eine neue Dynamik für die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine. Wir brauchen neue Ideen und Diskussionen über die ESVP. Wir erwarten auch neue Ideen dazu, wie die Ukraine ein integraler Teil der Europäischen Energiesicherheit werden kann.
Die Nato-Perspektive steht diesen Vorschlägen nicht entgegen, sie ergänzt sie vielmehr. Aber natürlich wäre es für die Nato eingewöhnlich, ein Land einzubinden, das Konflikte auf seinem Territorium hat. Deshalb müssen wir alle ergänzenden (supplementary) Ideen erörtern.
Sehen Sie, unsere Bevölkerung ist in der Nato-Frage gespalten. Gegenüber der EU hingegen besteht Einigkeit. Deshalb ist, was die Unterstützung durch die Öffentlichkeit angeht, die EU-Schiene vielversprechender. Ganz davon abgesehen, dass die Nato-Staaten selbst gegenüber der Ukraine gespalten sind.

Auch für Russland wäre eine Einbindung der Ukraine in die EU wahrscheinlicher leichter verdaulich. Wollen Sie Ärger mit Moskau vermeiden?

Also, ich will nicht, dass Ärger-und-Angst-Erwägung irgendeinen Ausschlag geben. Russland fühlt sich doch selbst zu einem Teil europäisch. Natürlich will es nicht Teil der EU werden, aber es zeigt doch viel Ehrgeiz bei dem Versuch, ein neues strategisches Abkommen (framework) mit der EU zu schließen. Es wäre doch sehr legitim von der EU, hier eine Position zu beziehen. Die EU hat ein Interesse an einer stabilen Nachbarregion. Und die Position der Ukraine hat dabei eine Schlüsselbedeutung. Wegen unserer Größe und wegen unserer Rolle.

Lassen Sie mich dennoch eine gemeine Frage stellen. Die EU ist bisher nicht als ein besonders kraftvoller Akteur aufgefallen. Sie zeigt sofort Unterwerfungsgesten, wenn sie mit autoritären Regimes konfrontiert wird. Glauben Sie, dass es ihrem Land tatsächlich mehr Sicherheit bringen würde, wenn Europa ihnen eine Art Beistandsgarantie geben würde?

Sicherheit bedeutet nicht nur harte Sicherheit. Sicherheit bedeutet auch weiche Sicherheit, und Sicherheit hat auch eine wirtschaftliche Dimension. Europa weiß das doch. Es gibt eine gegenseitige Gas-Abhängigkeit zwischen Russland und der EU. Deswegen ist für uns zum Beispiel ein weitreichendes Freihandelsabkommen mit der EU ein Teil des Sicherheitsnexus – und ein klarer Pfad für die Ukraine. Das würde garantieren, dass es für Russland, um das mildeste Wort zu benutzen, kontraproduktiv wäre, die Anwendung irgendeiner Form von Gewalt in Erwägung zu ziehen.

Georgien Präsident Saakaschwili hat gesagt: „Die Sowjetunion kehrt zurück.“ Stimmen Sie ihm zu?

Nein. Die Ukraine war – als Erbe der Sowjetzeit – lange Zeit Opfer eines Kleiner-Bruder-Komplexes. Den bewältigen wir gerade erfolgreich. Die Ukraine ist ein unabhängiges, souveränes, demokratisches Land, das Land der Orangen Revolution. All das ist Grund gut für Selbstachtung und für ein Ende des Minderwertigkeitskomplexes.
Natürlich gibt es Anzeichen dafür, dass die so genannte „gesteuerte Demokratie“ zu Überreaktionen neigt, und das erinnert in gewisser Weise an alte Zeiten. Aber: Es gab in vielen Ex-Sowjetstaaten in den vergangenen Jahrzehnten Momente, die die Geschichte verändert haben. Für Polen war es die Solidarnocz-Bewegung, für Ungarn war es Budapest 1956. Für die Tschechen 1968. Für die Ukraine war es die Orangene Revolution 2004. Das war der Moment, der die Ukraine als europäischen Staat definierte.
Es bleibt noch abzuwarten, welches geschichtliche Ereignis sich in Russland abspielen wird, um ein neues Russland zu definieren. Ein Russland, das wirklich Teil der globalen Gemeinschaft sein will. Vielleicht die Olympischen Spiele in Sotschi? Oder die Wahl eines neuen Präsidenten?

Der russische Außenminister Lawrow behauptet allerdings heute schon, sein Land sei zusammen mit Amerika und Europa Teil der westlichen Zivilisation. Würden Sie dem nach den Ereignissen in Georgien noch zustimmen?

Sehen Sie, genau das habe ich unlängst den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Konstantin Kossatschew, gefragt. Ich sagte ihm, um bestimmen, was man sein will, muss man wissen, was man ist. Wir hatten die Orange Revolution. Was ist der definierende Moment Russlands? Kossatschew überlegt vielleicht 20 Sekunden lang. Dann sagt er: Die Wahl Präsident Putins im Jahr 2000. Das gibt Ihnen einen Eindruck vom Von-oben-nach-unten-Denken dieses Landes. Die Veränderung kam von oben, nicht von unten.

Die Frage ist nun natürlich, wie man Putin einschätzt. Ist er ein Imperialist?

Nun ja, es gibt so Definitionen von Imperialismus.

In Putins Fall könnte sie lauten: Er ist nicht bereit, Regierungen in seiner Peripherie zu dulden, die einen Westkurs einschlagen.

Ich denke, was im Südkaukasus passiert ist, ist ein Test für viele Führer, unter ihnen Putin. Auch ein Test für Saakaschwili. Kann er der Versuchung des Autoritarismus widerstehen? Auch ein Test für die europäischen Führer. Für Kanzlerin Merkel. Es ist ein sehr guter Zug, dass sie nach Sotschi und nach Tiflis gereist ist. Auch ein Test für die ukrainische Führung.

Im Moment gibt es in Europa zwei Strömungen. Die einen, die neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten, verlangen gegenüber Russland eine härtere Politik. Die anderen, inklusive Deutschland, bleiben einer weichen Dialogstrategie. Erleben wir noch einmal eine Teilung zwischen „altem“ und „neuem“ Europa?

Nein. Aber ich denke schon, wir stehen vor einem entscheidenden Moment. Wir sollten jetzt eine Politik entwickeln, die, lassen Sie mich es so sagen, immun gegen Improvisation ist. Alles andere wäre zum Scheitern verurteilt. Wir brauchen jetzt nüchterne Analysen und kollektive Antworten. Die ENP hat keine entwickelte Sicherheitsdimension. Wir brauchen jetzt einen Prozess, an dem sich sowohl die EU, wie auch der nächste amerikanische Präsident, wie auch Russland beteiligen können. Man kann keine globale Sicherheit herstellen, in dem man die Welt in Schwarz und Weiß aufteilt.

Die Ukraine strebt aber schon weiter die Nato-Mitgliedschaft an?

Ja. Vielleicht sollten wir jetzt, nach dem Georgien-Konflikt, auch noch einmal neue Meinungsumfragen in Auftrag geben. Vielleicht hat sich die Einstellung der Bevölkerung geändert – auch gegenüber Amerika.

 

Zuckersüßes Imperium

Soll sich die EU irgendwann bis in die Ukraine erstrecken?

Immer lauter wird in Brüssel derzeit über dieses Zukunftsszenario gesprochen – vor allem wegen der knappen Güter Gas und – pardon – Fraß. Der Kaukasus ist ein wichtiger Energiekorridor für Europa, quasi der Schlauch, der uns mit dem Gastropf des Kaspischen Meeres verbindet.

„Die Ukraine arbeitet weiter am Ausbau der Odessa-Brody-Ölpipeline nach Danzig in Polen und hat sich mit Georgien, Aserbaidschan, Polen und Litauen darauf geeinigt, bei diesem Projekt zu kooperieren. Dies könnte die Möglichkeit eröffnen, die Ölversorgung aus dem Kaspischen Meer deutlich zu steigern“, heißt es im jüngsten Fortschrittsbericht der EU-Kommission zur Ukraine.

Zudem könnte die Ukraine, ja tatsächlich, geopolitisch wieder als Getreidelieferant wichtig werden. Angesichts einer weltweiten Verknappung von Anbauflächen steigen seit langem die Preise für Weizen. Die gute Ernte von den riesigen Felder der Ukraine führte soeben einer spürbaren Erleichterung an den Börsen. Schon ventiliert Russland Pläne für eine „Getreide-OPEC“ mit dem Nachbarn.

Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy will im Herbst das derzeitige EU-Partnerschaftabkommen mit Kiew zu einem Assoziierungsabkommen aufwerten. Dies würde vor allem Erleichterung beim Handel nach Westen mit sich ziehen. Die ukrainische Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um knapp sieben Prozent gewachsen. Der zweitwichtigste Exportpartner des Land ist Deutschland, die Wachstumsraten betragen hier rund 30 Prozent pro Jahr.

Die osteuropäischen EU-Staaten, vor allem Polen und Tschechien, sehen die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union schon als Vorstufe der Vollmitgliedschaft der Ukraine in der EU. So illusorisch solche Pläne derzeit seien mögen, so sehr zeigt uns der Nachbar Ukraine, wie – sagen wir ruhig – selbstschöpfend die EU nach außen wirkt.

Denn egal ob man es nun Nachbarschaftspolitik, Partnerschaftsabkommen und EU-Beitrittsprozess nennt – ist nicht der generelle Befund wichtig, der uns die Avancen der Ukraine liefert? Ist es nicht Europas unausgesprochene Mission, sich als zivilisatorischer Standard auszubreiten und sich – vielleicht, letztendlich – in eine reine Idee umzuformen? Eine Idee, die Nachbarn einfach deswegen annehmen, weil sie ihnen richtig erscheint? Vielleicht ist die Vorstellung politischer Pächter am Rande Europas nicht verkehrt; die Ukraine, wie auch Moldawien oder die Türkei, verhalten sich in vielerlei Hinsicht wie Franchise-Nehmer der Marke EU. Sie übernehmen seine Spiel- und Marktregeln und machen sich damit ganz sachte zum Subunternehmer des Konzerns.

Institutionell betrachtet, trägt Europa alle Züge eines klassischen Imperiums: eine starke Zentrale, geteilte Souveränität, einen einheitlichen Rechtsraum, einen mächtigen Kern (die Gründerländer), unterprivilegierte Neumitglieder (diejenigen ohne Euro und mit Arbeitsbeschränkungen in den alten Ländern) und eine Peripherie aus möglichen künftigen Mitgliedern.

Der Unterschied zu klassischen Imperien ist freilich: Europa dehnt sich nicht durch Unterwerfung aus, sondern durch Überzeugung. Haben wir es also womöglich mit einer ganz neuen, unerprobten Art des Imperiums zu tun? Eines liberalen, wohlwollenden Imperiums?

Der Kommissionspräsident Manuel Barroso beantwortet diese Frage klar mit ja (bei 4:10 Minuten im Video).

Die Theorie ist nicht neu, sie stammt aus angelsächsischen Denkschmieden, aber gerade erst hat sie der deutsche Journalist Alan Posener prägnant zusammengefasst.

„Ob die alten Europäer es wollen oder nicht: Die Mitte liegt ostwärts, der Balkan schon lange nicht weit hinten in der Türkei, die Türkei nicht am Ende der Welt. Als geopolitisches Modell hat das Reich Karls des Großen ausgedient.“ (Imperium der Zukunft, S. 107)

Dann stellt sich allerdings Frage, ob ein solches (nichtimperiales) Imperium überhaupt jemals an Überdehnung leiden kann. Oder ob sein ultimativer Zweck nicht darin bestünde, seine Idee zu so weit zu tragen, bis es sich irgendwann in einer relativ gleichmäßig temperierten Welt auflöst.

Wie ein Stück Zucker eben, das den Kaffee etwas süßer gemacht hat.

 

In Freundschaft, vorwärts!

Was ist die neue Mittelmeerunion nun? Eine Friedenskooperative für den Nahen Osten mit europäischem Copyright? Oder ein milliardenschweres Entwicklungsprogramm für Nordafrika und die Levante, das die EU ohne weitere politische Vorbedingungen an eine stattliche Reihe von Diktatoren ausschüttet?

Im pompösen Stil einer Weltverbesserungskonferenz hatte Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy die Gründungsfeier für die neue Allianz zwischen den 27 EU-Mitgliedern und 17 Mittelmeeranrainern von Algerien bis zur Türkei begehen lassen. Mit zwei ausgestreckten Armen empfing er im Pariser Grand Palais zu Beginn Israels Ministerpräsident Ehud Olmert und den Palästinenserpräsident Mahmud Abbas – und konnte gegen Ende der Zusammenkünfte verkünden, Syrien und der Libanon wollten wieder Botschafter austauschen. Zugreifende Hände, lächelnde Antagonisten, das war das eine Bild des Mittelmeer-Gipfels.

Das andere definierende Motiv ließ sich von Pressefotografen schlecht einfangen; der Winkel war wohl zu groß. Es ist das des syrischen Staatschefs Baschir al-Assad auf der Ehrentribüne der Pariser Militärparade zum 14. Juli. Assad war, wie die anderen Staatsgäste, eingeladen, jenes Défilé auf den Champs Élysée abzunehmen, mit dem sich Frankreich alljährlich als Mutterland der Menschenrechte feiert. In stummer Contenance zogen die Paradesoldaten an dem Syrer vorbei, einschließlich eines Trosses weißer UN-Jeeps von jener Sorte, die im Südlibanon helfen, die von Syrien unterstützte Hisbollah in Schach zu halten.
Assad, mit dunkler Sonnenbrille, lauschte anschließend der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution, die der Schauspielers Kad Merad den Staatsgästen vortrug.

Erst später am Abend meldete sich im französischen Fernsehen ein Armeeveteran zu Wort, der bei einem Terroranschlag im Libanon verletzt worden war. Als unerträglich, sagte er, habe er die Anwesenheit Assads auf dem Ehrenplatz empfunden. Wer weiß, welchen Gefallen Sarkozy der libysche Oberst Muammar al-Ghaddafi am Ende mit seinem Entschluss getan hat, gar nicht erst nach Paris zu reisen. Freilich bleibt auch sein Land eingeladen, sich an der Mittelmeeerunion zu beteiligen.

„Wie kann man Frieden herstellen, wenn man nicht mit Leuten redet, die andere Auffassungen haben?“, rechtfertigte Sarkozy die roten Teppiche für die Autokraten aus dem Süden. Und sprach damit zugleich den Marschbefehl aus, dem nunmehr die gesamte EU folgt. „Frieden“ ist in dieser Formel allerdings als Variable zu lesen. Nicht so sehr für Demokratie, sondern eher für Sicherheit und Wohlstand. Ein Pakt für politische Pädagogik ist diese Mittelmeerunion nämlich gerade nicht mehr. Zu abschreckend verlief dafür die Geschichte des Barcelona-Prozesses, jenes bereits 1995 angestoßenen Partnerschaftsprogramms für das Mittelmeer. Er erwies aus verschiedenen Gründen als Flop (unter anderem wegen eines schmalen Budgets und mangelnder Verankerung in Brüssel), aber auch deshalb, weil sich die arabischen Regierungen nicht von Europas Entwicklungsplanern bevormunden und schon gar nicht schleichend demokratisieren lassen wollten.

Sicher, auch in der Pariser Gipfelerklärung bekennen sich die 43 Staatschefs zur Stärkung des „politischen Pluralismus“ und der Menschenrechte. Die Methode heißt aber nicht politische Einmischung, sondern wirtschaftliche Einbindung. Mit „Barcelona II“ setzt Europa seine Hoffungen unverblümter auf die ordnende Hand des Marktes. Der neue Pakt soll helfen, den Freihandel und die Seetransportwege auszubauen, die Sahara als Solarstromquelle zu erschließen, die Verschmutzung des Mittelmeeres einzudämmen, illegale Migration vorzubeugen und den Akademikeraustausch zu beflügeln. Was die Peripherie stabilisiert, so das Kalkül aller europäischen Nachbarschaftspolitik, nutzt Europa, nutzt ergo langfristig auch der Freiheitsverbreitung.

All das sind richtige, ja angesichts katastrophaler Wirtschaftsdaten und eines enormen „youth bulge“ in den Maghreb-Staaten geradezu zwingende Anstöße. Etwa zwei Drittel der nordafrikanischen Bevölkerung sind unter 30 Jahren alt, ein Viertel von ihnen hat nach Schätzungen der Weltbank keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz.

Der Erfolg der Mittelmeerunion hängt nun vor allem davon ab, ob die neuen Partnerstaaten das Freundschaftsangebot über die Pariser Festtage hinaus mit der gebotenen Weitsicht annehmen. Anlass daran zu zweifeln, besteht unter anderem deshalb, weil sich der Maghreb – anders als die EU – nicht als prinzipiell einige, sondern als prinzipiell uneinige Weltregion präsentiert. Der Streit um die Gebietsansprüche in der Westsahara ist nur ein Destabilisierungsfaktor, die Hebelkraft des militanten Islamismus ein anderer. Laut den Beschlüssen des Pariser Gipfels sollen sich die 43 Mittelmeer-Staatschefs von nun an alle zwei Jahre treffen, um über Fortschritte zu beraten, ihre Außenminister sogar jedes Jahr.

Große Bühnen, Sarkos Carla und Militärparaden werden sie dazu in Zukunft nicht mehr locken – wahrscheinlicher sind Zwecksäle ohne helle Medienausleuchtung. Und auch inhaltlich dürfte es mühsamer zugehen, wenn erst einmal darum gestritten wird, welche Häfen oder Küstenstraßen ausgebaut und wer dafür wie viel Geld bekommt. Vom Pariser Pomp aber könnten sich Europas neue Partner womöglich immerhin eine Einsicht abgeschaut haben. Die, dass in der Contenance ihre große Chance steckt – wenn sie diese zunächst einmal untereinander üben.

 

Sturm im Champagnerglas

Nach dem glamorösen Gipfel von Paris bleiben Zweifel. Wie lange wird die neue Mittelmeerunion wohl halten?

Der Mann ist nicht nur ein Macher. Er ist auch ein Poet. „,Gestalten’ ist neben ‚lieben’ eines der schönsten Worte überhaupt“, dichtet der französische Präsident Sarkozy in seinem Programmbuch „Bekenntnisse“. Und fährt fort: „Schon immer brach ich leidenschaftlich gern mit alten Gewohnheiten, um das Unmögliche möglich zu machen (…) und das auszuüben, was wir gemeinhin Macht nennen.“

Am Wochenende nun hat Sarkozy in seiner neuen Rolle als EU-Präsidentschaftsinhaber gewaltig gestaltend gewirkt. Die Europäische Union ist um einen Peripherie-Ring reicher. In Paris hoben 43 Staatschefs aus Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika die Mittelmeerunion aus der Taufe. Der Pakt soll helfen, die Sahara als Solarstromquelle zu erschließen, die Verschmutzung des Mittelmeeres einzudämmen, illegale Migration zu verhindern sowie den Handel und den Studentenaustausch zu fördern. Vierzehn Tage nach Beginn seiner Ratspräsidentschaft hat Sarkozy sein Prestige-Projekt unter Dach und Fach gekriegt.

Seinen besonderen Reiz gewinnt das Abkommen freilich aus der Tatsache, dass Europa es auch mit dem Schmuddelstaat Syrien schließt. Darüber toben nicht nur die Menschenrechtler von amnesty international. Die Regierung in Damaskus beherbergt immerhin Exilführer der Hamas, unterstützt die Hisbollah, wird beschuldigt, hinter dem Mord an dem früheren libanesischen Premierminister Rafik Hariri zu stecken und befindet sich offiziell noch immer im Krieg mit Israel. Zusammen mit dem syrischen Staatschefs Basher al-Assad in einem Konferenzraum im Grand Palais an der Champs Elýsèe fotografiert zu werden, dürfte dem israelischen Premier einige Überwindung gekostet haben.

Und wie Assad reagierte, als er – als Ehrengast auf der Tribüne – bei der Militärparade zum 14. Juli ebensolche französische UN-Jeeps an sich vorbeifahren sah, die im Libanon helfen, die Hisbollah in Schach zu halten, ist bisher nicht überliefert.

Derart gespannte Contenance werden die Staatschefs aus der Mittelmeerunion künftig regelmäßig aufbringen müssen. Laut den Beschlüssen des Pariser Gipfels sollen sie sich von nun an alle zwei Jahre treffen, ihre Außenminister sogar jedes Jahr.

Drei Fragen sind nach dem pompösen Parisauflauf deshalb berechtigt: Wie lange wird die Lust der „Club Med“-Mitglieder anhalten, diesen Rhythmus einzuhalten? Wer wird der Motor hinter der Initiave sein, nachdem Nicolas Sarkozy den EU-Ratsvorsitz abgegeben oder einen neuen Spielplatz gefunden hat? Wie, drittens und kurzgefasst, nachhaltig ist das Projekt Mittelmeerunion?

PGV, Président à Grande Vitesse, nennen die Franzosen ihren Staatschefs in Anlehnung an den heimischen Hochgeschwindigkeitszug. „Sarko ist gewohnt zu bekommen, was er will“, sagt ein französischer Diplomat. „Mit zehn Jahren hat er sich vorgenommen, Präsident zu werden, und er ist es geworden. Er ist niemand, der sich von Strukturen oder einem zähen Bürokratismus aufhalten lässt, wenn er ein Ziel vor Augen hat.“

Er ist aber auch einer, der schnelle Schnitte liebt. Seine Neigung zum PR-wirksamen Einzelgängertum hat er bereits vor der Brüsseler Amtsübernahme eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Den Sturm im Champagnerglas weiß der Franzose hervorragend zu inszenieren.

Im vergangenen Jahr ließ er seine (Ex-)Frau Cécilia vor laufenden Fernsehkameras in Libyen die bulgarischen Krankenschwestern „befreien“, die der Diktator Ghaddafi als Geiseln gehalten hatte. Er staubte damit den Erfolg jahrelanger, zäher EU-Diplomatie ab und fädelte bei derselben Gelegenheit gleich ein Abkommen für die Lieferung von französischer Nukleartechnik an Ghaddafi ein.
Im Januar „kündigte“ Sarkozy unilateral die Fischereiquoten der EU auf (was unilateral nicht geht). Anfang Februar sagte er, Frankreich werde dem bedrohten Stahlkonzern Mittal mit Geld aus der Staatskasse unter die Arme greifen (was gegen die EU-Subventionsregeln verstößt). Ende Februar sagte er kurzfristig zwei deutsch-französische Regierungstreffen ab, weil Wichtigeres dazwischen gekommen war (und anderem ein Kommunalwahlkampfauftritt seiner Finanzministerin).
Und noch im März wollte er die Mittelmeerunion noch zu einer eigenen Mini-EU unter französischer Führung machen (bevor ihn Angela Merkel wieder einfing und das Projekt zurück in Brüsseler Bahnen lenkte). Sarkozy hätte gerne einen politischen Club Mediterrane unter Geschäftsführung der Mittelmeeranrainer hochgezogen. Geht nicht, beschied ihm nun die EU-Kommission. Außenpolitische Projekte unterliegen der jeweiligen Ratspräsidentschaft. Anfang 2009 wird Sarkozy seinen Prestigeverbund deshalb wieder los, Copyright hin oder her.

Der selbsternannte Président de la rupture, des „Bruchs“, ist bisher also nicht gerade durch langen Atem aufgefallen. Zwar mag seine energetische Art einem Europa, das nach der Lähmung durch das irische Nein auf Standby-Betrieb läuft, voerst gut tun. Aber reicht ein neuer Stil?

„Elektroschocks müssen ja nicht übel sein“, räumt eine hohe EU-Kommissionsbeamtin ein. „Aber sie alleine reichen nicht. Bei Sarkozys Vorschlägen fragt man sich ständig: Where is the beef? Er scheint doch eher von seinem Ego getrieben als von Ideen.“

In der Tat leiden viele von Sarkozys so genannten „neuen Politiken“ unter mangelnder Produktreife. Mal erklärt er sich zum „Präsidenten der Menschenrechte“, mal schmeichelt er in Richtung der Moskauer Autokraten („Wladimir Putin ist es gelungen, Russland in die Demokratie zu führen“), mal fordert er mehr Klartext gegenüber Chinas KP.

Und kaum ist die Mittelmeerunion beschlossen, träumt Sarkozy schon von einer neuen starken EU-Flanke. Diesmal im Osten. Während einer Konferenz in Jalta forderte er kürzlich eine „besondere Beziehung“ der Ukraine zur EU. Schon beim nächsten Gipfel am 9. September in Evian hoffe er, ein neues Abkommen für die „europäische Zukunft“ der Ukraine abschließen zu können, das die Zusammenarbeit und den „freien Handel“ stärken solle.*

Und wie verlässlich sind die neuen Partner seines „neuen Europas“? Sarkozys Handelspartner Ghaddafi blieb der Mittelmeer-Gründungsfeier fern. Er wolle, hieß es, keinen französischen „Neokolonialismus“ unterstützen. Aus libyschen Diplomatenkreisen ist etwas anderes zu hören. Ghaddafi, heißt es dort, müsse derzeit Rücksicht auf die Volksmeinung nehmen – und die fordere zunächst einmal, dass Europa das Palästina-Problem löse. Was auch immer stimmen mag – das Beispiel zeigt, wie schnell sich die Partner im Süden ihre Partnerschaft anders überlegen können.

* Die Pläne Sarkozys für eine neue „historische“ Partnerschaft Europas mit der Ukraine im Wortlaut:

Ukraine is a country of strategic importance to Europe. From the very moment of assuming office, I have wanted to be the advocate of a special relationship between the European Union and Ukraine.
For several months, France has been pleading the case before its partners in the European Union and the European Commission for negotiations on a new, strengthened, agreement between the Union and Ukraine with the aim of reaching the most ambitious result. It is our ardent hope that, on the occasion of the Evian Summit meeting on September 9, the European Union and Ukraine will be able to conclude an historic political agreement on the principles, the objectives, the scope and the constituent elements of this partnership, for the years to come and for the European future of Ukraine. The Evian Summit must give a decisive impetus to the negotiation of the new agreement, which can then be rapidly finalised and signed at the beginning of 2009. This is the ambition for the French Presidency of the European Union.
The new agreement, which will succeed the 1994 agreement for partnership and cooperation, will mark a new era in the development of relations between the European Union and Ukraine. It will permit strengthened cooperation in all areas of common interest: political dialogue, foreign and security policy, economic and energy cooperation, cooperation in the areas of freedom, security and justice – including the issue of visas – and the consolidation of our common institutional framework. The agreement will also include the establishment of a free-trade area between the European Union and Ukraine, which will considerably boost our economic integration.
Our goal is to encourage and support your efforts for political and economic modernisation. With this new agreement, the rapprochement between the European Union and Ukraine will further develop, fully taking into account the European identity and Ukraine’s European choice.

 

Tibet vor der Haustür

Es ist ein Tibet vor der Haustür Europas, aber kaum einen Journalisten interessiert es. Vor wenigen Wochen, Ende März, knüppelten Polizisten in der weißrussischen Hauptstadt Minsk junge Menschen nieder, die an einem Demonstrationszug für die Freiheit ihres Landes teilgenommen hatten. Viele von ihnen, so berichteten weißrussische Oppositionelle am Tag danach in Brüssel, seien verhaftet worden. Die EU geht davon aus, dass bis zu 80 friedliche Demonstranten in Arrest landeten.

Was mit ihnen in den Kerkern des moskautreuen Diktators Alexander Lukaschenka passiert, weiß niemand. Was man weiß, ist dass Lukaschenka weder EU- noch UN-Menschensrechtsbeobachtern die Einreise erlaubt und stattdessen öffentlich droht, Demonstranten „die Köpfe abzureißen“.

Eine Exil-Journalistin berichtete in Brüssel, nur noch wenige Untergrundzeitungen in Weißrussland wagten es, andere Nachrichten zu verbreiten als die gleichgeschalteten Massenmedien. Lukaschenka setze Kritik an seinem Regierungsstil mit Aufrührerei und Terrorismus gleich. Seine Geheimdienst sei mächtiger als jemals zuvor. Am 27. März verhafteten seine Agenten einige der letzten frei arbeitenden Journalisten im Land.

„Ich weiß nicht, wie es andere dort noch aushalten“, sagte Alhierd Baharewitsch, ein junger weißrussischer
Schriftsteller, der auf Einladung des Hamburgischen Landesvertretung in Brüssel aus seinen – in Weißrussland verbotenen – Büchern vorlas. „Ich habe es nicht. Ich konnte dort einfach nicht mehr atmen.“

Weißrussland grenzt an drei EU-Staaten, an Polen, Litauen und Lettland. Doch im Brüsseler Pressecorps erregte der Auftritt der weißrussischen Publizisten so gut wie keine Aufmerksamkeit. Fehlt dem Land vielleicht ein esoterisch-schillernders Exiloberhaupt? Oder ein hübscher Jedermanns-Gewissenskonflikt wie Olympia-Kommerz versus Moral?

Oder haben wir uns schlicht und einfach an ein dunkles Steinzeitregime als direkten Nachbarn gewöhnt?

 

Koloss Demos

Wenn Rumäniens Diktator Nicolai Ceausescu das noch erlebt hätte, er wäre wahrscheinlich gestorben vor Zorn. Von den Säulenwänden seines „Haus des Volkes“ mitten in Bukarest hängen blaue Nato-Banner mit dem Logo des Gipfeltreffens. Riesige Tücher sind es, fast als habe Christo soeben mit der Verpackung des monströsen Gebäudes begonnen. Weithin sichtbar künden sie von der Zusammenkunft der 26 Staats- und Regierungschefs des einstigen Feindbündnisses Nato.

Schwierig, sich eine eindrucksvollere historische Zweckentfremdung eines politischen Monuments vorzustellen.

12 Stockwerke hoch, noch einmal so viele tief und 270 Meter lang, sollte der Volkspalast, ein neoklassischer Marmorgigant, von der Überlegenheit der Sozialismus kündigen. Stattdessen ist er steinernes Zeugnis des real existierenden Größenwahns jenes wohl repressivsten kommunistischen Regimes Europas geblieben. Der Palast sei, gleich nach dem Pentagon, das zweitgrößte Gebäude der Welt, wird desöfteren kolportiert. Das mag stimmen oder auch nicht. In der Liga der zynischen Bauten des Planeten dürfte er jedenfalls einen der vordersten Plätze einnehmen.

Ceaucescu ließ 1984 mit den Bauarbeiten beginnen, während viele Rumänien unter bitterer Armut, winterlicher Kälte und manchmal gar Hunger litten. Einen Mitarbeiterin des rumänischen Außenministeriums, Mitte Dreißig, die half, den Nato-Gipfel vorzubereiten, berichtet aus ihrer Schulzeit in den 80ern: „Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich im Winter im Klassenzimmer, wenn ich die Tafel wischen sollte, erst einmal die Eisdecke im Wassereimer durchschlagen musste. In dieser Kälte saßen wir den ganzen Tag in der Schule.“

In seine gigantomanische Wärmestube zog der Diktator Ceaucescu niemals ein. Kurz vor der Fertigstellung, im Revolutionsjahr 1989, wurden er und seine beim Volk noch verhasstere Frau nach einem Schnellverfahren exekutiert.

Dafür geben sich in dieser Woche nun gleich zwei Großmacht-Präsidenten eben dort die Klinke in die Hand. Sowohl George W. Bush wie auch Wladimir Putin werden bei dem Treffen im heutigen Bukarester Parlamentspalast ihre sicherheitspolitischen Vermächtnisse hinterlassen – der eine als mächtigster Förderer, der andere als lautester Herausforderer der Nato.

Fast möchte man den Bukarestern dafür danken, dass sie den Palast nicht, wie von einigen 89er-Revolutionären damals gefordert, mit ein paar Tonnen Dynamit pulverisierten, sondern ihn in seinem ganzen Gepränge fertig stellten und später sowohl für ihre Volksvertreter wie für internationale Konferenzen öffneten. Denn für die Gelegenheit dieser Woche, für das Aufeinandertreffen von neokonservativer und neozaristischer Hybris, ließe sich kaum eine sprechendere Kulisse finden. Ob sich Bush und Putin von der Architektur mahnen lassen? Immerhin, der Megabau steht heute eindrucksvoll für die Macht des Demos, der Bevölkerung. Die Umwidmung des Kolosses durch die Rumänen in einen wahren Palast des Volkes macht ihn, neben seinem Charakter als geschichtlichem Mahnmal, zugleich zu einer Trutzburg der Souveränität.

Ob sich dort drin nicht auch die Größten ein wenig kleiner fühlen?

Russlands Vertreter bei der Nato-Tagung wissen offenbar nicht recht, was sie empfinden sollen nach den Beschlüssen, die ihnen das Bündnis ein wenig weiter auf den Leib rücken lässt. Die für Georgien und die Ukraine in Aussicht gestellte Mitgliedschaft in der Nato hält Moskau laut offizieller Stellungnahme für einen „riesigen strategischen Fehler“. Etwas versöhnlicher äußerte sich der russische Nato-Botschafter Dimitri Rogosin gegenüber der Tageszeitung Kommersant:

„Es ist klar, dass Russland Ansichten Gehör fanden“, sagt er, „obwohl sie nicht das einzíge waren, was eine Rolle spielte.“

Dass einer der nächsten Nato-Gipfel im Kreml stattfindet, scheint nach Ansicht der Mehrheit der hiesigen Beobachter dennoch unwahrscheinlich.