Zwei kurze Thesen zu der derzeitigen Aufregung um die „Menschenrechtssituation“ in China
1. Wir, der Westen, regen uns auch deshalb nicht nur deshalb so lautstark über Tibet und die Internetzensur auf, weil die Olympischen Spiele eröffnet werden. Nein, die besonders helle Empörung, die seit Tagen aus den Fernsehern in jedem europäischen Wohnzimmer schreit, ist auch aus einer unterschwelligen Angst geboren. Denn unausgesprochen fürchten wir nicht anderes, als dass Chinas Aufstieg eine westliche Lebenslüge entlarven könnte.
Die nämlich, dass nur Liberalität und Demokratie auf Dauer Wohlstand versprechen. Chinas Wolkenkratzer und glitzernden Olympiabauten verursachen im westlichen Denkschema eine schwindelerregende Bildstörung. Wenn Reichtum, technischer Fortschritt und Innovation auch in einer Diktatur möglich sind, wenn sie dort noch dazu rasanter und effizienter zu haben sind als in langatmigen Demokratien, was ist denn dann eigentlich der globale Wettbewerbsvorteil des westlichen Systems?
2. Keine Sorge. China leuchtet gar nicht. Nur seine Großstädte glitzern. Deshalb sollten nicht wir, sondern Chinas Kapital-Kommunisten sich Sorgen machen. Denn der Reichtum, den wir im Fernsehen sehen, spiegelt nur die oberste, dünne Schicht der chinesischen Gesellschaft wieder. Sicher, China mag immer reicher werden. Aber wenn das Riesenreich gleichzeitig nicht auch gerechter wird, könnte der Führung dieser Reichtum zum Fluch werden. Denn: Kann ein Volk von 1,3 Milliarden sozial stabil bleiben, wenn eine oder zwei Millionen Menschen in ihm reich werden, ein großer Rest dagegen weiter hungert? Noch dazu, wenn Maos neues China (das es ja kulturell immer noch ist) bis in die letzten Provinzen auf das Versprechen gebaut wurde, nach dem elenden Feudalismus vergangener Jahrhunderte endlich gerechte Lebensverhältnis herzustellen?
Henning Mankell, der schwedische Krimi-Autor, hat die gesellschaftliche Zerreißprobe, vor der China momentan steht, in einer Dialogszene seines neuen Romans Der Chinese anschaulich zusammengefasst.
“Ich verstehe das nicht”, sagt Brigitta Roslin, die schwedische Richter und Heldin des Buches, zu Ho, einer gemäßigten Reformkommunistin. “China ist eine Diktatur. Die Freiheit ist ständig eingeschränkt, die Rechtssicherheit schwach. Was wollen Sie eigentlich verteidigen?”
“China ist ein armes Land“, antwortet Ho. „Die wirtschaftliche Entwicklung, von der alle reden, kommt nur einem begrenzten Teil der Bevölkerung zugute. Wenn dieser Weg, China in die Zukunft zu führen, mit einer Kluft, die sich ständig erweitert, wenn dieser Weg weiter beschritten wird, muss er in eine Katastrophe führen. China wird in ein hoffnungsloses Chaos zurückgeworfen werden. Oder es wird zur Ausbildung starker faschistischer Strukturen kommen. Wir verteidigen die Hunderte von Millionen Bauern, die trotz allem jene sind, die mit ihrer Arbeit die Entwicklung tragen. Eine Entwicklung, an der sie selbst immer weniger teilhaben. (…) In dem Machtkampf, der in China im Gange ist, geht es ums Leben und Tod. Arm gegen Reich, Machtlos gegen Mächtig. Es geht um Menschen, die mit wachsender Wut sehen, wie all das, wofür sie gekampft haben, wieder zunichtegemacht wird, und es geht um jene anderen, die nur die Möglichkeit sehen, eigene Reichtümer und Machtpositionen zu erwerben, von denen sie früher nicht einmal träumen konnten. Dann sterben Menschen.”
Statt bei Mankell könnte Chinas KP auch bei George Orwell nachschlagen. Womöglich nämlich befindet sich China jetzt in jener Animal-Farm-Phase, in der die Schweine noch glauben, den Schafen, Hühnern und Pferden weiszumachen zu können, es gebe Tiere, die gleicher seien als andere.
Bevor wir also allzu viel Angst davor entwickeln, Chinas Erfolge könnten die Reichweite und Strahlkraft liberareler Gesellschaftsordnungen Lügen strafen, erinnern wir uns, was anderen Großmächten, etwa 1789 in Europa, zum Verhängnis wurde. Die unterschätzte Sprengkraft, die die Sehnsucht eines Volkes nach Gerechtigkeit birgt.