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Rotes Schlusslicht

 

Von wegen Kapitalismus-Krise. Die Europawahl zeigt:
Die Bürger wollen keine Systemdebatte

Wir Europäer kennen uns ein bisschen besser seit dem vergangenen Wochenende. Denn allen einzelstaatlichen Dramen, die natürlich auch die Stifte führten, zum Trotz: Diese Europawahl war eine kollektive Antwort auf einen kollektiven Horror. 57 Prozent der Europäer sagten vor der Wahl, dass die Europäische Union mehr tun solle, um Arbeitsplätze zu erhalten. Nur 26 Prozent interessierten sich für den Klimaschutz, und bloß 24 Prozent schreckt noch das Thema Terrorismus.

Die Wahlbeteiligung mag geschwankt haben (zwischen 19,6 Prozent in der Slowakei und 78,8 Prozent auf Malta), geeint aber waren die Europäer nicht nur ihrer Hauptsorge, sondern auch in der Schwierigkeit, ein Urteil zu finden. Denn der Schrecken, der über den Kontinent kam, rollte heran wie eine Naturgewalt aus außerpolitischen Sphären. Für die Finanz- und Wirtschaftskrise kann der Wähler (noch) keine Quittungen verteilen. Er kann, mangels Erfahrung, an den richtigen Ausweg nur glauben.

Wohin also rennt der Europäer im Gewittersturm? Zur Mitte.

Es ist die Bewegung einer verschreckten Herde, die sich in den Wahlergebnissen des Kontinentes abbildet. In Deutschland, Polen, Frankreich, Italien und Spanien finden sich die Mitte-Rechts-Parteien entweder stabilisiert oder gestärkt. In fast allen großen europäischen Staaten liegt gar ein deutlicher Abstand zwischen Konservativen und Sozialdemokraten. In Deutschland und Frankreich beträgt er rund zehn Prozent, in Ungarn klafft zwischen der Ergebnissäule der Fidesz-Partei und dem Balken der Sozialisten gar ein Abgrund von 40 Prozent. Die Sozialdemokratie in Europa scheint auf ein Stammwählerniveau abzumagern, dessen Mitglieder es laut Umfragen sind, die „vor allem die Politik“ für die Krise verantwortlich machen.

Wie anders hatten sich die Europas Sozialdemokraten den Reflex der Völker ausgemalt. In der wirtschaftlichen Eiszeit, dachten sie, sucht der homo EUensis die rote Wärme, die Solidarität mit den Strauchelnden, Schutz von oben. Mag sein. Doch – und vielleicht war das der größte Fehler der Sozialdemokraten – Angst verscheucht man nicht mit Gespenstern.

„Der Kampf geht weiter!“ – Muss das sein?

„Neoliberalismus“ hieß jenes, das sie in den vergangenen Monaten durch Europa trieben. Schuld an der Misere, tönten Fraktionschefs und Spitzenkandidaten, seien die Finanzhaie (die europäischen Vetter der Lehman-Brüder, der EU-Binnenmarktkommissar Charlie McGreevy), die Deregulierer (Merkel, Sarkozy, Barroso) sowie das System (der Kapitalismus und die EU-Kommission). Auch jetzt, nach ihrer Niederlage, geben sie den Anspruch an ein anderes, sozialeres Europa nicht auf. Aber das Soziale der Sozialdemokraten scheint beim Wähler nicht mehr zu verfangen.

„Der Kampf geht weiter!“, ruft in der Wahlnacht ein sichtlich erschöpfter Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, der Deutsche Martin Schulz, seinen Anhänger in einer brüchigen Video-Schalte nach Brüssel zu. Kaum einer der internationalen Genossinnen und Genossen lächelt über die Wortwahl. Womöglich aber war die Rhetorik der vergangenen Monate, wenn auch verpackt in hippen „Rettet-Nemo“-Spots, ein bisschen zu viel des Klassenkampfes für das 21. Jahrhundert. Die Entschlossenheit und die Schein-Sicherheit, mit denen die Sozialdemokraten auftrumpften und anklagten, ließ ihr Heilversprechen in den Verdacht geraten, letztlich eher aus Weltanschauung gespeist zu sein denn aus Durchblick.

„WUMS“ war nicht dumm

In Frankreich ergingen sich die Sozialisten in wildem Anti-Sarkozismus; alles, aber auch alles, was aus dem Elysée drang, hatte falsch zu sein. Bloß, wo war das eigene, glaubwürdige Projekt?
Dieses Suchende verband die Sozialdemokraten beinah ein wenig mit jenen Parteien, die im neuen EU-Parlament bunte, wirre Fransen bilden werden. Den EU-Skeptikern aus dem Westen, den Internet-Piraten aus dem Norden, den Volkstribunen aus den Osten – jenen „Anderen“, die im Brüsseler Plenarrund fortan beachtliche 93 von 736 Sitzen okkupieren werden.

In Paris strahlt derweil der Grünen-Spitzenkandidat Daniel Cohn-Bendit. Mit 16,3 Prozent führte er seine Europe écologie bis auf zwei Zehntelprozentpunkte an die Sozialisten heran. Und in Berlin jubelt Spitzenkandidat Reinhard Bütikofer über 12,1 Prozent. Warum? Weil „WUMS“ nicht dumm war. Ökologische Ökonomie, oder auf Französisch, grünes Wachstum, erfüllt gleich drei Wünsche der Europäer. Aufschwung, Innovation und Umweltschutz. Darüber, ob „WUMS“ noch links ist, mögen Wissenschaftler streiten. Es war jedenfalls eine konstruktive Wahl.

Die Krise ist keine Folge von Systemversagen

Was boten dagegen die Sozialdemokraten? Eher Systemdebatten aus der Mottenkiste. Kein Wunder, wenn viele Europäer dem Ideologiestreit, den sie anfeuern wollten, mit Skepsis begegnen. Schließlich legt die Indizienlage als Ursache für die Krise eher menschliches Versagen nahe. Mehr jedenfalls spricht dafür, dass die gegenwärtige Krise aus den Fehlern weniger, zu mächtiger Manager und Banker erwuchs, die unheimlich viel über Profitsteigerung wussten und grauenhaft wenig über die Vitalfunktionen einer Volkswirtschaft, als dafür, dass Europas Marktgebälk wesentliche Konstruktionsfehler aufwiese. Wie, wenn nicht mit der tief sitzenden Überzeugung der meisten Europäer, dass der Kapitalismus eben keine gescheiterte Ideologie ist, wäre die klare Mehrheit für die Marktfreunde in den Parlamenten zu erklären? Er soll und muss repariert werden kann – aber mit bitte Vorsicht.

Muss man ein schlechter Mensch sein, um an das Gute in den Selbstreinigungskräften des Marktes zu glauben? Die Mehrheit der Europäer scheint das nicht zu denken. Selbst im 2004 beigetretenen Osten der EU, wo Jobverluste und Währungsverfall bedrohliche Ausmaße annehmen, haben die Wähler nicht das Vertrauen in diejenigen Politiker verloren, die in letzter Konsequenz auf die Vitalität der gesamten Gesellschaft hoffen statt auf die Portemonnaies der Reichsten.

„Ja, wir haben uns übernommen“, gesteht eine ranghohe Politikerin aus Lettland, „und wir sind abgestürzt.“ Aber genauso selbstverständlich redet sie vom „Wir“, von der Basis, mit deren Hilfe es bald wieder aufwärts gehen müsse. Ansonsten, das wissen manche 89er-Revolutionäre vielleicht genauer als andere, ist da nämlich niemand.

Europas Bürger, sie ahnen offenbar, dass der Staat kein systemrelevanter Akteur sein muss, damit dieser Kontinent sich erholt. Neu-Europäer (Ost) und Alt-Europäer (West), scheint es, haben zähneknirschend die Einsicht in die postindustrielle Notwendigkeit gewählt. Eine Herde mit guten Ideen, reden sie sich in der Mitte zu, überlebt auch mal eine geregelte Insolvenz.