Die Nato wird 60 Jahre alt. Das muss gefeiert werden. Auch wenn das Bündnis gerade seinen ersten Krieg verliert
Die Nato wird die Vergangenheit feiern, als gäbe es kein Morgen. Am Rhein, der Frontlinie zweier Weltkriege, kommt das Verteidigungsbündnis ab Freitag zu seinem 60. Gründungstag zusammen. Das Protokoll für den großen Jubiläumsgipfel, den Frankreich und Deutschland gemeinsam ausrichten, möchte rührige Bilder, die an den Gründungszweck der Allianz gemahnen. In Straßburg, auf der französischen Uferseite, wird Nicolas Sarkozy die Bundeskanzlerin erwarten. Angela Merkel soll, gefolgt von den 24 übrigen Staatschefs der Allianz, vom deutschen Kehl aus auf einer Fußgängerbrücke über den Fluß schreiten. In der Mitte wird man dann so tun, als sei gerade erst Frieden eingekehrt in Europa. Bündnisküsse mit Obama, Kampfstrahlen in die Kameras der Welt.
Etwas weiter entfernt, in den Bergschluchten des Hindukusch, droht die gewaltigste Militärmacht aller Zeiten derweil den ersten Krieg zu verlieren, in den sie sich begeben hat. Ein paar Tausend Taliban, so zeigt sich, sind in der Lage, geschickter und schlagkräftiger zu agieren als 26 High-Tech-Armeen der reichsten Länder der Welt. Wenn sich daran nichts ändert, könnte die Nato in Afghanistan bald enden wie vor ihr schon Briten und Russen: aufgerieben von Aufständischen, die zwar weniger sind als sie, aber einiger und entschlossener.
Im Anschluss an die Geburtstagsartigkeiten haben die Regierungen in Straßburg einen halben Tag lang Zeit, darüber zu beraten, wie sie dieses Debakel verhindern wollen. Daneben stehen noch ein paar untergeordnete Themen auf der Tagesordnung. Die Frage nach dem künftigen Verhältnis zu Russland zum Beispiel. Die Aufnahme von Albanien und Kroatien als Neumitglieder. Die Diskussion um Leitlinien für ein neues Strategisches Konzept. Und, ach so, auch die Einigung auf einen neuen Generalsekretär nach dem türkischen Widerstand gegen den dänischen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen.
„Es wird ein atemloser Gipfel“, heißt im Nato-Hauptquartier in Brüssel. Selbst die Beteiligten bemühen sich, die Erwartungen zu dämpfen. Dabei böte Straßburg nicht weniger als die Gelegenheit, gemeinsam mit Obama den Neustart-Knopf für das Bündnis zu drücken. Stattdessen sieht es wie üblich so aus, als werde Amerika voranpreschen und Europa hinterhertrotten.
Barack Obama will das Blatt in Afghanistan dadurch wenden, dass er 17 000 Soldaten aus dem falschen (Irak) in den richtigen Krieg (Hindukusch) umsiedelt. Die West-Europäer sind mit ihm immerhin soweit einig, als sie seine Irakkriegs-Bewertung teile. Eine Herzensangelegenheit wird ihnen die Afghanistanmission deswegen aber noch lange nicht. „Wenn man heute noch sagt, auch unsere Sicherheit werde am Hindukusch verteidigte, erntet man nur Lächeln“, gestand Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, gegenüber dem Publikum des Brussels Forum, zu dem der German Marshall Fund kurz vor dem Gipfel hochrangige Politiker aus aller Welt zusammen gebracht hatte. „60 Prozent unserer Bevölkerung sind gegen die Mission“, erinnerte der CDU-Abgeordnete.
Zwar stellen die Deutschen mit über 3500 Soldaten das drittgrößte Kontingent der internationalen Aufbautruppe (Isaf), aber sie scheuen jede Aktion, die als Kampfeinsatz gewertet werden könnte. In Frankreich, dem anderen Gastgeberland des Nato-Jubiläumsgipfels, fordert die Opposition, die Regierung möge endlich einen Zeitplan erstellen, wann die Nation mit der leidigen Mission durch sei.
Ist Afghanistan also das verklingende Echo eines Bündnisversprechens, an das die Europäer 20 Jahre nach dem Mauerfall in Wahrheit schon lange nicht mehr glauben? Trotz des Sympathie-Bonus Obama zweifeln Amerikas Außenpolitiker daran, ob Europa in Afghanistan wirklich Frieden will, oder ob es nicht recht eigentlich mit Afghanistan in Frieden gelassen werden möchte. „Fühlt sich Europa der Aufgabe wirklich so verpflichtet wie die Vereinigten Staaten es tun?“, fragt US-Nato-Botschafter Kurt Volker. Vielleicht, schlägt er vor, wäre es ganz gut, die öffentliche Meinung für das Projekt zurück zu gewinnen.
Die jämmerliche Zahl von 177 Polizeiausbildern hat die „soft power“ Europäische Union bis heute für den Wiederaufbau aufgetrieben – und ist damit mitverantwortlich dafür, dass Afghanistan noch weit entfernt ist von jener „selbsttragenden Sicherheit“, die sich die internationale Gemeinschaft so dringend wünscht. „Die Polizei ist in keinem guten Zustand“, mahnte in Brüssel der neue US-Beauftragte für Afghanistan und Pakistan, Richard Holbrooke. Er forderte „einen sehr beträchtlichen Zuwachs“ an Sicherheitskräften.
Auf bis zu 400 000 Soldaten wolle die Obama-Regierung die Afghanische Nationalarmee aufstocken, meldet die New York Times. „Völlig unrealistisch“ nennt ein europäischer Nato-Diplomat dieses Ziel. Aber auch an einen weiterreichenden strategischen Wandel kündigt der Sonderbeauftragte Holbrooke an. Es gebe kein Afghanistan und kein Pakistan mehr, sagt er, es gebe nur noch „Afpak“, sprich: ein zusammenhängendes Problem. Solange die Taliban ihren Nachwuchs im pakistanischen Grenzgebiet trainieren, solange wird die Isaf-Mission in Afghanistan nicht beruhigen können.
Der europäische Beiträg zu diesem neuen „Regional Approach“, so ist zu hören, könnte in der Schulung pakistanischer Offiziere bestehen oder im Bau von Schulen, wo es heute nur Koran-Madrassas gibt.
Von Russland erhofft die Nato derweil, dass Moskau den Isaf-Truppen neue Nachschubwege an den Hindukusch eröffnet. Als Zuckerbrot bietet die Allianz Moskau trotz des Georgienkrieges eine „phasenweise Wiederannäherung“ an. Mit anderen Worten: Der Gipfel könnte die Rückkehr zu den gewohnten Beziehungen mit Russland markieren. Russlands Nato-Botschafter Dimitri Rogosin kommentiert das Angebot gewohnt ruppig. „Hübsche Foto-Gelegenheiten und Medienrauschen“ interessierten ihn nicht, sagt er. Wohl aber aber „echte Partnerschaft“, verbunden bitteschön mit der „Rückkehr Russlands auf die rechtmäßige Position der Weltbühne.“ Bloß: Wo genau ist der?
Klar ist, die Bühne Europas gehört am kommenden Wochenende ganz dem neuen US-Präsidenten Barack Obama. Da mögen seine mitreisenden Diplomaten hinter den Kulissen fordern, was sie wollen. Die erste Europareise des sympathiemächtigsten Mannes der Welt wird kein Missklang stören. Obama, heißt es von amerikanischen Offiziellen, kenne den „Hunger“ der Europäer nach frischen Botschaften aus dem Weißen Haus. „Er wird sich alle Mühe geben, den zu stillen“, sagt eine seiner Diplomatinnen.