Die EU ist brennend attraktiv für ihre Nachbarn. Aber welchem Liebhaber soll sie sich hingeben?
Ein Date mit der Ukraine
Vasyl Filipchuk reicht die Hand und sagt: „Ich spreche noch ein bisschen Deutsch, ein kleines bisschen. Meine Großmutter sprach es als Muttersprache. Sie hat mir als Kind immer deutsche Märchen vorgelesen. Welche, weiß ich aber nicht mehr.“ Filipchuk stammt aus Tschernowitz in der Ukraine. Heute wohnt er in Brüssel, als Abgesandter seiner Regierung bei der Europäischen Union. Die Ukraine drängt nach Westen, und Vasyl Filipchuk ist einer der Diplomaten, die dieses Ziel mit Herzblut verfolgen. Auch wenn er nicht mit allem einverstanden ist, was die Brüsseler EU-Zentrale beständig an Regelungen und Bürokratie ausspuckt. „Aber welche andere Option haben wir?“, fragt Filipchuk. Russland doch bitte nicht! „Und die Schweiz sind wir auch nicht.“
EU-reif? Die Europaflagge jedenfalls trägt das ukrainische Außenministerium schon
Filipchuk Heimatstadt Tschernowitz ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie hin- und hergerissen die Ukraine seit jeher zwischen europäischen und eurasischen Machtsphären war. Tschernowitz lag schon immer an der Grenze mehrerer Imperien, und sie tut es bis heute. Im Mittelalter war sie Teil des mächtigen Fürstentums Moldau, als dessen Nachfolger sich heute Rumänien und Moldawien sehen. Im 16. Jahrhundert fiel díe Stadt, nach mehreren Anstürmen türkischer Truppen, unter das Vasallentum des osmanischen Reiches. Am Reibepunkt der Großmächte der Osmanen, Österreich und Russland gelegen, fiel Tschernowitz 1775 unter österreichische Herrschaft. Hundert Jahre später gründete Kaiser Franz-Joseph I. eine deutsche Universität in der Stadt, die Franz-Josephs-Universität Czernowitz.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Tschernowitz mit dem Vertrag von St. Germain Rumänien eingegliedert. 1940 besetzten die Sowjets die Stadt, und nach einem nochmaligen rumänischen Herrschaftsintermezzo von 1941 bis 1944 wurde Tschernowitz schließlich Teil der Sowjetunion – bis sich die Ukraine 1991, dem Fall der Kreml-Herrschaft, unabhängig erklärte.
Es ist ein heißer Sommer in der EU-Hauptstadt, als ich Filipchuk treffe. Rund um die Villa der Ukrainischen Mission sind die Behörden in den Sommerschlaf gefallen. Filipchuk hingegen, der stellvertretende Leiter der Mission, ist eingeklemmt zwischen dringenden Telefonaten. Er entschuldigt sich zu Beginn des Gesprächs fürs Zuspätkommen, und am Ende klingelt ihn sein Handy aus dem gemütlichen Kaminzimmer.
Filipchuk liegt vor allem eines am Herzen: Europa muss aufhören, die Ukraine wie einen Nachbarn zweiter Klasse zu behandeln. „Macht keinen Fehler mit uns!“, sagt er. Aus dem Mann spricht Verbitterung. Warum, fragt er, wird es seinen ukrainischen Landsleuten immer noch so schwer gemacht, Visa für die EU zu bekommen? Warum ist es einfacher, eine Einreisegenehmigung für Amerika zu bekommen als für das Nachbarland Polen?
„Zehn Jahre sind vergangen seit dem ersten Partnerschaftsabkommen mit der Europäischen Union. Und was ist seither passiert? Nichts. Gar nichts. Die Reisebedingungen haben sich noch verschlechtert.“
In umgekehrter Richtung gilt das nicht. EU-Bürger brauchen bloß einen Reisepass, um in die Ukraine zu gelangen. Und hat man mit dem erst einmal die unfreundlichen Grenzbeamten hinter sich gelassen (ihre Mentalität sei ein Relikt aus Sowjetzeiten, entschuldigen sich zivile Ukrainer) , öffnet sich ein Land, dass sich mit Macht nach Westen stemmt.
Imperiale Pracht in der U-Bahn von Kiew
Der Mann an der Bahnsteigkante spricht kein Englisch, aber als er hört, wo der Besucher aus dem Westen hinmöchte, stellt er seine Aktentasche auf den Boden. Jetzt kann er besser mit den Fingern auf dem Kiewer Stadtplan hin- und herfahren. Sie nehmen die nächste U-Bahn auf der anderen Seite, macht er klar, dann zwei Stationen, dann umsteigen, bei der nächsten raus – und schon sind Sie da, Madain Nezalezhnosti. Independence Square, yes!, sagt er strahlend, während sein eigener Zug davonfährt.
Wahrscheinlich gehörte der Mann zu den Tausenden von Ukrainern, die im eisigen Winter 2004 so lange auf dem Zentralplatz der Stadt campierten, bis der Autokrat Leonid Kutschma aufgab. Die Menschen hatten die Selbstherrlichkeit und die offenkundigen Wahlfälschungen des moskautreuen Regierungschefs satt, ihr neuer Präsident sollte, machten die Orangenen Revolutionäre der Welt klar, Viktor Juschtschenko heißen, ein Beinah-Märtyrer der Demokratie. Noch gezeichnet von einer Dioxin-Vergiftung, die ihm mutmaßlich ein russischer Hintermännern Kutschmas beigebracht hatte, stellte Juschtschenko nach seiner Vereidigung fest: „Wir haben Europa nicht nur in geografischer Hinsicht gewählt, sondern auch wegen seiner geistigen und moralischen Werte.“
Vier Jahre später könnte ein hastiger Besucher glauben, Juschtschenko habe Recht gehabt. In der Innenstadt von Kiew funkeln nicht nur wieder die goldenen Kuppel der orthodoxen Kirchen, die die Ukrainer nach der anti-religiösen Sowjetzeit zurück in ihre alte Pracht versetzt haben. Es glitzern auch die Auslagen und Leuchtreklamen der großen westlichen Handelsketten. Zara ist da, Heiniken und BMW, und an der repräsentativen Stirnseite des Unabhängigkeitsplatzes prangt, fast als hätten die Wende-Stadtplaner das Klischee inszenieren wollen, McDonald’s gelber Doppelbogen.
Der Unabhängigkeitsplatz der Orangenen Revolutionäre heute
Doch wer hinter die Fassaden tritt, merkt schnell, das Kiew noch längst keine europäische Metropole ist – sondern bloß ein Potemkinsches Dorf des Westens. In den Wohnsilos am Rande der Stadt leben die Menschen in schlimmster postsowjetischer Tristesse, apathische Hausmeister wachen über Hochhauseingänge, die an Bunkerschächte erinnern, und vor den Türen lassen Jugendliche die Wodkaflaschen kreisen. Viele von ihnen hat das Vertrauen, das sie der neuen Führung nach der Orangen Revolution entgegen gebracht haben, enttäuscht. Das Dreamteam Viktor Jutschenko und Julia Timenschenko (Markenzeichen blonder Erntedank-Haarkranz) hat in der Wendezeit andere als kameradschaftliche Eintracht bewiesen.
Über die Frage, wie viel Macht Präsident und Ministerpräsidentin und Parlament einander zugestehen sollten, zerbrach die hoffnungsvolle Allianz, und an der grassierenden Korruption im Staate hat sich ebenso wenig geändert wie an der Macht der Oligarchen. „Gemessen an europäischen Regierungsstandards, ähnelt die Ukraine eher Pakistan als Polen“, stellt der reisende US-Gelehrte Parag Khanna fest.
Blumenverkäuferinnen vor der St.Michaels-Kathedrale
„Auch wenn im Lande immer wieder nach externen Gründen für die außenpolitischen Probleme gesucht wird, steht die Ukraine sich in diesen Fragen derzeit klar selbst im Weg“, glaubt der Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew, Nico Lange. Vor allem in der Bekämpfung der endemischen Korruption gehe es kaum voran. Die Ukraine steht auf dem Bestechlichkeitsindex von Transparency International auf Platz 118, noch hinter Mosambik, der Mongolei, Burkina Faso und Ruanda. Ein Universitätsdiplom, heißt es, sei derzeit für etwa 500 Dollar zu haben. Die Befreiung vom Militärdienst koste ungefähr das Dreifache.
Wie sollte sich die EU verhalten gegenüber diesem willigen, aber unreifen Aspiranten? Fragt man ukrainische Politiker, ist die Antwort klar: Wir brauchen die EU, um uns zu reformieren. Im Außenministerium, dessen Fassade eine gigantische Europaflagge ziert, sagt ein Diplomat: „Es geht nicht zuletzt um das Gefühl, dazuzugehören.“ Aber wer hindert die Ukraine, ihre Gesetze dem acquis communitaire, dem Europäischen Gemeinschaftsrecht anzupassen? „Wir wollen unser Recht ja anpassen“, antwortet der Mann, „besonders das Wirtschaftsrecht. Aber dafür brauchen wir substanzielle Hilfe aus Brüssel. Beratung und Überwachung, unter anderem.“
Touristensouvenirs – Bush und Putin als Babuschkas
Mächtige Stimmen innerhalb der EU sehen es genau umgekehrt. Die Ukraine müsse sich erst einmal aus eigener Kraft zur modernen Demokratie entwickeln. Ein Gesprächspartner aus Berlins Regierungskreisen fasst die deutsche Haltung so zusammen: „Die Mitgliedschaft in der EU ist kein Hebel zur Demokratie. Sie ist die Krönung. Demokratien in unserer Nachbarschaft zu stabilisieren, ist die Aufgabe kluger Außenpolitik, von Nachbarschaftsprogramm und von politischen Stiftungen.“ Die EU sei schließlich keine Erziehungsanstalt. „Das Schlagwort Erweiterung löst bei den Regierungschefs rund um den Brüsseler Ratstisch derzeit eher negative Vibes aus“, sagt einer, der es weiß. Im Abschluss-Communiqué des jüngsten EU-Ukraine-Gipfel wurde mit Bedacht ein Wort ausgespart. Das von der „Mitgliedschafts-Perspektive“. Die Ukraine wird zunächst mit einem „Assoziationsabkommen“ zur Förderung des Freihandels Vorlieb nehmen müssen – ebenso wie Albanien, Mazedonien und Serbien.
Vielleicht hat Europa seinen Namen noch so verdient wie heute. Er kommt von der griechischen Abendgöttin, die so verführerisch am Strand von Sidon spielte, dass der Gottvater Zeus sich schon nach kurzem Zuschauen in sie verliebte. Doch die Schöne gab sich höflich desinteressiert. Zeus musste sich in einen Stier verwandeln, damit Europa seinem Werben nachgab. Damenhafte Reserviertheit gegenüber voreiliger Nähe – ist das nicht genau die Haltung, die Europa heute ausmacht?
Wenn der Vergleich stimmt, dann stimmt es auch, dass die EU genauer hinsehen sollte, mit wem sie Bande knüpft. Die Ukraine hat sicher das Zeug zum Stier. Aber was ist ihr wahres Wesen?
Im zehnten Jahrhundert ruderten Wikinger in ihren Drachenbooten den Dnjepr von Ostsee bis zum Schwarzen Meer hinunter und fassten dabei auch in Kiew Fuß. „Rus“, Ruderer, nannten die slawische Bevölkerung die Siedler aus Skandivien. In Allianz mit örtlichen Fürsten trugen die Nordmänner wesentlich zur der Entstehung des Kiewer Reiches, sprich: zur Geburt Russland bei.
Der Dnjepr trennt Ost- und Westukraine
Bis heute fühlt sich eine Mehrheit der Bevölkerung östlich des Dnjepr kulturell Russland zugehörig. Die Menschen im Osten der Ukraine (der Landesname bedeutet übrigens „Grenzland“) sprechen Russisch, und die Erinnerung an Sowjet-Zeiten ist bisweilen wehmütig.
Wenn die Menschen dort von der EU träumen, träumen sie nicht von einer transatlantischen Wertegemeinschaft, sondern von einer eurasischen. Die Variaton, welche die Ukraine für das traditionelle Selbstbild der EU hätte, zeigt sich in der strikten Ablehnung jeder amerikanischen Vormachtstellung. Während eine Zugehörigkeit zur EU selbst von moskautreuen ukrainischen Politikern unterstützt wird, lehnt der russland-orientierte Bevölkerungsteil des Land eine Mitgliedschaft in der amerikanisch dominierten Nato strikt ab.
Wohin würde also der Stier Ukraine die holde Europa entführen? In Mythologie ritt sie mit ihm nach Kreta. In unserer Zeit würde der Kurs nach Osten weisen. Oder, in anderen Worten: hin zu einem neuem Westen. Einem mit immer weniger Amerika. Die Frage, über die sich vielleicht auch die Ukrainer Gedanken machen sollte, lautet: Wollen sie wirklich die EU als EU? Wollen sie das Europa der havarierten Verfassungsverträge, der Karlspreise und der Förderbürokratie? Oder wollen sie die EU bloß als Alternative zu Russland? Das wäre ein großer Unterschied.