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Ein Pirat für die Zukunft

 

Das neue Europaparlament kommt zu seiner ersten Sitzung zusammen. Hoffnung auf eine regere EU macht vor allem ein einsamer Schwede

Tausend Köpfe drehen sich besorgt nach oben, als der Pole Jerzy Buzek sich als Kandidat für das Präsidentenamt vorstellen möchte. Aus der Decke des Plenarsaals dringt mit einem Mal ein lautes, rauschendes Geräusch. Straßburg-Kennern dämmert es; die Architektur hier kann widerspenstig sein. Kein Jahr ist es her, dass ein Teil des Daches, das den gewaltigen Sitzungssaal des Europaparlaments überspannt, zusammenbrach. Die Trümmer prasselten weit rechts, auf den Sitzen der Anti-Integrationisten, nieder. Das war zur Urlaubszeit, zum Glück.

Heute, scheint’s, bringt das Gebäude immerhin ein ungut dunkles Stöhnen gegen die neuen Bewohner in seinem Bauch auf.

„Das ist die Klimaanlage“, beruhigt der scheidende Präsident Hans-Gert Pöttering, „sie hat sich in Gang gesetzt, weil so viele Menschen im Saal sind.“ 736 Abgeordnete aus 27 Ländern finden sich in der vergangenen Woche im Elsaß zur neuen Völkervertretung der Europäischen Union zusammen, und noch mal ein paar Hundert Journalisten und Gäste verfolgen von drangvoll überfüllten Tribünen aus dessen erste Sitzung. Nach der ersten Wahl des gesamten wiedervereinigten Europas gibt sich das Parlament mit Buzek einen ehemaligen Solidarność-Kämpfer als neuen Präsidenten. „Es gibt jetzt kein ,Ihr’ und kein ‚Wir’ mehr“, freut sich der 68jährige über 555 Stimmen Zustimmung. Und tatsächlich schmilzt mit dem Amtsantritt des Osteuropäers etwas von der alten Nachkriegs-EU hinweg.

Das liegt neben Buzeks Bestallung aber auch daran, dass die Hälfte der jetzigen Abgeordneten neu ins EU-Parlament einziehen – und dass immer weniger von ihnen noch daran glauben, innereuropäische Friedenssicherung könne weiter als Mörtel für das Projekt Europa dienen. Ist die Zeit, möchte man nach dem ersten Schreck über das Hitzeknacken im Gebälk fragen, nicht reif für eine rundum mutigere Betriebstemperatur in diesem Hause?

Die schärfste Hoffnung auf mehr Kontroverse, mehr fruchtbaren Streit ist seit der Wahl am 7. Juni ganze 55 Sitze groß und heißt ECR, Europäische Konservative und Reformer. Die Renegaten gehörten noch in der vergangenen Legislaturperiode zur Europäischen Volkspartei (der stärksten Gruppe im Europaparlament, der auch CDU/CSU angehören), aber aus Protest gegen den, wie sie finden, zu integrationsfreundlichen Kurs ihrer Ex-Kollegen haben sich britische Tories nebst tschechischen und polnischen Bürgerlichen aus der Pötteringschen Parteienfamilie verabschiedet.

Zum ersten Mal entsteht mit den Mitte-Abweichler zwar eine ernst zu nehmende Fraktion im Europaparlament, die sich als Opposition gegen eine immer einheitlichere europäische Wirtschafts- und Rechtsordnung begreift. Doch dass der alte Integrations-Kurs auch der neue bleibt, haben die Mitgliedsstaaten längst entschieden. In 26 Ländern ist der Lissabon-Vertrag, der die EU kontraktionskräftiger machen soll, so gut wie ratifiziert. Bloß in Irland steht noch ein – erneutes – Referendum aus. Welche Angriffsfläche also bleibt den Skeptikern?

Einer von ihnen streift, statt in Schlips und Kragen, in einem grellroten Fahrrad-Trikot samt strammer Hose durch die Sitzreihen. „Ich bin von Prag hierher geradelt“, erzählt der 38 Jahre alte Edvard Kozusnik, der für die tschechisch-bürgerliche ODS ins Parlament einzieht. „Das war ein Versprechen meinen Wählern gegenüber.“ Sobald Kozusnik sich erholt hat („Schon seit ein paar Tagen tut mein Gesäß nicht mehr weh“, informiert seine Webseite), will er den Kampf gegen die Bürokratie der EU aufnehmen. „Denn 50 Prozent der Bürokratie werden in Brüssel produziert“, hat er gezählt. Mit solcher Kritik, das wird der Radler allerdings bald merken, trifft er in Brüssel nicht auf Gegenwind. Sie ist längst Mainstream und altbacken.

Neu und auf Zoff programmiert ist zwar auch die Fraktion „Europa der Freiheit und Demokratie“ mit 30 Mitgliedern. Doch welche europäische Wegweisung lässt sich von einer Melange aus (unter anderem) Lega Nord, Slowakischer National-, Dänischer Volkspartei sowie „Wahren Finnen“ erwarten? Bestenfalls der eindrucksvolle Praxisnachweis, wie gewagt für Xenophobe das Vorhaben ist, mit Fremden zusammenarbeiten. Mrs. Nikki Sinclaire und Mr. Gerard Batten von der United Kingdom Indepedence Party jedenfalls traten kurz ins Plenarrund, pflanzten zwei kleine Union Jacks auf ihre Plätze und suchten sodann das Weite.

Andere Vertreter ihrer Fraktionen blieben mit griesgrämigen Mienen sitzen, als der Präsident die Abgeordneten bat, sich „für die Europahymne“ zu erheben. Denn dass es eine solche gebe, bestreiten die Skeptiker ebenso wie eine Zustimmung der Bürger zum großen europäischen Ganzen. „Wenn Sie nicht auf den Willen der Iren hören“, rief ihr hitzköpfiger Vorsitzender Nigel Farage dem frisch gewählten Präsidenten Buzek zu, „werden Sie dieses Europa in genau die Sowjetunion verwandeln, gegen die Sie so hart gekämpft haben!“

Buzek, politisch gestählt als ehemaliger polnischer Ministerpräsident, nahm’s gelassen. Er mag zwar ein bisschen aussehen wie Hans-Gert Pöttering, drahtig, weißhaarig, beflissen und notarhaft, doch er kann zugeben, „das mangelnde Vertrauen der Bürger uns gegenüber“ sei eine Herausforderung für EU-Parlamentarier. Denn: „Die verstehen nicht immer, was wir hier tun.“ – „Die schwierigste Krise, die es zu meistern gilt, ist der Mangel an Vertrauen vonseiten unserer Bürger.“ Es sind Bekenntnisse wie diese, die man von seinem Vorgänger nicht gehört hätte – und die zugleich die Luft aus dem Totalitarismus-Geschrei der EU-Gegner lassen.

Hoch motiviert und nur gut gelaunt derweil zeigte sich nach seinem ersten Tag ein Neuling, der außerhalb Straßburgs noch als politischer Außerirdischer gilt. Christian Engström von der schwedischen Piratenpartei hat im Europaparlament nicht nur einen freundlichen Fraktions-Hafen bei der Grünen-Gruppe gefunden. Er hat es auch fertig gebracht, innerhalb kürzester Zeit breite Sympathien für sein Anliegen zu schaffen. Es besteht darin, das Internet-Urheberrecht neu zu regeln.

Der Staat, so argumentiert der 49jährige, könne auf Dauer den Austausch von Musik- und Textdateien nicht verhindern, ohne neue Eingriffsmöglichkeiten in die Privatssphäre zu schaffen. „Denn wenn die Möglichkeit zu kostenlosen Downloads unterbunden wird, werden die Leute darauf ausweichen, Dateien per E-Mails auszutauschen. Soll dann etwa die Internet-Kommunikation überwacht werden?“

Immer mehr Abgeordnete lassen sich von diesen Gedanken beeindrucken. Das einzig Ernüchternde an Engström, sagt eine weibliche Abgeordnete, sei vielleicht die Tatsache, dass er eher an einen Versicherungsvertreter erinnere denn an einen Freibeuter.

Rebecca Harms, die deutsche Co-Vorsitzende der europäischen Grünen, bekennt jedenfalls, dass sie sich auf eine „offene Diskussion“ mit der Piratenpartei freue. „Künstler, Autoren und Journalisten sollen ja nicht ohne Rechte dastehen“, sagt Harms, „aber wie man diese Rechte gewährleistet, dazu gibt es unterschiedliche Ideen.“ Vielleicht, schlägt sie vor, ließe sich ja über eine Art „Kultur-Flatrate“ für das Internet nachdenken. Womöglich gehört diese Diskussion zum Kontroversesten, was dieses überraschende Parlament in den nächsten Jahren hervorbringen könnte. Und damit zum Zukunftsweisendsten.