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Die blaue Gefahr

 

Vorsicht, Parlamente: In Brüssel droht ein Machtklau!

Was bedeuten die Beschlüsse des gestrigen EU-Ratsgipfels eigentlich jenseits der Finanzpolitik? Was bedeuten sie für die Demokratie in Europa?

Wirtschaftsregierung, Aufsicht, Prüfkompetenz – man kann es nennen, wie man will: Was die europäischen Staatschefs beschlossen haben, bedeutet, dass die EU als Folge der Euro-Krise mehr Mitspracherecht über die nationalen Haushalte erhalten wird.

Sie soll künftig die Haushaltepläne prüfen, bevor sie den nationalen Parlamenten vorgelegt werden.

Sie soll die Schuldenstände der Nationen strenger kontrollieren als bisher.

Sie soll darüber wachen, dass keine zu starken Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der Staaten entstehen.

Sie soll, kurzum, den nationalen Regierungen die Hölle heiß machen, damit sie für Harmonie sorgen.

Das ist notwendig.

In einer Währungsunion kann es schlicht nicht sein, dass die Arbeitnehmer in Griechenland mit 55 Jahren in Rente gehen, in Frankreich mit 62 und in Deutschland mit 67. Eine Solidaritätsgemeinschaft lebt von gegenseitigem Respekt. Dieser Respekt, das lehrt die Vergangenheit, hat sich von allein nicht eingestellt. Im Gegenteil, manch ein Mitgliedsstaat pflegte ein recht schamloses Ungleichgewicht.

Andererseits: Die Möglichkeit der EU, in die Wirtschafts- und Sozialpolitik ihrer Mitgliedstaaten hineinzuregieren, berührt ureigene demokratische Gestaltungsfreiheiten. Ein leicht überspitztes Beispiel: Wen beschimpfen die Gewerkschaften eigentlich, wenn demnächst nicht Berlin, sondern Brüssel eine Kürzung von Kindergeld und Hartz-IV-Sätzen fordert?

Was infolge der gestrigen Gipfelbeschlüsse droht, ist eine weitere  Technokratisierung der Politik. Nicht mehr gewählte Volksvertreter, sondern ungewählte EU-Beamte und fremde Staatschefs werden die Grundlinien von Finanzpolitik (mit)gestalten können. Diese, nennen wir sie „Computerisierung“ der Haushaltspolitik, wird die ohnehin bröckelnde Sympathie für Europa weiter verringern, weil sie nicht nur die Bürger, sondern auch nationale Politiker und Parlamentarier weiter von den Entscheidungsinstanzen entkoppelt.

Das ist gefährlich.

Die EU ähnelt heute einem Organismus, in dem die Nervenbahnen zwischen Kopf und Gliedern noch nicht zusammengewachsen sind. Wenn sie das nicht bald tun, droht er gegen die Wand zu laufen.

Wie können diese Nervenbahnen entstehen, und wie müssen sie aussehen? Nun, sie müssen vor allem von unten nach oben verlegt werden. Das Nervenzentrum Brüssel ist ausentwickelt und funktioniert: Die Kommission wird vom Europäischen Parlament kontrolliert.

Was hingegen nicht funktioniert, sind die Nervenbahnen zwischen den nationalen Parlamenten und der Versammlung ihrer Regierungschefs.  – Sobald die Regierungen im Brüsseler Ratsgebäude zusammentreten, sind sie von parlamentarischer Kontrolle abgeschirmt wie unter einem Faradayischen Käfig. Das kann nicht so weitergehen. Die mangelnde Wahrnehmung der „Integrationsverantwortung“ des Bundestages hat zwar auch schon das Bundesverfassungsgericht kritisiert. Doch seine Kritik greift zu kurz. Sie ist zu national gedacht.

Wenn Europa jetzt, in einem entscheidenden Moment, nicht bedrohlich undemokratisch werden will, müssen sich die nationalen Parlamente als Gruppe zu einem echten Gegengewicht zum Rat entwickeln. Bundestag, Assemblée Nationale und Cortes müssen ankommen in der vernetzten Welt, in der ihre Regierungschefs schon lange leben. Sie müssen sich, wenn man so will, facebookisieren.

Das ist schwierig, das ist aufwendig, das verlangt eine neue Denke, aber es ist nur schwer vorstellbar, wie sich die Demokratie auf andere Weise ins Supranationale retten lassen sollte.

5 Comments

  1.   Boccanegra

    Lieber Herr Bittner,

    schön, dass Sie wieder da sind – und auch wieder zu EU-Themen schreiben…

    Das Dilemma zwischen der notwendigen Harmonisierung der europäischen Haushaltspolitik(en) und der ebenso wichtigen Notwendigkeit einer demokratischen Kontrolle über solche Haushaltsentscheidungen sehe ich ganz genauso wie Sie. Die Pläne, die der Europäische Rat diese Woche präsentiert hat und die im Wesentlichen wohl auf den Kompromiss zwischen Frau Merkel und Herrn Sarkozy zurückgehen, sind alles andere als ein großer Wurf: Insbesondere verwischen sie die politische Verantwortlichkeit für Haushaltsfragen in inakzeptabler Weise. Denn künftig werden die Regierungen in allen 27 Staaten noch mehr als früher sämtliche haushaltspolitischen Unannehmlichkeiten, etwa Kürzungen von Sozialleistungen, damit begründen können, sie seien nun einmal von „Brüssel“ dazu gezwungen worden (während sie sich umgekehrt natürlich auch in Zukunft Steuersenkungen stets auf die eigene Fahne schreiben werden). Dieses „Brüssel“ aber, gegen das die Regierungen schimpfen werden, werden die nationalen Regierungen im Ministerrat sein – und der Bürger wird keinerlei Möglichkeiten haben, dessen Zusammensetzung durch irgendeine Wahl zu beeinflussen. (Allenfalls wird er die eigene Regierung abwählen können, die ebenfalls im Ministerrat sitzt. Aber die eigene Regierung wird sich ja gerade mit dem „Brüssel“-Argument zu rechtfertigen wissen…) Schlimmer noch: Der Bürger wird noch nicht einmal richtig gegen den Ministerrat protestieren können: Denn formal wird die Entscheidung über den nationalen Haushalt ja weiterhin vom nationalen Parlament getroffen werden. Und nicht wenige nationale Abgeordnete werden sich in der nächsten Krise entscheiden müssen, ob sie den Vorgaben der EU-Partner folgen wollen oder dem Populismus, der ihnen vielleicht Wählerstimmen sichert. Eine bessere Strategie zur Delegitimierung der EU hätten sich Merkel, Sarkozy und die anderen auch dann nicht einfallen lassen können, wenn sie sich das ausdrücklich vorgenommen hätten.

    (Es ist müßig hinzuzufügen, dass auch Kommissionspräsident Barroso auf dem Europäischen Rat kein besonders gutes Bild abgegeben hat, indem er sich auf das Spiel der Regierungschefs eingelassen hat. Dass Barroso anscheinend nicht in der Lage ist, die supranationalen Institutionen sinnvoll gegenüber den nationalen Regierungen zu vertreten, wusste man schon bei seiner Wiederwahl letzten Sommer.)

    Was aber die Lösung des Dilemmas betrifft, stimme ich nicht ganz mit der Idee einer kollektiven Kontrolle durch die nationalen Parlamente überein. Ich halte diesen Weg für ungangbar. Es gibt in der EU einige zehntausend nationale Abgeordnete, die sich da vernetzen müssten, um gemeinsam die Regierungen im Ministerrat zu kontrollieren. Natürlich könnte man versuchen, die COSAC (die Konferenz der Europa-Ausschüsse der nationalen Parlamente, siehe http://www.cosac.eu) aufzuwerten – aber die politischen Mehrheitsverhältnisse und die wirtschaftspolitischen Überzeugungen in den verschiedenen nationalen Parlamenten sind so unterschiedlich, dass es mir mehr als fraglich erscheint, ob ein gesamteuropäischer „Parlamenteverbund“ jemals zu einer starken gemeinsamen Position kommen wird. Und letztlich ist die COSAC ja auch nicht viel besser demokratisch legitimiert als der Ministerrat: Denn auch hier kann ein unzufriedener europäischer Bürger ja allenfalls bei der nächsten Wahl die Mehrheitsverhältnisse in seinem eigenen Parlament verändern, nicht aber die Mehrheitsverhältnisse in all den anderen Parlamenten.

    Für mich sähe die Lösung anders aus – demokratietheoretisch einfacher. Sie bestünde darin, die Kommission zu einer echten europäischen Regierung werden zu lassen, die vom Europäischen Parlament kontrolliert wird. Dass die Chancen dafür nicht schlecht sind, schreiben Sie selbst, wenn Sie dem „Nervenzentrum Brüssel“ ein gutes Funktionieren bescheinigen. Mit der Europawahl und der anschließenden Wahl der Kommission durch das Parlament gibt es hier auch bereits etablierte demokratische Mechanismen (die freilich noch besser funktionieren würden, wenn man bei der Europawahl statt der „degressiven Proportionalität“ europaweite Wahllisten hätte und das Parlament bei der Kommissionsernennung keine Rücksicht auf das Vorschlagsrecht des Europäischen Rats zu nehmen brauchte). Man müsste also nur dem Europäischen Parlament und der Kommission die entsprechenden wirtschaftspolitischen Kompetenzen und Ressourcen zuweisen (etwa indem man die 27 nationalen Sozialhilfesysteme durch ein gesamteuropäisches ersetzt) – und schon hätte man eine gesamteuropäisch ausgerichtete und dennoch demokratisch kontrollierte Wirtschaftspolitik; und der europäische Bürger wüsste, wen er kritisieren und gegebenenfalls bei der nächsten (Europa-)Wahl abwählen kann, wenn er nicht damit zufrieden ist!

    Diese Lösung ist, wie gesagt, demokratietheoretisch einfacher als die „Facebookisierung“ der nationalen Parlamente: Sie beruht schlicht auf dem, was man als subsidiären Föderalismus auf nationaler Ebene (gerade in Deutschland) schon seit Jahrzehnten kennt. Problematisch ist sie nur insofern, als sie dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts entgegenläuft, das eine Verlagerung wirtschafts- und sozialpolitischer Zuständigkeiten auf die europäische Ebene weitgehend ausgeschlossen hat (wofür es ja auch schon von allerlei Staats- und Europarechtlern kritisiert wurde). Allerdings ist auch das BVerfG durchaus lernfähig und würde sich vielleicht – insbesondere wenn durch eine Wahlrechtsreform und die Einführung europaweiter Listen auch die demokratische Qualität des Europäischen Parlaments noch weiter verbessert würde – in einem späteren Urteil aufgeschlossener zeigen. Notfalls sollte man das Grundgesetz revidieren. Denn wie Sie in Ihrem letzten Absatz so schön schreiben:

    „Das ist schwierig, das ist aufwendig, das verlangt eine neue Denke, aber es ist nur schwer vorstellbar, wie sich die Demokratie auf andere Weise ins Supranationale retten lassen sollte.“

    Beste Grüße,
    Boccanegra

    PS. Falls Sie bei Gelegenheit Zeit dafür finden: Es wäre wirklich schön, wenn hier mal etwas zum Europäischen Auswärtigen Dienst zu lesen wäre. Selten wurde in der alten Frage zwischen Intergouvernementalismus und Supranationalität mit so offenem Visier gefochten wie in den letzten Wochen zwischen den nationalen Außenministern und dem Europäischen Parlament über die Struktur des EAD – und die arme Frau Ashton, offenbar etwas überfordert, immer in der Mitte. Und bitte warten Sie nicht, bis am Ende vielleicht alles in einen müden Kompromiss mündet; die Angelegenheit ist jetzt heiß, und es wäre doch schade, wenn sie nur die spezialisierten Fachportale (wie hier: http://www.euractiv.com/de/zukunft-eu/ep-nimmt-ashton-zu-ead-den-schwitzkasten-news-495161 ) aufgriffen.


  2. Zentralisierung von Macht

    Die im Artikel verwendeten Begriffe wie „Computerisierung“ greifen m.E. zu kurz und sind letztlich verharmlosend.
    Tatsächlich handelt es sich um eine gezielte weitere Zentralisierung von Macht – sprich: Entscheidungs-Gewalt – in den Händen nicht gewählter, aber sicherlich „gut“ ausgewählter Leute.


  3. SIR,

    As an American I can not fathom why it should not be the Germans rather than the Greeks protesting in the streets. For the Germans have had to bail out the Greeks for years of financial incompetence and excess. The fact that the Greeks now seem either unwilling or unable to pay back their debt to the EU, most notably the Germans, should be reason to remove them from the Euro and return them to the Drachma. In doing so Europe would greatly stregnthen its currency and eliminate a society that has more in common with the Third World then it does with responsible European democracies.

    Most Sincerely,
    Brett Kingstone
    President
    Max King Realty
    http://www.maxkingrealty.com
    http://www.heaveneventcenter.com
    http://www.therealwaragainstamerica.com

  4.   Boccanegra

    Dear Brett Kingstone:

    As a European, I would like to invite you to get informed before you express opinions about questions of European solidarity. It is not at all a fact „that the Greeks now seem either unwilling or unable to pay back their debt to the EU, most notably the Germans“. On the contrary, it has only been now, at the peak of the Greek dept crisis, that the Greek government has received for the first time a loan by the other member countries of the European Monetary Union. And of course the Greek government has expressed their determination to pay back this dept once the economic situation in Greece has been re-stabilized. Whether or not they will be able to do so, is to be seen in the future, but there is good reason to trust in the Greek economic recovery, not least because of the Greek economic reforms and of the structural reforms of the EMU framework which are taking place in these days.

    On the other side, there is little doubt that a removal of Greece from the EMU would not only have been difficult from the legal point of view and quite surely produced a national insolvency in Greece, but could also have had a pernicious domino effect on other EMU member countries, such as Portugal, Spain, Ireland, Italy… All in all, the Greek bail-out has been, even from a strictly economic point of view, beneficial for all European countries.

    Sincerely yours,
    Boccanegra

  5.   Boccanegra

    Nachtrag zum Europäischen Auswärtigen Dienst: Inzwischen sind sich Parlament und Rat anscheinend doch noch einig geworden – und wieder einmal eine wichtige europapolitische Debatte an der ZEIT spurlos vorübergezogen:

    http://www.euractiv.com/de/zukunft-eu/spanische-praesidentschaft-besiegelt-ead-deal-news-495458

 

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