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Zu sanft für diese Welt

 

Zehn Jahre ist es her, dass die Europäische Union im französischen St. Malo eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschloss. Was ist eigentlich daraus geworden?

Europa, so das Fazit, betreibt Verteidigungspolitik auf die denkbar langsamste Art: auf Basis kleinster gemeinsamer Nenner

Ein Report

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Wer das militärische Hauptquartier der Europäischen Union betritt, ist gleich zweifach erstaunt. Erstens darüber, dass es so etwas überhaupt gibt. Und zweitens über die Sicherheitssorgen der EU-Soldaten. Die Kontrollen am Eingang des Bürogebäudes mitten im Eurokratenviertel von Brüssel fallenstrenger aus als am Empfangsschalter der Nato, jenes großen transatlantischen Konkurrenten draußen vor den Toren der Stadt. Freundliche Wachen bitten den Besucher, neben dem Handy auch seinen USB-Stick am Empfang abzugeben.

Ja, können denn EU-Truppen Feinde haben? Sie sind schließlich notorisch unaggressiv, keine andere Weltmacht wie die aus Brüssel schickt derart diplomatische, derart neutral, sprich: solch tiefblaue Friedensbringer in ferne Länder. Die neueste Manifestation der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) macht sich gerade abmarschbereit für Georgien. Mindestens 200 Beobachter der EU sollen von Anfang Oktober an die Waffenruhe überwachen, die Tbilissi und Moskau nach dem Krieg um Südossetien und Abchasien vereinbart haben. Ausschließlich ziviles Personal, betonen EU-Diplomaten, werde an den Kaukasus entsandt – 40 Kräfte auch aus Deutschland –, um verbotene Truppenbewegungen oder Munitionsdepots in der Krisenregion aufzuspüren.

Natürlich ist das ein Soldatenjob. Aber ebenso natürlich wird die EU sich hüten, in Armeeuniform an den Rändern Russlands zu patrouillieren. Europas Stärke, so die Philosophie seiner Sicherheitsdenker, sind gerade seine Sanftheit, seine Glaubwürdigkeit als Mittler. Ob in Bosnien, dem Kosovo, den Palästinensergebieten, Afrika oder Aceh in Indonesien – wo Europa eingreift, wandeln sich seine Soldaten, Polizisten und Richter zu Nannys für schwer erziehbare Regierungen, zu Sozialarbeitern zwischen Milizenfronten. Was gut war für Europa – Versöhnung, Demokratie und Respekt vor Vielfalt –, kann schließlich für den Rest der Welt nicht schlecht sein. Oder?

Die Frage ist bloß, wie die EU ihre Prinzipien – im konkreten Fall das Eintreten für die territoriale Integrität Georgiens und die Nichtanerkennung von Südossetien und Abchasien – in operative Politik übersetzt.

Im Kaukasus-Case steht zu befürchten: gar nicht.

Weder wird die EU einen weiteren Konflikt mit Russland riskieren, um seine Beobachter in die eigentlichen Krisenregionen hinein zu bekommen, noch wird Brüssel Moskau drängen, die Vertreibungen von Georgiern aus den Provinzen rückgängig zu machen. Europäische Peacebuilding bedeutet in der Praxis, die eigenen Überzeugungen zugunsten einer weitgehenden Neutralität zu verwässern.
Eben dieser Spalt zwischen hehrem Anspruch und nüchterner Wirklichkeit zieht sich durch die gesamte Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

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Die französische Ratspräsidentschaft hatte sich vorgenommen, das militärische Profil der EU zu ungeahnter Schärfe zu schleifen.
Dann kam anderes dazwischen.

Die Selbstwahrnehmung der EU als Soft Superpower, sie mag zwar auf den ersten Blick stimmen. Zwischen 2002 und 2004 waren nach Zählung des Pariser EU Institute for Strategic Studies deutlich mehr europäische Soldaten (33 261) in Friedensmissionen eingesetzt als amerikanische (20 966). Gleichzeitig pflegt das europäische Militär ein gänzlich anderes Lebensgefühl als das amerikanische; es fühlt sich im Frieden, nicht im Krieg.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die EU regelmäßig so niedrigschwellig interveniert, weil jeder Entsendebefehl zugleich den militärischen Minimalkonsens von 27 Mitgliedsstaaten widerspiegelt.

Ein irischer Offizier führt durch die »Operationszentrale« des EU-Militärstabes in Brüssel. In dem Raum, etwa so groß wie drei Klassenzimmer, sieht es aus wie im Arbeitsstall eines Start-up-Unternehmens. Dunkle Flachbildschirme reihen sich aneinander. Das knappe Dutzend Stuhlreihen ist leer.

Bis zu 2000 Soldaten, sagt der Offizier, könnten von hier aus im Ausland geführt werden. Theoretisch. »Aktiviert worden ist das Zentrum seit seiner Gründung 2007 noch nicht.« Denn noch werden die EU-Missionen in aller Welt von nationalen Befehlsständen aus geführt.

Europa mag grenzenlos geworden sein – seine Verteidigungspolitik ist es noch lange nicht. Noch immer dienen die meisten Soldaten und das meiste Gerät zur Verteidigung der Nationalstaaten.

Europas Kraft bleibt daher zersplittert. Die EU verfügt mit 1,9 Millionen Soldaten zwar über mehr Streitkräfte als die USA (1,5 Millionen), und zusammen bringen die Mitgliedstaaten fast ein Viertel der weltweiten Militärausgaben auf. Doch Europas statistische Stärke ist dividiert in je 27 Oberkommandos, Heere und Luftwaffen sowie 22 Marinen. Zudem ist der Zuschnitt der Armeen veraltet. So bringt die EU aus Kalten-Kriegs-Kontingenten zwar noch immer viele Heeressoldaten, 10 000 Kampfpanzer und 2500 Jagdflieger auf – nicht aber genügend weitreichende Transportflugzeuge und staubfeste Hubschrauber, um ihre Truppen in Krisengebiete zu fliegen. Nur ein Fünftel aller europäischen Soldaten gelten derzeit als „verlegbar“.

Im Tschad beispielsweise, wo 3700 EUFor-Soldaten Flüchtlinge aus dem Sudan beschützen sollen, ist Europa auf die Hilfe Russlands angewiesen. Moskau schickte auf Brüsseler Bitten hin vier MI-8 Transporthubschrauber samt 200 Mann Betriebspersonal in den Tschad Ohne sie wäre die EU-Mission gelähmt. Regelmäßig klagen Offiziere außerdem über mangelnde Satellitenaufklärung und inkompatible Kommunikationssysteme der verschiedenen Truppen.

Immerhin hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass europäische Soldaten künftig schneller und besser in modernen Krisen eingesetzt werden sollen, ob zur Terrorprävention, zur Eindämmung regionaler Konflikte oder zum Stopp von illegalem Waffenhandel. Bundeswehr, British Army und Armée française bemühen sich daher um Strukturreformen.

Nur fünf Länder, Großbritannien, Frankreich, Bulgarien, Griechenland und Zypern, geben derzeit mehr als 2 Prozent ihrer jährlichen Haushaltssummen für Verteidigung aus und treffen damit die Marke, die sich alle Nato-Mitglieder selbst gesetzt haben. Am anderen Ende der Skala, weit unter der 2-Prozent-Schwelle, liegen Deutschland, Spanien, Schweden, Österreich und Irland.

Hinzu kommt, dass die militärische Großplanung ist in Europa nach wie vor ein geradezu absurd nationales Geschäft ist. Bis zu 200 Milliarden Euro könnten eingespart werden, wenn die EU-Mitgliedsstaaten ihre Verteidigung gemeinsam koordinieren würden, schreibt Nick Witney in einem Report für den European Council on Foreign Relations.

Doch der Brite, der bis vor Kurzem die Europäische Verteidigungsagentur leitete, kennt die Realität nur zu gut. Bisher hätten »die EU-Mitgliedsstaaten wenig getan, um diesem Ziel näher zu kommen«, lautet sein Fazit. Mehr als einmal hat Witney erleben müssen, wie Europas Verteidigungsministerien munter Waffensysteme nur für ihr Land entwickeln lassen und die Kooperation an nationalen Eitelkeiten scheitert. Witney wirbt auf seinen Reisen durch Europa unverdrossen für eine besser abgestimmte Rüstungspolitik. Bislang mit begrenztem Erfolg.

Im Durchschnitt werden nur 12 Prozent aller Rüstungsprojekte europaweit ausgeschrieben. Die Bundesregierung steht dabei ganz weit hinten. Sie stellt nur 2 Prozent der Beschaffung für die Bundeswehr in den europäischen Wettbewerb. In Frankreich, zum Vergleich, beträgt die Ausschreibungsquote 20 Prozent. In Zukunft, so will es das Europaparlament, sollen Schluss sein mit den Ausflüchten in vermeintliche „nationale Sicherheitsinteressen.“ Rüstungsaufträge, so will es eine Richtlinie, die das Parlament im Januar 2009 verabschiedete, sollen künftig nur noch vergeben werden können, wenn zuvor eine europaweiten Ausschreibung stattgefunden hat. „Ich erwarte nicht über Nacht eine Revolution auf dem Markt“, sagt der liberale Europaabgeordnete Alexander Lambsdorff, „aber es dürfte immerhin vorbei sei mit dem Missbrauch des bisherigen Ausschreibungsrechts.“ Freilich werden sich dann auch die Deutschen daran gewöhnen müssen, dass ihre Soldaten in Afghanistan künftig nicht mehr in Mercedes-Jeeps durchs Gebirge fahren, sondern in Renaults. Andererseits könnte das britische Militär auf Daimler-Laster umstellen.
Insgesamt erhofft sich Lambsdorff eine Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie – bei gleichzeitig sparsamerem Einsatz von Steuergeldern. Und langfristig auch eine ausbalanciertere transatlantische Investitionslandschaft. „Es gibt derzeit 89 militärische Forschungsprojekte in der EU, in den USA sind es nur 27“, so Lambsdorff. „Gleichzeitig haben die USA einen Anteil vom 48 Prozent am europäischen Rüstungsmarkt. Umgekehrt haben die EU-Hersteller einen Anteil von 2 Prozent der amerikanischen Militärbeschaffung.“

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Im Dezember will der Außenbeauftragte der Union, Javier Solana, eine neue Europäische Sicherheitsstrategie vorlegen. Sie wird allerdings, so viel ließ der Spanier schon durchblicken, trotz der Georgienkrise nicht noch einmal überarbeitet werden. Unsere Fotos zeigen belgische Soldaten auf der Rue de la Loi, der Hauptstraße des EU-Viertels in Brüssel

Dabei klingen selbst Kanzlerinnen und Kanzlerkandidaten bei offiziellen Anlässen ganz euphorisch. Kurz vor der 50-Jahr-Feier der EU plädierte Angela Merkel öffentlich für eine »EU-Armee«. Im Frühsommer dieses Jahres zog Außenminister Steinmeier nach. Auf einer Tagung der SPD-Bundestagsfraktion forderte er, die »Europäische Armee« so schnell wie möglich zu verwirklichen – sekundiert vom Generalinspektor der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan.

Seither ist die Integration europäischer Armeen selbst in militärischen Kreisen kein Tabu mehr. Zwar wissen die soldatischen Planer, dass es selbst bei gutem Willen Jahrzehnte dauern würde, um eine Parlamentsarmee wie die deutsche und eine Atommacht wie die Franzosen unter gemeinsamem Kommando steht. Doch auch sie halten das Ziel nicht mehr für irreal.

Der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Generalleutnant a. D. Kersten Lahl, warnt gar: »Europa muss seine Hausaufgaben machen und wird in der globalen Welt nur dann eine Rolle spielen, wenn wir auf allen Gebieten handlungsfähig sind. Das bedeutet vor allem die Verbesserung von Fähigkeiten, damit es als ernstzunehmender Partner der USA auch seine eigenen, europäischen Interessen umsetzen kann.«

Noch freilich bleibt der Spalt zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Eigentlich hätte die französische Ratspräsidentschaft in diesen Monaten zumindest ein paar Hürden aus dem Weg räumen wollen. Ursprünglich hatte Präsident Sarkozy einige weitreichende Pläne, um zumindest die Armeen einiger Pionierländer zur stärkeren Synergie zu bringen.

Doch inzwischen ist das vertagt – wegen der Iren. Seit die Nein zum Lissabon-Vertrag gesagt haben, ruht in Brüssel fast jedes Dossier, das mehr Integration bringen könnte, allen voran die Verteidigungspolitik. Zu groß ist die Angst, vor einem möglichen zweiten Referendum über den EU-Vertrag die falschen Signale nach Irland zu schicken.

Dabei könnte Europa seine Fähigkeiten schon heute selbstbewusster vermarkten, nach innen wie nach außen. Denn zwischen der oftmals prekären Sicherheit, die UN-Blauhelme bieten, und der »roten«, feuerstarken Sicherheit, die das US-Militär verbreitet, klafft eine geopolitische Marktlücke. Die Nische für die Europäer, sie hieße: weiche Sicherheit, hart durchgesetzt.

Das jedenfalls ist eine Vorstellung, die nicht nur draußen, beim ausgelaugten Bruder Nato, immer mehr Sympathisanten findet.

Mitarbeit: Petra Pinzler