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„Afghanistan ist unser Test!“

 

Phänomen Obama: Der neue US-Präsident wird in Europa für Forderungen beklatscht, für die sein Vorgänger ausgebuht worden wäre

„He has got the whole world in his hands“, darf Lisa Doby zur Einstimmung singen. Die Folkgitarristin ist Afroamerikanerin und lebt seit zehn Jahren im Elsaß. Die menschgewordene neue transatlantische Harmonie, mit anderen Worten. Ihre zarten Gitarrenklänge füllen die Luft der Straßburger Sporthalle, in der gut 4000 Schüler aus Deutschland und Frankreich auf Barack Obama warten. Eigentlich ist der zum Nato-Gipfel hier. Aber der US-Präsident kennt, wie eine amerikanische Diplomatin sagt, „den Hunger der Europäer nach ihm und seinen Botschaften.“ Und den wolle er stillen. „There is love“, singt Lisa Doby, „yeah, there is love!“

Aber da ist auch Krieg. Ein Krieg, den die Nato zu verlieren droht. Und das will auch Obama nicht. Deswegen fordert er mehr Gewalt. Mehr Gewalt gegen die Taliban, die Hilfstruppen von al-Qaida. Aber dieser Ruf nach mehr Feuerkraft stört die jugendlichen Tausenden, unter deren Jubel er jetzt in die Halle einzieht, kein bisschen. Wenn Obama es möchte, dann, scheint es, ergibt plötzlich auch der Krieg am fernen Hindukusch wieder einen Sinn.

Nach einigen Artigkeiten („Oft sieht man bei diesen Gelegenheit alles ja nur aus dem Fenster. Deshalb wollte ich gerne hier mit Euch sprechen.“), kommt Obama auf das Thema zu sprechen, dass jenseits seines ersten Europabesuches dieses Gipfelwochenende beherrscht. Kann der Westen Afghanistan noch gewinnen?

„Ich höre manchmal die Frage: Was soll das alles?“, sagt Obama unter Anspielung auf die Kritiker, die die Mission in Afghanistan allmählich für sinnlos halten. „Und ich antworte: Wir würden diese Mission nicht unternehmen, wenn wir sie nicht für unverzichtbar für unsere Sicherheit hielten.“ Schließlich müsse man annehmen: „Wenn es weitere al-Qaida-Attacken gibt, dann gibt es sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in Europa.“

Sicher: Rhetorik, moralische Glaubwürdigkeit und – vor allem – die Afghanistan-Strategie von Obama sind besser kalibriert als die seines Vorgänger. Aber überraschend ist dennoch, wie leichthin es dem neuen Präsidenten gelingt, seine Zuhörer von einer Kausalität zu überzeugen, für die es seit immer längerer Zeit immer weniger Anhaltspunkte gibt. Von einem Zusammenhang nämlich zwischen der Schlagkraft von al Qaida und der Lage in Afghanistan. Der islamische Terrorismus schließlich hat sich von Afghanistan längst entkoppelt.

„Wir haben kein Interesse, Afghanistan zu besetzen. Wir haben genug damit zu tun, Amerika wieder aufzubauen“, sagte Obama, und Applaus brandet auf. Seltsamerweise wird der Beifall noch heftiger, als er sagt: „Aber die Mission in Afghanistan ist ein Test dafür, ob wir gemeinsam Sicherheit für uns schaffen können. Europa, und das sage ich deutlich, sollte nicht erwarten, dass Amerika die Bürde (des militärischen Teils der Mission) alleine schultert!“

Hätte George Bush es gewagt, auf diese Weise von den Europäern mehr Kampftruppen zu fordern, das Publikum hätte sich mit Grausen und Entsetzen abgewendet.

Was macht Obama anders? Ja, er hat eine neue Strategie, eine des „vernetzten Ansatzes“, die auch Pakistan und den Iran als Partner einschließen soll. Ja, er gibt zu, Amerika habe über den Krieg im Irak den notwendigen „Fokus“ auf Afghanistan verloren.

Aber hat sich deswegen an dem Grundproblem der mangelnden Begründbarkeit des Einsatzes etwas geändert? Daran also, dass al-Qaida heute Afghanistan gar nicht mehr braucht, um Anhänger zu rekrutieren und Attentate zu planen? Weil dies mittlerweile sogar im Sauerland geht, per ideologischer Anleitung aus dem Internet und Bombenmaterial aus dem Baumarkt? Nein, hat es nicht.

Die Beschwörung eines abstrakten gemeinsamen Zieles, der Wichtigkeit eines Erfolges für die Nato, mag in der Honeymoon-Phase zwischen Obama und den Europäern noch ein paar Wochen lang Harmonie stiften. Aber je konkreter Obama gezwungen sein wird, ein wachsendes Engagement in Afghanistan zu begründen, desto deutlicher könnte zutage treten, dass die Europäer trotz aller Sympathie eine Einschätzung nicht teilen: Dass Afghanistan eine gemeinsame Herzensangelegenheit sei.