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Natos Doppelbeschluss

 

Das neue Strategie-Konzept der Nordatlantik-Allianz verlangt zweierlei: Im Ausland kämpfen können und Europa verteidigen können. Kann die Bundeswehr das?

Von Jochen Bittner und Peter Dausend 

Mit der Nato und ihren Strategien ist es ein bisschen wie mit dem Hase und dem Igel. Das Bündnis verliert immer wieder gegen eine rätselhaft schnelle Wirklichkeit. 1999 gab sich die Allianz ihr bis heute geltenden Grundlagenpapier – keine zwei Jahre später, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, war es de facto Altpapier.

Am Wochenende wollen sich die mittlerweile 28 Staats- und Regierungschefs des größten Militärbündnisses der Welt in Lissabon auf eine neue Wegweisung einigen – oder vielleicht, treffender gesagt: das unterzeichnen, was die Sachlage längst diktiert. Mit dem Afghanistaneinsatz hat der einstmals stehende Armeeblock des Kalten Krieges die Verteidigungslinie des Westens in asiatische Hochgebirge verlegt. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen will mehr von dieser neuen Beweglichkeit. „Fett abschneiden und Muskeln aufbauen“, lautet die Devise, die der Däne für den Strategie-Gipfel ausgibt. Mehr vernetztes, internationales Engagement sieht der Entwurf vor, den er in Portugal vorlegen wird. Längst verwandelt sich auch die Bundeswehr in eine mehr und mehr global agierende Einsatzstreitkraft. Nicht mehr die Landesverteidigung steht im Zentrum ihrer Fähigkeiten und ihres Selbstverständnisses, sondern der weltweite Einsatz im Zeitalter der asymmetrischen Konflikte.

Bei all dem Eifer: Übersehen die Reformpläne in Brüssel in Berlin womöglich, dass sich die Welt längst schon wieder verändert, sowohl denkerisch wie faktisch? 

Nicht nur in Amerika, der Nato-Führungsmacht, macht sich Frust breit über die globalen Militäreinsätze. Auch in Deutschland, Holland, Kanada wächst der Unmut. Zu hoch, so lautet ein Teil der Kritik, sind die Folgekosten des Ausrückens, die finanziellen, die politischen – die humanen. Und zu gering der Ertrag. Die Vereinigten Staaten, so ein viel diskutiertes Szenario, wenden sich unter dem angeschlagenen Präsidenten Obama, der besonders auf Volkes Stimme hören muss, nach innen. Beim Abzug aus Afghanistan (er soll im kommenden Jahr beginnen und 2014 enden) geht Washington vorneweg.

Globale Einsätze kommen aus der Mode

Zugleich fordern die osteuropäischen Nato-Neu-Mitglieder nach dem Schock des Georgien-Krieges 2008 eine „Reassurance“ durch die Bündnispartner. Ein eingefrorener Konflikt am Rande Europas erhitzte sich damals innerhalb von nur Tagen zu einer blutigen Auseinandersetzung; russische Panzerverbände, die nach Provokationen der Gegenseite über Bergpässe hinwegrollten, verursachten eine schwindelerregende Störung im Russlandbild. Vor allem Polen und die Baltenstaaten wünschen sich seitdem dringlich eine klare Versicherung, dass Artikel 5 des Washingtoner Vertrages noch immer den Kerngedanken der Allianz ausdrückt. In ihm steht, dass die Verbündeten einander Beistand zu leisten haben, „einschließlich der Anwendung von Waffengewalt (…), um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“.

Für die Bundeswehr könnte die wachsende Sehnsicht nach der alten, territorialen Nato eine paradoxe Folge haben. Just zu dem Zeitpunkt, da sie zur globalen Einsatzarmee heranreift, kommen globale Einsätze aus der Mode.

Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, hält das Auseinanderdriften von strategischer Planung und strategischem Willen für bedenklich. Er mahnt: Wenn Amerika sich stärker nach innen wende und sich außenpolitisch eher auf den pazifischen als den atlantischen Raum fokussiere, bedeute dies im Umkehrschluss keineswegs, „dass die Ursachen von Konfliktherden verschwinden“.

Was zum Beispiel, fragt Kujat, wenn politische Hasardeure wie der iranische Präsident Achmadinedschad die „amerikanische Introvertiertheit“, fehlinterpretierten und dadurch neue Konflikte auslösten, die Nato-Einsätze provozierten? Man dürfe, warnt Kujat, in einer ungebremst dynamischen Welt Militäreinsätze nicht zu statisch  denken, sich nicht zu sehr am Bekannten orientieren. Für eine selbstverständliche Aufgabe der Bundeswehr hält Kujat – wie auch der SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold – die Sicherung der Handelswege. „Das steht bereits im Weißbuch von 2006“, sagt Arnold. Kujat zeigt sich trotzdem wenig überrascht davon, dass Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg unlängst eine Empörungswelle entgegenschlug, als er dies öffentlich aussprach: „Die Deutschen sind wie Pferde“, sagt er. „Sie scheuen immer an der gleichen Stelle.“    

Seit dem wiedergefundenen Daseinszweck „out-of-area“ fliegt die Nato allerdings gleichsam auf Autopilot. Fast all ihr Geld, Energien und Industrieplanung haben die Verteidigungsministerien seit den Weichstellungen nach 9/11 in „Fähigkeitsorientierung“ und „Verlegefähigkeit“ gesteckt, wie die Konzentration auf internationale Einsätze im Militärsprech hieß. Viel zu viel, um die Grundausrichtung noch einmal zu revidieren. „So schnell wie die Weltlage sich ändert, können Sie Rüstungsprojekte nicht umsteuern“, beschreibt ein ranghoher Nato-Militär das Gesetz der sicherheitspolitische Trägheit.

Das Undenkbare denken

Für die deutschen Streitkräfte wie für die Nato insgesamt stellt sich damit letzten Endes eine Charakterfrage. Sie lautet, ob sie künftig wirklich beides leisten können: sowohl Interventionen wie auch die – wenngleich aus heutiger Sicht unwahrscheinliche – Aufgabe der Territorialverteidigung zu schultern.

Aber ja, versichern die Planer im Berliner Bendlerblock wie im Brüsseler Hauptquartier, das geht. „Die beiden Entwicklungen sind nicht gegenläufig“, beteuert Ulrich Schlie, der Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium. Sollte sich die Bedrohungslage ändern, könnte in Deutschland die Wehrpflicht wieder aktiviert und drei Mal so viele Rekruten eingezogen werden wie heute. Die „Kunst“, so Schlie, bestehe eben darin, „so zu planen, dass man auch auf unwahrscheinliche Fälle vorbereitet ist.“

In einem Büro des Nato-Hauptquartiers beschreibt ein General Kreise mit der Hand, um klar zu machen, wie dieselbe Aufwuchsfähigkeit für das Bündnis insgesamt gelte. Im Kalten Krieg, erinnert er, hätten die Nato-Armeen sich im Ernstfall in mehreren Lagen entlang der innerdeutschen Grenze aufgestellt. Von Nord bis Süd hätten dänische, niederländische, deutsche, britische, belgische und amerikanische Corps eine so genannte „Schichttorten“-Formation gebildet. Einen solchen Gefechtsstreifen, versichern die Planer, würde auch die Nato im Notfall auch heute noch hinbekommen. Zwar gäbe es keinen großen Vorrat an Panzern und „in place forces“ in Europa mehr, dafür aber 28 Bündnispartner, die – weil sie ja mobil seien – genau dort zusammen gezogen werden könnten, wo es brenne. Für solche Szenarien, heißt es, gebe es in Brüssel Notfallplanungen. Aber die seien natürlich geheim. 

Bedrohung aus dem Osten oder Süden, Gefechtsfelder in Europa – sind das nicht alles Hirngespinste? Aus heutiger Sicht mag es absurd erscheinen, dass in Europa noch einmal Armeen aufmarschieren müssten. Aber vor zehn Jahren hätte auch jeder die Vorstellung für verrückt gehalten, dass die Bundeswehr nach Afghanistan ausrücken müsste, nachdem Terroristen das World Trade Center zerstört haben. Verteidigungsplanung muss, so paradox es klingt, eben auch das Undenkbare bedenken. Darin liegt der erste Schritt zur Krisenprävention. Und zugleich die Gefahr, dass ein Militärbündnis die Gründe seiner Existenz stets aufs Neue erschafft.

Guttenberg: Die Bundeswehr muss für alle Fälle gerüstet sein

Künftige Bedrohungen am Bündnisrand hält der deutsche Verteidigungsminister keineswegs für abwegig. All jenen, die glauben, dass mit dem Beginn des Abzuges aus Afghanistan den global agierenden Armeen die Einsatzorte ausgingen, wirft Karl-Theodor zu Guttenberg vor, »in zu einfachen Analogien« zu denken. Künftige internationale Einsätze könnten ganz anders aussehen als die bisher erlebten auf dem Balkan oder am Hindukusch. An der »Peripherie des Bündnisgebietes« kann kaum ausgeschlossen werden, dass womöglich eines Tages internationale Militäraktionen vonnöten sein werden, »bei denen die Grenze von Bündnisverteidigung und Stablisierungseinsatz fließend wird«. Für solche Fälle müsse die Bundeswehr ausgebildet und ausgerüstet sein.

In der Frage der künftigen Truppenstärke gibt sich Guttenberg trotzdem beinhart. Seine Reform der Bundeswehr ist auf eine Sollstärke von 163 500 Soldaten ausgerichtet und durchgerechnet. Wer mehr Soldaten wolle, müsse auch mehr Geld zur Verfügung stellen. Der Bündnistreue werde dadurch gewahrt und gestärkt, dass die Zahl von derzeit 7000 Bundeswehrsoldaten, die maximal zeitgleich im Einsatz sein können, auf 10 000 bis 15 000 erhöht würde. So sieht man es auch im Brüsseler Nato-Hauptquartier. Weniger deutsche Soldaten, dafür besser ausbildete, die Aussicht begrüßen die Alliierten.

Aber wird diese Aussicht auch Realität? Womöglich nur dann, wenn die künftige Bundeswehr  190 000 Mann zählt. Nur so kann sie,  bei einem Rhythmus von vier Monaten Auslandseinsatz und 20 Monaten Dienst zuhause, die gewünschte Zahl deutscher Soldaten für Nato-Missionen stellen. Und wenn deutlich mehr als 7500 Männer und Frauen, wie in den Guttenberg-Plänen veranschlagt, pro Jahr freiwillig Wehrdienst leisten. Nur so kann der Regenerationsbedarf der Bundeswehr erfüllt werden. Und wenn nicht, der womöglich entscheidende Punkt, die Spardiktate in Zeiten der Schuldenbremse verhindern, dass die Soldaten so ausgebildet und ausgerüstet werden, dass sie im Auslandseinsatz Hochqualifiziertes leisten. Und ihn überleben.

Was sagt eigentlich das Grundgesetz?

Hilfreich wäre dabei, wenn nicht jede  nationale Bündnisarmee nach maximaler Größe strebte und von allem möglichst viel haben  wollte. Eine bessere Abstimmung vor allem unter den europäischen Partnern könnte Doppel- und Dreifachanschaffungen verhindern – und Finanzmittel für die Ausbildung und Ausrüstung der Soldaten im Auslandseinsatz freisetzen.                 

Anders als manch anderer glaubt Guttenberg außerdem, dass Amerika die Nato sehr wohl weiter als Werkzeugkasten für globale Einsätze pflegen werde. Zwar sieht auch er eine »Bugwelle isolationistischer Tendenzen« über die USA schwappen. »Doch diese Welle treibt ihre Endlichkeit bereits vor sich her.«  Eine Rückbesinnung nur auf sich selbst, ein Rückzug aus der globalen Welt, werde sich die größte Ordnungsmacht nicht leisten. Ergo: »Die Einschätzung, die Nato verlagere mit der neuen Strategie das Hauptaugenmerk auf die Landes- und Bündnisverteidigung, teile ich nicht. Die Fähigkeit zu einem vernünftigen Krisenmanagement auch außerhalb der Bündnisgrenzen bleibt genauso wichtig.«

Dann fragt sich nur noch, wann eigentlich Deutschland gedenkt, auch sein Grundgesetz an die neue Nato-Doppelfähigkeit anzupassen. In schöner alter Kalter-Kriegs-Manier heißt es dort nämlich noch immer ganz schlicht: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“