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Halb so schlimm

 

50 Prozent Wahlbeteiligung wären eine gute Quote für die Europawahlen am Sonntag.
Eine Provokation

Schlimm, schlimm, schallt es dieser Tage auf Brüssels Abendempfängen. Wohl nur an 50 Prozent der EU-Einwohner werden voraussichtlich am Sonntag zu den Europawahlen gehen. Bei der letzten Abstimmung 2004 lag die Wahlbeteiligung ja auch schon so niedrig, bei europaweit 45,5 Prozent. Schlimm, schlimm.

Nein, überhaupt nicht so schlimm. Fünfzig Prozent Beteilung wären vielmehr eine beachtliche Quote für die Europawahlen. Im Gegenteil, die Parlamentarier in Brüssel sollten sich Gedanken machen, ob die EU ihre Arbeit gut macht, wenn sich mehr Leute ernsthafter für das interessieren sollten, was hier passiert.

Huch. Warum das?

Aus mehreren Gründen sollte es niemand tragisch nehmen, wenn die Wahlbeteiligung für die EU deutlich unter der für den Bundestag liegt. Denn erstens darf man vermuten, dass längst nicht die Hälfte aller Europäer auch nur ansatzweise versteht, wie die Gesetzgebung in Brüssel im Vergleich zu den Nationalstaaten funktioniert. Wie viele Wähler kennen wohl den Unterschied zwischen Kommission und Rat? Wer weiß, was der oder die EVP ist? Die oder das ALDE? (Es ist die konservative beziehungsweise liberale Gruppe im Europäischen Parlament.) Und: Wenn diese Fraktionen erst gewählt sind, wählen sie ihrerseits keine Regierung – was im nationalen Wahlspektakel den Hauptanreiz für die Bürger darstellt, ihre Stimme abzugeben.

Aber siehe an: die Europawahl bewegt sie doch. Immerhin zur Hälfte. Nicht übel!

Sicher, man mag bedauern, dass das politische Interesse der meisten Europäer nicht konsequenter über den nationalen Tellerrand hinausreicht. Aber vielleicht sollte man sich damit abfinden, dass der Bürger nur über eine begrenzte Aufmerksamkeitskapazität verfügt. Sie erlaubt es ihm vielleicht noch, der nationalen Politik einigermaßen konsequent zu folgen. Um seine Interesse auf die wesentlich komplexere Europapolitik zu richten, fehlt ihm hingegen regelmäßig nicht nur die Zeit, sondern auch der Anlass.

Das ist nicht nur nachvollziehbar. Es ist demokratiepolitisch auch nicht weiter gefährlich.

Denn, und damit zum zweiten Einwand gegen die Apathie-Panik, die EU soll gar nichts regeln, was die Menschen im Innersten bewegen könnte. Brüssels Organe sind schließlich der Subsidiarität verpflichtet. Dieses Wort, pardon, ist leider genauso kompliziert wie wichtig. Denn das Subsidiaritäts-Prinzip besagt: Nur solche Regelungen, die nicht besser auf lokaler oder nationaler Ebene geregelt werden können, dürfen auf supranationaler Ebene geregelt werden.

Die EU soll, anders gesagt, als Gesetzgeber nur dann einspringen, wenn die Regelungsmacht von Kommunen, Ländern und Staaten versagt.

Das bedeutet in der großen Mehrheit aller gesetzgeberischen Maßnahmen aber eben zugleich: Nur solche Regelungen, die den äußersten Ring der Bürgerinteressen berühren, sind EU-Angelegenheiten. Alles andere soll und muss Sache der lokalen oder nationalen Politik bleiben.

Die EU hat die Aufgabe, das Leben und Wirtschaften auf dem Kontinent zu verschönern und zu erleichtern. Sie soll für jene Reibungslosigkeit sorgen, deren Notwendigkeit sich aus der engen europäischen Staatennachbarschaft ergibt. Den Binnenhandel liberalisieren und den Wettbewerb schützen, zum Beispiel. Die Gemeinschaftswährung hüten. Für Lebensmittel-, Transport- und Spielzeugsicherheit sorgen, dafür, dass keine ungeprüften Chemikalien in Umlauf kommen, und, falls etwas davon einmal nicht klappt, dafür, dass man überall zum Arzt gehen kann. Alles Dinge, die unstreitig schön sind; und die genau deswegen niemanden aufregen.

Das politikwissenschaftliche Schlagwort von der „second-order election“ Europawahl darf man deshalb ruhig ohne defätistischen Beiklang aussprechen.

Die EU soll hingegen gerade nicht Dinge regeln, die keinen supranationalen Regelungsbedarf aufweisen oder die in Rechte und Freiheiten der Bürger eingreifen. Per Richtlinie die Ausgabe von biometrischen Pässen anzuordnen, war zum Beispiel ein schwerer Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip. Ebenso das Verbot der Glühbirne. Oder die ernsthafte Diskussion über europäische Normen für den Salzgehalt von Brot. All dies sind Dinge, welche die Nationalstaaten nicht nur selber regeln könnten, sondern sogar müssen – weil der Bürger ein umso größeres Recht auf klare Erkennbarkeit der politisch Verantwortlichen hat, je tiefer die politischen Maßnahmen in seine Freiheit eingreifen.

Immer wenn sie diese Grenze hinein in die tieferen Bürgersphären überschreitet, zieht die EU – zu Recht – negative Aufmerksamkeit auf sich.

Immer wieder werden Zahlen zitiert, nach denen zwischen 70 und 85 Prozent aller Gesetzgebung aus Brüssel stammt. Das mag ungefähr stimmen. Aber entscheidend für das Bürgerinteresse ist nicht die Anzahl der Paragraphen, sondern deren Relevanz. Und da sieht die Bilanz schon trister aus.

Die EU ist, grob gesprochen, vor allem eine große Normierungsinstanz. Wenn es um Sicherheitsstandards für Kindersitze, Mobiltelefone, Trinkwasser, Festigkeit von Baubeton oder den Abstand von Straßenlaternen geht, schleudert die Gesetzesmaschine Brüssel umfängliche Richtlinien in die Welt. „Achtzig Prozent der europäischen Normen sind technische Normen“, sagt der Fraktionschef der EVP im Europaparlament, Joseph Daul, diese Woche in der FAZ.

Und das soll die Bürger bewegen? Brüssel produziert, seien wir ehrlich, im Großen und Ganzen die wahrscheinlich langweiligsten Gesetze der Welt.

Auf Europas Einigungsgeschichte, besonders auf die der vergangenen 20 Jahre, mögen die Europäer mit Stolz zurückblicken. Der Betriebsalltag der EU hingegen ist kein bisschen herzerwärmend.

Selbst wenn also Kommission und Parlament bewunderswerte, glänzende Arbeit im Geiste der europäischen Verträge leisten, führt das nicht zu einem gesteigerten Bürgerinteresse am Brüsseler Harmonisierungsapparat. Man nimmt’s halt hin – ähnlich wie die Serviceleistung einer Stadtverwaltung, bloß in groß. Noch mal der EVP-Fraktionschef Joseph Daul: „Wenn wir die Abgaswerte von Autos regeln müssen, ist dann ist das doch keine Frage von rechts oder links. Das ist gut für die Umwelt und gut für die Bürger.“

Nichts zu sagen hat das Europaparlament derweil in der Steuergesetzgebung, der Sozialpolitik und, nein, auch nichts in der Konjunkturpolitik.

„Die Zuständigkeit für die Haushalts-, die Steuer- und die Sozialpolitik liegt aus guten Gründen bei den Mitgliedsstaaten“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 27. Mai in ihrer Berliner Humboldt-Rede zu Europa. „Maßnahmen zur Stützung der Konjunktur, auch so genannte Bankenrettungspakete, sind nationalstaatliche Aufgaben.“ Die EU, so die Kanzlerin, könnte hier lediglich den „Ordnungsrahmen“ bilden, in dem die Mitgliedsstaaten über ihre Handlungsoptionen entscheiden.

Aber selbst darauf, wie dieser Ordnungsrahmen in Zukunft aussehen soll, kann der Wähler bei der Europawahl keinen maßgeblichen Einfluss nehmen. Was zum Beispiel, wenn er den Lissabon-Vertrag, der EU-Eingriffe in Bürgerrechte künftig sehr viel einfacher macht und Europa eine Quasi-Staatlichkeit verleiht, nicht möchte?

Davon abgesehen, dass alle ernst zu nehmenden Parteien (CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP) für den Reform-Vertrag sind und sich dem Wähler daher keine echte Alternative zum Integrationskurs bietet, hat das Europaparlament gar keine Einflussmöglichkeit auf die Zukunft von Lissabon. Selbst wenn sich – urplötzlich – eine Mehrheit im Parlament gegen den Vertrag stellen würde, seine Inkraftsetzung bliebe Sache der Mitgliedsländer.

„Hören wir doch auf, die Illusion der Bürgernähe der EU zu erzeugen“, sagt ein deutscher Europaabgeordneter nach diversen Marktplatzgesprächen der vergangenen Wahlkampfwochen. „Das führt bei den Leuten nur zu Frust.“

Kurzum: Es ist nicht kein von vorneherein schlechtes Zeichen, wenn lediglich die Hälfte der Europäer wählen gehen.

Die EU soll schließlich keine Innenpolitik zweiten Grades betreiben, sondern lediglich störende binneneuropäische Barrieren beseitigen. Solange sie das gut macht, kann sie ein gewisses Desinteresse der Bürger entspannt hinnehmen.

Anders hingegen sieht es aus, wenn die Wahlbeteiligung in einigen osteuropäischen Staaten, etwa in Polen oder in den Baltenstaaten, auf unter 20 Prozent rutschen würden. Diese Quote ließe sich dann nicht mehr mit einem freundlichen Desinteresse erklären. Eher schon mit grundsätzlicher Feindseligkeit gegen eine neue politische Oberaufsicht, wie sie diese Staaten erst vor 20 Jahren abgeschüttelt haben.

Eine Gleichsetzung der EU mit dem Sowjetimperialismus verbietet sich zwar. Aber vielleicht gilt emotional in diesen Ländern ein analoger Gedanke, wie ihn die ostdeutsche Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley nach der 1989er-Revolution in der DDR formuliert hat. „Wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen.“

In Osteuropa denken vermutlich viele, sie wollten Europa und haben die EU bekommen. Aber seien wir auch hier ehrlich: Es gibt schlimmere Enttäuschungen.