Seit einem halben Jahr jagen EU-Schiffe Piraten am Horn von Afrika. Doch die zeigen sich bisher wenig beeindruckt
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Das Schicksal der Besatzung auf dem kleinen Holzschiff hängt jetzt an einer Handvoll Eis. „Ich will das Eis sehen“, gibt Fregattenkapitän Ulrich Brosowsky energisch übers Funkgerät durch. Der braungebrannte, sonst eher ruhige Mittvierziger und studierte Pädagoge steht von seinem Kommandanten-Drehstuhl auf. Durch die Fenster der Brücke sticht sein Blick hinaus aufs Wasser, wo, etwa dreihundert Meter entfernt, das Marine-Beiboot mit seinen Soldaten neben einem bunt bemalten Fischerkahn dümpelt. Ein paar Meter von Brosowsky entfernt, draußen an der Schiffswand, haben Maschinengewehrschützen die Szene im Visier. Bei knapp 40 Grad Hitze und sengender Sonne rinnt den stämmigen Matrosen der Schweiß in Bächen unter die Splitterschutzwesten. Noch einmal greift der Kapitän zum Funkgerät. „Lasst euch jetzt das Eis zeigen!“
Brosowsky und seine Besatzung auf dem Bundeswehr-Kriegsschiff „Emden“ sind im Auftrag der Europäischen Union unterwegs. Mitten im Golf von Aden, zwischen der afrikanischen und jemenitischen Küste, hat die Fregatte aus Wilhelmshaven eine der vielen Hundert so genannten Dhows gestoppt, die in den Gewässern kreuzen. Die meisten der traditionellen Holzkutter gehören harmlosen Thunfisch-Fischern. Doch diese spezielle Schaluppe, so schien es den Wachoffizieren der „Emden“ schon durch die Ferngläser, könnte auf andere Beute aus sein. Dutzende Fässer Treibstoff liegen auf dem Kutter verzurrt, viel zu viel für ihn allein.
Der Verdacht liegt nahe, dass das Boot als schwimmende Nachschubbasis für Piraten dient – also eines jener „Mutterschiffe“ sein könnte, von denen aus Seeräuber das viel befahrene Meer vor dem Suezkanal seit Monaten in das reinste Kriegsgebiet verwandeln. Aufgekratzt geht Kapitän Brosowsky auf der Brücke auf und ab. Wenn die zehn Somalis Eisbarren zur Kühlung an Bord haben, will er ihnen die Erklärung abnehmen, dass sie bloß zu einer Fischerflotte gehören. Wenn nicht, verspricht dieser Vormittag ungemütlich zu werden.
Interview mit dem Kommandanten
Auf der Brücke beobachtet die Wachmannschaft, junge Männer und eine Frau, kaum einer älter als 35 Jahre, mit angespannten Mienen, was sich vor dem schlanken Bug der „Emden“ abspielt. Das graue 130-Meter-Schiff mit der gewaltigen, drehbaren 76-Millimeter-Kanone auf dem Vordeck muss auf den verlorenen Kutter so bedrohlich wirken wie ein Kampfstern. Über eine Kamera zoomt ein Soldat mit Sonnenbrand auf den Armen ein Wärmebild der Dhow heran. Bläuliche Schatten von Menschen bewegen sich über die Holzaufbauten.
111 Mal griffen im Jahr 2008 Piraten in der Gegend Frachtschiffe an, 42 mal gelang es ihnen, mithilfe von Kalashnikows, Enterhaken und Raketenwerfern Schiffe zu kapern. Ganze Öltanker haben sie schon in ihre Gewalt gebracht. Volle vier Monate dauerte das Martyrium der Besatzung auf dem deutschen Frachter „Hansa Stavanger“. Im April von Piraten geentert, kam das Schiff diese Woche für 2,75 Millionen Dollar Lösegeld frei. Doch acht weitere Schiffe mit 157 Menschen an Bord halten Piraten noch immer besetzt. Es sind längst keine armen Fischer mehr, die aus Verzweiflung Containerriesen entern. Am Horn von Afrika entsteht vielmehr eine hochgerüstete maritime Mafia.
Diesem Spuk, beschloss die Europäische Union im Herbst 2008, müsse ein Ende gemacht werden. Und tatsächlich, die Mission „Atalanta“ war für Brüsseler Verhältnisse geradezu in Speedboat-Geschwindigkeit auf den Weg gebracht. Schon zum Jahreswechsel 2009 dampften die ersten Marine-Schiffe mit blauem Sternenbanner am Schornstein Richtung Afrika. Heute patrouillieren ein gutes Dutzend Boote aus Spanien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien und Schweden durch das Einsatzgebiet, dessen Größe einem Viertel der Fläche der EU entspricht. Zwei deutsche Fregatten, einen Einsatzgruppenversorger und ein Aufklärungsflugzeug hat Deutschland geschickt.
Der Schifffahrtskorridor zwischen Arabien und Afrika ist die Achilles-Ferse des Welthandels. Etwa 90 Prozent des globalen Warenverkehrs quetschen sich durch die Meerenge. Rund 20 000 Schiffe pro Jahr befördern Öl aus Iran, Turnschuhe aus Bangladesh oder DVD-Spieler aus China über diese Route gen Westen. Ein einziges von ihnen kann Ladungswerte von einer Milliarde Dollar an Bord haben.
Mit der Schutzmission „Atalanta“ hat Europa, so scheint es jedenfalls, ein sicherheitspolitisches Traumprodukt für das 21. Jahrhundert entwickelt: einen vorbildlich vernetzten, rundum sinnvollen, allseits akzeptierten Militäreinsatz. Anders als beim ungeliebten Afghanistan-Einsatz der Nato versteht in Europa jedes Kind, warum es gut ist, Soldaten gegen Piraten in See zu schicken. Und bei genauem Hinsehen werden die Gründe gar noch nobler. Denn Europas blaue Jungs eskortieren nicht nur Handelschiffe. Sie schützen vor allem die Transportschiffe des UN-Welternährungsprogramms, deren Kornladungen hungernden Somaliern das Leben retten. Methodisch besteht bei all dem wenig Gefahr, unschuldige Frauen und Kinder zu bombardieren oder selbst Soldaten zu verlieren.
Besser geht’s kaum, wenn man, wie die EU, zur smarten Militärmacht der Zukunft aufsteigen will. Hektisch bemüht sich derweil die deprimierte Nato, einen eigenen Flottenverband zu entsenden, die Operation „Ocean Shield“. „Der reinste Schönheitswettbewerb ist das hier“, sagt ein Offizier hinter vorgehaltener Hand.
Doch die EU-Mission zeigt auch, wie vorsichtig-tastend sich Europa trotz aller Erfolge (kein von ihr eskortiertes Schiff wurde bisher von Piraten angegriffen) in die Welt der harten Sicherheitspolitik hineinwagt. Auf entscheidende Fragen der Piratenbekämpfung nämlich liefert „Atalanta“ – in der griechischen Mythologie eine jungfräuliche Jägerin – noch keine klaren Antworten. Wie viel Milde etwa kann man Seeräubern gegenüber sinnvoller Weise walten lassen? Was geschieht mit ihnen, wenn man sie festnimmt? Und vor allem: Wie lange lässt sich die Ursache der Piraterie politisch umschiffen, die Staatsruine Somalia?
Was die erste Frage betrifft, können sich, soweit ein erster Eindruck aus der Praxis, die Gejagten über mangelnde Herzlichkeit der Europäischen Seestreitkräfte nicht beschweren. „Habt ihr das Obst schon übergeben?“, fragt Kapitän Brosowsky das Einsatzteam im Beiboot. Anders als andere Schiffe der Atalanta-Flotte hat die Emden noch keine der für diese Fälle eigentlich vorgesehenen Geschenkrucksäcke an Bord. „Consent Winning Gifts“, heißen die eigens designeten Taschen in der Bürokratensprache, frei übersetzt etwa Fürchtet-euch-nicht-Beutel. Sie sollen, so will es die EU, bei Annäherungen an verdächtige Bootfahrer überreicht werden. Gefüllt sind sie mit Kugelschreibern, Taschenlampen, Notizblöcken und anderen „Souvernirartikeln“ (Brosowsky) mit EU-Logo, nebst Informationsmaterial über den Atalanta-Einsatz. Die „Emden“ hilft sich einstweilen mit Bordmitteln. „Mit Charme und Orangen“, sagt der Kapitän, ließe sich auch oft eine entspannte Amtosphäre schaffen. „Und die lockert hoffentlich die Zungen.“
Genau diese Lockerung ist infolge der Obstübergabe zwischen der Dhow und dem Marinebeiboot offenbar soeben eingetreten. „Der Schiffsführer lädt uns ein, an Bord zu kommen und die Kühlkammer anzusehen“, meldet der Einsatztrupp übers Walkie-Talkie. Brosowsky überlegt. – Was, wenn das eine Falle ist? Soll er eine Auseinandersetzung riskieren? Festnahmen gar? Letztere nämlich könnten den Deutschen im Zweifel ungelegener kommen als den Delinquenten selbst. Als vor wenigen Wochen eine schwedische Marineeinheit sieben Piraten aufgriff, berichtet eine Presseoffizierin des Königreiches, seien diese recht entzückt gewesen über den nordischen Lebensstil auf dem Versorger: „Sie haben gesagt, das sei ja der reinste Luxus hier, vor allem das Essen. Wir könnten sie solange festhalten, wie wir wollten. Das einzige Problem schien zu sein, dass wir weder Zigaretten noch Khat (ein in Somalia verbreitetes Rauschmittel, d.Red.) an Bord hatten.“
Zigaretten gibt es Bord der Emden reichlich, eine Stange für knapp fünf Euro abends im kleinen Shop auf dem klaustrophobisch-engen Mannschaftsdeck. Eine kleine Linderung der Härten, die ein Auslandseinsatz zur See mit sich bringt. „European Warship F 210“ lautet seit dem Atalanta-Einsatz die kuriose Funkkennung der „Emden“. In Dienst gestellt worden ist das Schiff 1983, in der Hochphase des Kalten Krieges. Die Luken aufs Außendeck machen ein saugendes Geräusch, wenn man sie öffnet. Das Schiffsinnere steht unter Überdruck. Im Falle von – damals einkalkulierten – ABC-Angriffen sollte er verhindern, dass Kampfstoffe ins Boot eindringen. „Ist für hier aber auch nicht schlecht“, sagt ein Matrose und drückt kräftig gegen die Stahltür, „hält das Ungeziefer draußen.“
2014 Jahren soll die Emden durch einen neuen Fregattetyp (F125) ersetzt werden, einen, der für die „assymetrischen“ Herausforderungen, wie Terror und Piraterie im Militärsprech heißen, besser geeignet ist. Die neuen Schiffe sollen andockfähig für Spezialkräfte und vier Speedboote werden, ein Tarnkappen-Design bekommen und länger auf See bleiben können.
An der „Emden“ erscheint dagegen vieles schon etwas nostalgisch. Die 12-Mann-Schlafräume, zum Beispiel. Die Duschen mit dem Papp-Pfeil an der Tür, der sich auf „Mann“ oder „Frau“ drehen lässt. Oder der Bordingenieur, der zwar noch keine 30 ist, aber Gasturbinen und Frischwassergewinner erklären kann als sei er im Maschinenraum aufgewachsen. Er ist einer der beschäftigtsten Männer an Bord. Statt mit Sonnencreme ist er mit Öl beschmiert, und sein Lieblingswort lautet „normaler Verschleiß“. Gerade ist der Backbord-Diesel ausgefallen. Letztes Jahr war es die Antriebswelle. „Für die Piratenjagd heißt das aber gar nicht“, beschwört der blasse Techniker.
Nur nach Hause, nach Wilhemshaven, würden seine Kameraden schon gerne pünktlich kommen. Nach fast einem halben Jahr auf See wirken viele von ihnen erschöpft. Auch deswegen ist die Neigung gering, jetzt noch Gefangene zu machen.
Auf der „Emden“ reisen für den Fall solcher Einquartierungen zwei Feldjäger mit. Die Militärpolizisten würden, so schildern sie es, festgenommene Piraten zunächst einmal nach demselben Ablauf behandeln würden wie Verdächtige auf einem deutschen Polizeirevier. Sie würden Fotos machen, Fingerabdrücke nehmen, eine ärztliche Untersuchung abwarten, Dusch- und Waschgelegenheiten stellen und den Beschuldigten Gelegenheit geben, einen Anwalt anzurufen. Falls sie einen kennen.
Danach allerdings wäre Schluss mit deutscher Strafprozessrechtsordnung. Die Festgenommenen würden in nummerierte blaue Overalls gesteckt und mit Handschellen unter einer Sonnenschutzplane auf Deck angekettet. Einer der Feldjäger hebt ein armdickes, gelbes Kunststofftau vom Decksboden auf. An ihm entlang würden die Piraten aufgefädelt. Betretenes Schweigen zwischen Crew und Reporter. Weht da ein Hauch von Guantánamo über die „Emden“? Der Soldat zuckt mit den Schultern. Tja. Arrestzellen gibt es an Bord nun einmal nicht. Was soll man machen?
Gemäß einem Abkommen mit der EU müssten Festgenommenen einstweilen in Kenia vor Gericht gestellt werden. Im März hat die deutsche Fregatte „Rheinland-Pfalz“ dies schon mit neun Piraten getan. Doch bis der Hafen von Mombasa erreicht ist, können ein paar Tage vergehen. Zu lange eigentlich, nach deutschen Standards, um Menschen ohne Haftbefehl festzuhalten. Aber sollen deswegen Richter an Bord mitfahren? Und müssten die Festgesetzten nicht eigentlich auch in Deutschland vor Gericht gestellt werden? All das, sagen die Feldjäger an Bord, seien berechtigte Fragen. Aber über die müßte Politiker entscheiden, nicht sie.
Eine Idee, die die deutschen Justizminister diskutieren, lautet, den Internationalen Seegerichtshof in Hamburg um eine Strafrechtskammer zu erweitern; ein Den Haag für Piraten, gewissermaßen. Dann wäre bloß noch die Frage, wo dieses Gericht am besten seinen Sitz haben sollte. Vielleicht doch eher in Afrika? Bisher sind 68 mutmaßliche Piraten nach Kenia in Landhaft überführt worden.
Die derzeit heikelste Frage aber lautet, wie weit die Bundesregierung gehen würde, um ein entführtes Schiff zu befreien. Am 4. April fiel die „Hansa Stavanger“ in die Hände von Piraten, seitdem lagen deutsche Marineschiffe in der Nähe, um die Szene zu beobachten. Die Soldaten auf der „Emden“ sind dabei in den vergangenen Wochen Zeugen geworden, wie sich die GSG9 für eine Erstürmung des Schiffes erst rüstete – und dann unverrichteter Dinge wieder abzog. Die deutsche Marine brachte dem Vernehmen nach nicht genügend Hubschrauber auf, um eine Befreiungsaktion starten zu können. Und die amerikanische Navy weigerte sich, die heikle Mission zu unterstützen.
Manch einer an Bord fragt sich nach der unnützen Warterei, ob Berlin, gerade im Wahljahr, überhaupt den erforderlichen politischen Willen besitzt, „auch mal ein klares Zeichen zu setzen.“ Schließlich würden die Piraten-Banden mit jeder Lösegeldforderung gestärkt. „Wir sehen doch gerade, dass die in die Glasfaser-Klasse aufsteigen“, sagt ein Marine-Mann. Moderne, schnellere Boote gehören mittlerweile ebenso zum Arsenal der Seeräuber wie Schiffserkennungsgeräte, Panzerfäuste und Satellitentelefone – sie rüsten schneller auf als die deutsche Marine. Nach einem halben Jahr „Atalanta“ haben die Angriffe zudem keinesweg abgenommen; seit Jahresbeginn wurden 130 Attacken (Quelle: International Maritime Bureau) gezählt, schon mehr also als im gesamten Vorjahr. Andere Soldaten sind skeptisch, ob „Eskalationen“ weiter helfen würden. „Wir lernen hier schließlich auch noch dazu“, heißt es in der Offiziersmesse über einem Stück heimatlichem Schweinebraten.
Ein historischer Vergleich macht klar, was Seemacht auch bedeuten kann: Als die britische Regierung 1807 beschloss, die Sklaverei zu beenden, schickte das Königreiche seine Navy, um vor der Westküste Afrikas Menschenhändler von ihrem Tun abzuschrecken. Bis zu 240 Schiffe waren dafür im Einsatz, mit 40 000 Mann Besatzung. Bis 1840, schildert der britische Historiker Niall Ferguson (in „Empire“) habe die Royal Navy 425 Sklavenschiffe aufgebracht und nach Sierra Leone eskortiert, wo den Kapitänen der Prozess gemacht wurde.
Kapitän Brosowsky entschließt sich, jedenfalls heute, lieber zum defensiven Rückzug. Das Eis hat er zwar nicht gesehen. Aber seine Soldaten sollen die Dhow trotzdem nicht betreten. Schließlich habe sich deren Besatzung „kooperativ“ gezeigt. Er befiehlt dem Beiboot zur „Emden“ zurückzukehren – auch wenn Zweifel bleiben, wie er zugibt. „Aber es ist nicht Aufgabe von Atalanta, Piraterie mit allen Mitteln zu verhindern“, sagt er. Und: „Allein von See aus läßt sich das Problem ohnehin nicht lösen.“
Dazu müsste, das ist hier allen Beteiligten klar, vielmehr die Piraten-Heimat Somalia stabilisiert werden. Doch dort tobt seit Monaten ein Krieg zwischen einer schwachen Übergangsregierung und Clanmilizen, die sich nebenbei auch gegenseitig terrorisieren. Zudem gewinnen Islamisten an Boden, nachdem bereits mehrere Interventionen – unter anderem mit Hilfe Amerikas – blutig scheiterten. Nach UN-Schätzungen sind 1,2 Millionen auf der Flucht aus der Staatsruine. Es ist ein Afghanistan in Afrika, mit anderen Worten. Und damit keine Aufgabe, die Europas Militär sich zutrauen würde.