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„Ich muss damit leben“

 

Ein Interview mit EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström über Vorratsdatenspeicherung, Internetsperren und Bürgerrechte in Europa 

Ihr Büro im achten Stock entpuppt sich als eines der geschmackvolleren in der gewaltigen Schwinge des Brüsseler Kommissionsgebäudes. Leichte skandinavische Sitzmöbel in lebendige Farben geben dem gedehnten Raum eine locker-wohnliche Stimmung, es riecht noch ein wenig nach Kiefernholz. Danke, erwidert Innenkommissarin Cecilia Malmström das Kompliment, sie versuche ihr Bestes. Sie weist mit der Hand auf das Sofa und  entschuldigt sich sogleich für den schon leicht angegrauten Bezug. Ein neues Sofa, betont sie, dürfe sie leider erst nach zehn Jahren bestellen. „Bei Sparideen ist die Kommission ganz groß.“

ZEIT: Frau Malmström, in Deutschland haben 35.000 Bürger gegen die Umsetzung der EU-Vorratsdatenspeicherung geklagt, und zwar mit Erfolg. Die Regierungen von Schweden, Österreich, Irland, Belgien, Luxemburg, Griechenland und Rumänien weigern sich aus juristischen oder politischen Gründen, Telekommunikatsdaten aufzeichnen zu lassen, Irland bringt die Sache jetzt vor den Europäischen Gerichtshof. Könnte eine EU-Kommissarin eine Richtlinie nicht auch einmal zurücknehmen?

Malmström: Zunächst einmal saß ich noch im Europäischen Parlament, als die Richtlinie erlassen wurde, und die Mitgliedsstaaten haben sie angenommen. Man kann sie nicht einfach zurücknehmen. Aber vor dem Hintergrund dessen, was Sie sagen, überprüfen wir die Vorratsdatenspeicherung. Ich werde die Ergebnisse nutzen, um möglicher Weise neue Vorschläge zu machen. Die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung wurde nach dem 11. September 2001 ziemlich hastig erlassen…

ZEIT: … innerhalb von nur drei Monaten, eine Rekordzeit für ein EU-Gesetz…

Malmström: …und ich glaube, dass das zu hastig war.

ZEIT: Sie selbst haben im Europäischen Parlament gegen die Richtlinie gestimmt.

Malmström: Richtig. Weil sie schlecht vorbereitet war und sowohl ihre Zweckbestimmung wie ihr Ausmaß unklar waren. Es ist nicht mein Gesetz.

ZEIT: Warum, noch mal, machen Sie als verantwortliche Kommissarin dann nicht den Vorschlag, dieses Gesetz zurückzuziehen?

Malmström: Theoretisch könnte ich das tun. Aber ich glaube, das würde ziemlich irritierte Reaktionen bei den Mitgliedsstaaten hervorrufen. Ich weiß, dass die Debatte in Deutschland recht erhitzt geführt wird. Aber es gibt noch 26 andere EU-Staaten. Die meisten von ihnen wollen die Vorratsdatenspeicherung.

ZEIT: Was wollen Sie?

Malmström: Ich will mir Möglichkeiten angucken, sie zu überarbeiten.

ZEIT: Was heißt das genau?

Malmström: Die Untersuchung der Arbeitsgruppe läuft noch. Wir schauen uns gründlich an, welche Datenmengen erhoben werden, wer Zugriff auf sie hat, wie sie genutzt werden, wie lange sie gespeichert werden. Es wäre voreilig von mir, jetzt schon etwas zu den Ergebnissen zu sagen. Ich kenne natürlich die Kritik. Aber man muss auch wissen, dass die Mitgliedsstaaten sagen, dass sie die Vorratsdatenspeicherung sehr nützlich finden. Die Polizei setzt sie mit Erfolg ein, um schwere und organisierte Kriminalität zu bekämpfen.

ZEIT: Ein Mitglied dieser Arbeitsgruppe, der deutsche Abgeordnete Alexander Alvaro, sagt, in der polizeilichen Praxis schaffe die Vorratsdatenspeicherung mehr Probleme, als irgendwer vorausgesehen hab.

Malmström: Das stimmt. All das werden wir uns genau angucken.

ZEIT: In seinem Urteil schreibt das Bundesverfassungsgericht, die Speicherung von derartigen Datenmengen stelle einen „besonderes schweren Eingriff“ in die Privatsphäre der Bürger dar und erzeuge das „diffuse Gefühl unter Beobachtung zu stehen.“ Diese Angst könne die Freiheit erodieren. Sehen Sie das auch so?

Malmström: Ja. Das fühlen wir doch ständig. Es gibt Kameras in U-Bahnen, in Taxis, auf Straßen und Plätzen. Aber die Bürger wollen eben auch Sicherheit. Die Entwicklung, dass unsere Daten in immer mehr Sammlungen gespeichert werden, hat sich in den vergangenen Jahren beschleunigt.

ZEIT: Welche Schlüsse ziehen Sie als Liberale und EU-Innenkommissarin aus dieser Entwicklung?

Malmström: Es ist eine große Verantwortung, Sicherheit und Freiheit auszubalancieren. Natürlich achte ich als Liberale die Grundrechte besonders hoch, und meine Überzeugung wird in diesem Job auf eine harte Probe gestellt. Aber, wissen Sie, es gehört eben auch zu den Grundrechten, nicht in Stücke gebombt zu werden. Ein Freund von mir ist bei den Bombenanschlägen 2004 im Attocha-Bahnhof in Madrid ums Leben gekommen. Wir müssen die richtige Abwägung finden. Verbrechen verschwindet nicht von allein.

ZEIT: Konkret, wenn Sie Justizministerin in Schweden wären, wie würden Sie mit der Vorratsdatenspeicherung umgehen?

Malmström: Als überzeugte Europäerin würde ich sie umsetzen. Aber ich würde auch versuchen, auf ihre Überarbeitung Einfluss zu nehmen.

ZEIT: Die Innen- und Justizpolitik der EU hat mit dem Lissabon-Vertrag einen gewaltigen Sprung gemacht. Es ist künftig möglich, Sicherheitsgesetze auch gegen den erklärten Willen einzelner Mitgliedsstaaten zu erlassen. Ist dieses Vorgehen angesichts der Erfahrungen mit der Vorratsdatenspeicherung nicht bedenklich?

Malmström: Aber die Menschen wollen doch, dass die EU in diesen Bereichen mehr tut!

ZEIT: Ja, aber wenn die EU etwas tut, protestieren sie. Das war beim biometrischen Pass so und auch beim Swift-Abkommen, das das Europäische Parlament nur mit Mühe stoppen konnte.

Malmström: Die Entscheidungen der EU werden von nationalen Ministern und dem Europaparlament gefällt. Ja, einzelne Länder können überstimmt werden. Aber das ist eben jetzt die Art, wie wir Entscheidungen treffen – alle Mitgliedsländer haben dem Lissabon-Vertrag zugestimmt. Das ist doch keine undemokratische Entwicklung! Als die Vorratsdatenspeicherung in Brüssel verabschiedet wurde, hat sie überhaupt keine so große Kontroverse ausgelöst wie heute.

ZEIT: Vielleicht deshalb nicht, weil sie in den nationalen Öffentlichkeiten nicht angemessen diskutiert worden ist?

Malmström: Wissen Sie, sie ist nicht meine Lieblingsrichtlinie. Aber ich muss mit ihr leben.

ZEIT: Internetaktivsten haben Ihnen den Spitznamen „Censilia“ verpasst. Sie glauben, dass Sie eben jene „Zensur“ einführen wollen, von der die Bundesregierung Abstand genommen hat: Internetsperren.

Malmström: Dieser Spitzname verletzt mich sehr. Ich habe nicht die geringste Absicht, zu zensieren oder Internetsperren einzurichten. Worum es geht, ist das zu tun, was heute schon zehn EU-Staaten tun: Den Zugang zu kinderpornografischen Seiten zu sperren. Es ist so grausam, was Sie dort zu sehen bekommen. Kinder, Säuglinge, die Opfer werden immer jünger, das Vorgehen immer brutaler. Wichtiger und effektiver als Sperrungen wäre es, diese Seiten an der Quelle abzuschalten. Aber viele dieser Seiten haben ihren Ursprung nun einmal außerhalb der EU. Deswegen sollten wir EU-weit das tun können, was bereits in den Niederlanden, in Italien, in Großbritannien, in Schweden, Finnland, Dänemark und demnächst auch in Frankreich getan wird, nämlich auch den Zugang zu sperren.

ZEIT: Im Entwurf Ihrer Richtlinie heißt es, in einigen Staaten sei die Gesetzgebung gegen Kinderpornografie „nicht entschlossen und konsistent genug“. Welche Länder meinen Sie?

Malmström: Es handelt sich um Organisierte Kriminalität. Sie ist grenzübergreifend und es geht um eine Menge Geld, es ist also ein eurocrime, wenn Sie so wollen. Deswegen müssen wir die Strafrahmen anpassen. In Belgien sind sie, aus verständlichen Gründen, schon sehr hoch.

ZEIT: Gehört Deutschland zu den Ländern, die die Höchststrafe für
Kinderpornografie noch anheben sollten?

Malmström: Ja. So ist es.

ZEIT: Welche anderen eurocrimes sehen Sie, bei denen ebenfalls die Strafandrohungen EU-weit harmonisiert werden sollten?

Malmström: Bei Menschenhandel, beispielsweise, beim Drogenschmuggel, bei Geldwäsche und Waffenschieberei – in all diesen Bereichen brauchen wir eine stärkere Angleichung. Ansonsten ermöglichen wir den Kriminellen so etwas wie Straf-Shopping, das heißt sie könnten sich aussuchen, wo sie am besten operieren. Es geschehen schreckliche Dinge in Europa im Bereich der Organisisierten Kriminalität. Die Verbrecher überspringen Grenzen. Wenn wir das nicht auch tun, wie sollen wir sie jemals stoppen?

ZEIT: Trauen Sie eigentlich dem Europäischen Parlament als Kontrollinstanz für Bürgerrechte?

Malmström: Bei der Neuverhandlung des Swift-Abkommens (zur Übertragung von Überweisungsdaten an die USA, Anm. d. Red.) hat es sich sehr verantwortlich verhalten. Die Parlamentarier haben gezeigt, dass sie Verantwortung übernehmen können. Sie wollen als gleichberechtigte Partner im Gesetzgebungsprozess respektiert werden.

ZEIT: Die EU-Innenkommissarin bekommt also angemessene Opposition zu spüren?

Malmström: Darüber denke ich nicht nach. Der Schutz der Grundrechte und der Meinungsfreiheit sind der Grund, warum ich in die Politik gegangen bin. Ich habe mein ganzes Leben dafür gekämpft, ich wurde aus Kuba rausgeworfen, weil ich Oppositionelle getroffen habe, aber ich versuche eben auch, Verbrechen zu bekämpfen! Ich meine, es ist nicht so, dass ich das Europäische Parlament bräuchte, um mich an Grundrechte zu erinnern…

ZEIT: Sie brauchen das Europäische Parlament nicht?

Malmström: …sondern ich brauche es, um mir dabei zu helfen, Verbrechen zu bekämpfen.

ZEIT: Die deutsche Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger…

Malmström: Sabine, ja!

ZEIT: … ist ebenfalls eine Liberale, aber sie versucht genau das Gegenteil von Ihrem Job, nämlich härtere Sicherheitsgesetze zu verhindern. Wie verstehen Sie beide sich?

Malmström: Na ja, wir stimmen nicht immer überein, aber wir verstehen uns gut, als Teil derselben liberalen Familie. Im Übrigen bin ich nicht hier, um immer nur neue Sicherheitsgesetze vorzuschlagen. Ich liege nicht nachts wach deswegen. Ich arbeite zum Beispiel auch an Opferschutz-Gesetzgebung und an einem besseren europäischen Asylsystem.

ZEIT: Auch was das betrifft, bekommen Sie Kritik aus Deutschland zu hören. Bis 2012 wollen Sie ein einheitliches europäisches Asylsystem auf die Beine stellen. Aus den Reihen der CDU heißt es, sie wollten die strengen deutschen Asylgesetze aufweichen.

Malmström: Zunächst mal haben alle 27 EU-Staaten beschlossen, dass die EU eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik bekommen soll. Diese Vorgabe setzen wir jetzt um, und das bedeutet konkret harmonisierten Schutz, mehr oder weniger harmonisierte Verfahren und vergleichbare menschliche Behandlung. Die Gerüchte aus der Bild-Zeitung, wonach es in Deutschland keine Flughafen-Verfahren mehr geben soll, stimmen nicht. Auch dass Asylsuchende automatischen Zugang zu den Sozialsystemen erhalten sollen – es gibt keinen solchen Vorschlag. Was wir vorschlagen ist, dass Asylverfahren möglichst innerhalb von sechs Monaten abgeschlossen sein sollen. Es gibt den Länder, in denen Flüchtlinge jahrelang warten müssen, bis sie erfahren, ob bleiben können oder gehen müssen.

ZEIT: Warum muss Brüssel die Mitgliedstaaten daran erinnern, dass es sowohl in ihrem wie auch im Interesse der Betroffenen liegt, möglichst schnell über Asylverfahren zu entscheiden?

Malmström: Ich glaube nicht, dass sie daran erinnert werden müssen, und ich glaube auch nicht, dass das deutsche System ein Problem ist. Sorgen machen vielmehr einige Länder in Südeuropa. Dort stehen die Aufnahmeeinrichtungen vor dem Kollaps.

ZEIT: Sie sprechen von Griechenland.

Malmström: Griechenland hat enorme Schwierigkeiten. Es ist wegen seiner Randlage aber auch überbelastet. Andere Länder übernehmen überhaupt keine Verantwortung. Wir brauchen ein System, das die Lasten fair verteilt.

ZEIT: Heißt das, Deutschland soll mehr Asylsuchende aufnehmen?

Malmström: Die EU kann keinem Staat vorschreiben, wie viele Menschen er aufnehmen soll. Deutschland hat die Kontrolle über seine Grenzen. An einer gerechten Verteilung kann jeder Staat nur freiwillig teilnehmen. Wir können keinen zwingen, mehr Menschen aufzunehmen.

Die Fragen stellte Jochen Bittner

Foto: Susana Vera/Reuters