Der Bericht löste einen Donnerschlag im Verteidigungsministerium aus. Gleich nachdem der Generalinspekteur der Bundeswehr das als Verschlusssache eingestufte Papier auf den Tisch bekommen hatte, leitete er es an den Führungsstab von Minister Franz Josef Jung sowie an die Chefs der Luftwaffe, des Heeres und der Marine weiter – mit der Bitte um „Unterstützung aus Ihrem Verantwortungsbereich.“ Der Bericht trägt den schlichten Titel „Auslandseinsätze der Bundeswehr“. Was das 55-seitige Papier in aller Kälte des Militärjargons festhält, fügt sich zu einem niederschmetterndes Bild von der Handlungsfähigkeit der deutschen Streitkräfte zusammen.
Es zeigt, wie wenig die Bundeswehr organisatorisch noch immer mit den übrigen Nato-Staaten gleichgezogen hat. Statt konsequent auf schnellere Befehlswege zu setzen, steht die deutsche Armee noch immer mit einem Bein in der Nachkriegszeit. Und zwar nicht wegen des Parlamentsvorbehalts, der die Bundeswehr aus historischen Gründen eng an Entscheidungen des demokratischen Souveräns bindet. Sondern vor allem, weil sich die Berliner Politik weigert, die Grundsätze der „vernetzten Sicherheit“ im Einsatzgebiet auch auf die Zusammenarbeit der Ministerien anzuwenden. Der Bundeswehr fehlt ein politisch-strategischer Kompass. Die Folgen schlagen sich bis zum Unteroffizier durch.
Verfasst wurde das Gutachten von sieben der ranghöchsten ehemaligen Generale, die die Bundeswehr zu bieten hat. An ihrer Spitze stand der einstige Oberbefehlshaber der Afghanistan-Schutztruppe Isaf, Norbert van Heyst. Fünf Monate lang, von Februar bis Juli 2007, recherchierten sie an einem knappen Dutzend Standorten und sprachen mit den wichtigsten Kommandanten aller Auslandsmissionen. Ihre Schlussfolgerung: Die Bundeswehr ein ist umständliches, uneffektives, ja zum Teil gefährlich schlecht kontrolliertes Gebilde von einer Armee.
Schon auf der ersten Seite nehmen die Generale einige deutliche Eindrücke aus dem Leben der neuen Interventions-Bundeswehr vorweg:
„Abgrenzungsdenken, mangelnde Akzeptanz eines auf Kooperation ausgerichteten Rollenverständnisses, Überschätzung des eigenen Beitrags und auch Führungsfehler führen zu Effizienzverlusten, die teilweise durch die Führungsstruktur (…) noch begünstigt werden. Über alle Führungsebenen hinweg werden Grundsätze der Führung trotz besseren Wissens nicht immer beachtet, mitunter aber zugleich von denen eingefordert, die dagegen verstoßen.“
Die Bundeswehr, legt der Bericht ausführlich dar, leide unter einem Mangel an kohärenter Führung, fehlender strategischer Planung, teilweise bizarrer Bürokratie und einer kleinkarierten Kontrollwut des Berliner Ministeriums. Zwischen den Zeilen geht die Kritik der Generale dabei weit über alltägliche Defizite hinaus. Um künftig Einsätze effizienter führen zu können, empfehlen die Generale, „eine in der Hierarchie des BMVg höher angesiedelte Operationsabteilung“ zu bilden. Diese solle unmittelbar dem Generalinspekteur unterstellt werden und „alle auf die Einsätze einwirkenden führungsrelevanten Weisungen und Befehle aller Organisationsbereiche im BMVg für die nachgeordnete Ebene erlassen.“
Im Klartext: Die Bundeswehr solle endlich so etwas wie einen Generalstab erhalten.
Der Begriff – und damit der Gedanke – wird seit Ende des Zweiten Weltkriegs in deutschen Militärkreisen offiziell nicht mehr gebraucht. Die Bundeswehr war seit der Wiederbewaffnung 1955 als gezähmte Armee konzipiert, die allenfalls Schlachten unter Nato-Oberkommando führen sollte, keinesfalls aber eigene Operationen zu planen hatte. Seitdem hat sich zwar die Welt umstürzend verändert, nicht aber die Befehlsstruktur der deutschen Armee. Noch immer sind in Deutschland die klassischen Aufgaben eines Generalstabes – also einer planerischen und operativen militärischen Oberbehörde – zersplittert zwischen dem Verteidigungsministerium, den Teilstreitkräften und dem Einsatzführungskommando für Auslandseinsätze in Potsdam.
Verantwortlich für die Entwicklung von Einsatzstrategien ist der Verteidigungsminister. Der Generalinspekteur ist als höchster Soldat verantwortlich für deren Umsetzung. Bei der Planung und Führung ist der Generalinspekteur dem „Konsensprinzip“ unterworfen, das heißt, im Minsterium soll es zwischen der politischen Spitze und militärischen Handwerkern nicht zum Streit kommen. Dieses Prinzip erfordert nach Einschätzung der Arbeitsgruppe „regelmäßig einen nicht unerheblichen Zeitbedarf.“ Zeit, die die Soldaten im Ausland nicht immer hätten.
„Von zentraler Bedeutung für die Führung von Auslands ist (…) [die] Fähigkeit, bei konkurrienden Interessen Führungsentscheidungen zügig fällen (…) zu können.“ Im Klartext: Im Ministerium werde zuviel geredet und zu wenig entschieden.
Tatsächlich klagen Kommandanten im Einsatz immer wieder über quälend lange Befehlswegen und grotesk lebensferne politische Vorgaben. Stehe ein Kabinetts- oder ein Parlamentsbeschluss zu einem Auslandseinsatz an, so hält das Gutachten fest, bleibe wegen mangelnder strategischen Planungsressourcen im Verteidigungsministerium zunächst oft zu wenig Zeit, um die Mission gründlich zu durchdenken. Dies ziehe das „Risiko von Unschärfen und Fehlern“ nach sich. Die Expertise nachgeordneter Kommandoebenen könne „oft nur ,informell’ und damit nicht ausreichend einbezogen“ werden.
„Beispiele hierfür sind zu frühe Festlegungen von Kontingentobergrenzen, die sich (…) als zu niedrig erweisen (…) oder sehr kurze Zeitvorgaben für die Verlegung von Kontingenten und das Herstellen ihrer Einsatzbereitschaft. Beides kann große Risiken für die die Realisierung der Planung und für die Sicherheit des Kontingents selbst verursachen.“
Mit anderen Worten: Auslandseinsätze werden bisweilen gefährlich hektisch übers Knie gebrochen. Das Primat der Politik schlägt dann um in ein heikles Diktat der Politik. Der Bericht nennt als „drastisches Beispiel“ die überstürzte Aufstellung eines Containerlazaretts im Kongo, die „ohne Beteiligung des Sanitätsführungskommandos getroffen“ vonstatten ging. Das medizinische High-Tech-Modul wäre beinahe im Schlamm versunken, weil es an einem „völlig ungeeigneten Ort aufgebaut“ werden sollte. Erst im letzten Moment sei ein „Totalschaden“ verhindert worden.
Dafür setze, sobald die Truppe im Ausland angekommen sei, sofort eine lähmende Bürokratie ein. „Regelungsdichte und Informationsflüsse haben (…) die Grenze des Handhabbaren überschritten“, konstatieren die Generale. Selbst im Stammesland von Afghanistan ist die Bundeswehr gezwungen, deutsche Rechtsstandards einzuhalten, von der Mülltrennung über die Straßenverkehrsordnung bis zur Zahlung eines Fahrkostenzuschusses an einheimische Mitarbeiter.
Unter dem Stichpunkt „Bürokratie im Einsatz“ halten die Autoren ungläubig fest: „Als Beispiel mag die Weisung zur ,widerruflichen Zahlung eines Fahrkostenzuschusses an die Ortskräfte in Afghanistan’ dienen, die einzustellen sei, sobald die Sicherheitslage es zulasse, da dann ,ein eigener Bus-Shuttle-Verkehr i. S. des Erlasses über Werk-, Schul- und Fürsorgefahrten (VMBl 1990 S. 114) einzurichten und in der Folge die Zahlung des Fahrkostenzuschusses einzustellen’ sei.“
Sobald die Lage ruhig genug ist, muss die Bundeswehr also einen Pendelverkehr für die afghanischen Arbeiter in ihren Feldlagern einrichten. So will es das deutsche Arbeitsrecht.
Selbst wenn Fragen von Leben und Tod betroffen sind, kann es mitunter Jahre dauern, bis Entscheidungen durch die Bürokratie sickern. Der Bericht schildert etwa, wie lange es dauerte, bis Störsender für Bundeswehrkonvois in Afghanistan ankamen. Mit diesen „Jammern“ lässt sich verhindern, dass Terroristen per Mobilfunk Sprengfallen am Straßenrand auslösen – eine Methode, die immer beliebter wird. Die entsprechende Anforderung, hält der Bericht fest, sei bereits 2003 in den „Auswerteprozess eingesteuert“ worden. „Trotz ihrer Dringlichkeit“ sei sie „bis in das Jahr 2006 noch nicht erfüllt“ worden. Die Bundeswehrsoldaten fuhren also geschlagene drei Jahre lang ohne einen einfachen, aber wirkungsvollen elektronischen Schutzschirm am Hindukusch herum.
In der Heimat fehle es währenddessen an Material, um die Soldaten ordentlich auf den Auslandseinsatz vorzubereiten: „Großgeräte stehen für die Ausbildung gar nicht (z.B. Dingo) oder nicht ausreichend (z.B. Füchse) zu Verfügung.“
Bisherige Versuche der Entbürokratisierung, so die Generale, „entmutigen eher“: „Statt einer umfassenden Entfrachtung der Bürokratie wurden mitunter minimale Verbesserungen mit zusätzlichem Überwachungsaufwand ,erkauft’.“
Vollends an der Einsatzzentrale Potsdam vorbei operiert laut dem Bericht das Kommando Spezialkräfte (KSK). Die Elitetruppe werde von einer eigenen Dienststelle, dem Kommando Führung Operation Spezialkräfte (FOSK) befehligt, was bereits „zu deutlichen Koordinations- und Informationsmängeln geführt“ habe. Dieses Eigenleben der KSK berge „große Risiken für die Sicherheit im gesamten Operationsgebiet und für Leib und Leben der dort eingesetzten Soldaten.“ Die Arbeitsgruppe warnt, das KSK polterte mitunter wie eine loose canon durch die Szenerie.
„Ein von der allgemeinen Operationsführung im Einsatzland völlig getrennter, paralleler operativer Führungsstrang des Kommando FOSK in das Einsatzgebiet hinein und die unter großer Geheimhaltung in der Regel mit den Einsatzkontingenten nicht abgestimmten Maßnahmen der Spezialkräfte können (…) Gefahren für die Gesamtoperation, die Kontingente sowie das Ansehen und den Erfolg der Missionen vor Ort selbst erzeugen. Die Risiken dieser aufbauorganisatorischen Lösung sind nach Auffassung der Arbeitsgruppe unvertretbar hoch.“
Dieser Fehler müsse dringend korrigiert werden: „Die Arbeitsgruppe empfiehlt, Spezialkräfte bei den Einsätzen der Bundeswehr im Ausland grundsätzlich wieder aus dem Einsatzführungskommando zu führen.“
Nach ihren Besuchen in den Auslandstützpunkten zeigten sich die Generale überrascht über eine Vielzahl von Verstößen gegen verantwortliche Führung. „Sie sind auf allen Ebenen und in beiden Richtungen zu finden“, was wohl nicht nur etwas mit den bestehenden Befehlsstrukturen zu tun habe:
„Nach intensiver Diskussion hat die Arbeitsgruppe die Überzeugung gewonnen, dass die Defizite im Rollenverständnis und Kooperationsverhalten nur zu einem geringen Teil durch organisatorische Maßnahmen gemindert werden können. Ein nachhaltiger Erfolg bei der Abstellung dieser Defizite muss durch eine Änderung der Mentalität des Führungspersonals erreicht werden.“
Zwischen den vielen an ein einem Auslandseinsatz beteiligten Dienststellen der Bundeswehr fehle es am nötigen Teamgeist: „Anstatt die ihnen zukommenden Rollen zu akzeptieren, sind bei den Kommandos häufig Abgrenzungsdenken, Überschätzung des eigenen Beitrags und auch Führungsfehler feststellbar.“
Zudem sind dem Bericht zufolge allen Diensträngen mehr als die Hälfte aller Stellen mit allenfalls mäßig geeigneten Soldaten besetzt:
„Mit seinem Einsatzcontrolling hat das Einsatzführungskommando eine Quote von bis zu 60 % an nicht forderungsgerecht besetzen Dienstposten ermittelt. Die genannten Beispiele bezogen sich fast ausschließlich auf unerfüllte Einzelkriterien, wie z.B. Sprachleistungsprofil oder Impfstatus.“
Gleichzeitig herrscht im Verteidigungsministerium eine ausgeprägte Panik vor schlechten Schlagzeilen. Der Bericht spricht von einem „Wettlauf mit den Medien“, der dazu führe, dass das Ministerium den Soldaten beständig in ihr Handwerk hineinrede. „Informationen werden mitunter direkt im Einsatzgebiet unter Umgehung des Einsatzführungskommandos abgefragt. Damit besteht – zumindest aus Sicht des Einsatzführungskommandos – beim BMVg die Tendenz, bei Führungsvorgaben und –entscheidungen einen zu hohen, nicht ebenengerechten Detaillierungsgrad zu wählen, der zwangsläufig zu nicht erforderlichen Einschränkungen der operativen Ebene führt.“
Stattdessen fehle es an einer strategischen Planung aller Ministerien, die an Auslandmissionen beteiligt sind, also dem Auswärtigen Amt, dem Entwicklungshilfeministerium, dem Innenministerium und dem BMVg. „Sowohl in Deutschland als auch in den Einsatzgebieten besteht die zwingende Notwendigkeit einer Abstimmung auf allen Ebenen“, schreiben die Gutachter. Insbesondere vermissen sie „Koordinierung und engen Zusammenarbeit verschiedener Ressorts auf der strategischen Ebene (z.B. AA, BMZ, BMVg, BMI).“
Seit gut einem halben Jahr liegt der Heyst-Bericht dem Verteidigungsministerium vor, versehen mit einem „dickel Deckel“, wie es ein Insider formuliert. Selbst der sonst gut informierte Wehrbeauftragte der Bundestages, Reinhold Robbe (SPD), erfuhr erst durch die Recherchen der ZEIT von dem Papier. „Aus meiner Sicht ist das Gutachten mehr als interessant“, sagt Robbe, nachdem er Auszüge gesichtet hat. „Vieles ist sehr zutreffend beschrieben. Ich hätte manches genauso formuliert.“ Auch ihm seien bei seinen Besuchen an den Einsatzorten immer wieder Defizite bei der langfristigen Planung aufgefallen.
Während Verteidigungsminister Jung und Kanzlerin Merkel bei jedem Truppenbesuch den „comprehensive approach“ der deutschen Streitkräfte loben, also die enge Zusammenarbeit mit Diplomaten, Entwicklungshelfern und Polizeiausbildern, fehlt es zuhause in Berlin an ebenjener Synergie zwischen den Ressort. „Die beklagte fehlende Kohärenz zwischen den Ministerien bildet sich übrigens auch im Parlament ab“, sagt der Wehrbeauftragte Robbe. „Nach meiner Kenntnis hat es bisher keine gemeinsamen Sitzungen zwischen dem Auswärtigen- und dem Verteidigungsausschuss gegeben.“ Im Einsatzland predigen die Verantwortlichen also die Sicherheitspolitik des 21. Jahrhundert, während sie zuhause noch immer mit den Zuständigkeiten der Verteidigungspolitik des 20. Jahrhunderts vor sich hin werkeln.
Daran soll sich nach dem Willen von Minister Jung auch nach dem Bericht der Heyst-Gruppe nichts ändern. Über eine breitere interministerielle Abstimmung wird nach Auskunft seines Hauses ebenso wenig nachgedacht wie über eine neue militärische Spitzengliederung der Bundeswehr. „Wir sind nicht in England und auch nicht in Frankreich“, kontert ein Spitzenbeamter die Idee eines Generalstabes. Eine Folge aber soll der Bericht haben: bis zum Sommer wird im Berliner Ministerium ein neuer „Einsatzführungsstab“ eingerichtet, bestehend aus 90 Dienstposten, die direkt dem Generalinspekteur unterstellt sind. Ziel sei es, eine „flachere Hierarchie“ zu schaffen, die den Anforderungen von Auslandseinsätzen besser gewachsen sei. Wie sich dieses neue Gremium allerdings gegenüber den Kompetenzen der Potsdamer Einsatzzentrale einfügen soll, das scheinen die Beteiligten bisher nicht so recht zu wissen. Nach mehr „Führung aus einer Hand“, wie sie sich die Kommandanten im Ausland wünschen, klingt es jedenfalls nicht.