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Finger weg von meinen Fingern! – Juli Zehs Anklage gegen die EU und Otto Schily

 

Vielleicht wird den meisten Bundestagsabgeordneten erst auffallen, wozu sie am 23. Mai 2007 die Hand gehoben haben, wenn sie sie demnächst selbst auf den Scanner senken müssen. Jeder Deutsche, der einen neuen Reisepass beantragt, muss seit November vergangenen Jahres im Behördenzimmer zwei Fingerabdrücke hinterlassen. Die Fingerabdrücke werden in Form eines flachen Abdrucks im elektronischen Speichermedium des Passes gespeichert. So will es Absatz 4 Satz 1 des neuen Passgesetzes. Aber wollte dies tatsächlich auch die Mehrheit des Parlaments? Oder haben sich die Volksvertreter einwickeln lassen von einem raffinierten Gespinst aus Antiterror-Rhetorik, scheinbar unentrinnbaren europarechtlichen Zwängen und Geschäftsinteressen des damaligen Innenministers Otto Schily (SPD)?

So sieht es die Schriftstellerin Juli Zeh. Deswegen hat sie am Mittwoch dieser Woche, zusammen mit dem Leipziger Rechtsanwalt Frank Selbmann, beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen den biometrischen Pass eingereicht. Für sie sei es, abgesehen von den zahlreichen Missbrauchsmöglichkeiten, die der „ePass“ eröffne, schlicht „eine entwürdigende Vorstellung“, ihre Fingerabdrücke abgeben zu müssen wie eine Kriminelle.

Zehs Verfassungsbeschwerde verspricht nicht nur wegen der Jeanne d’Arc’schen Konstellation – Juli gegen Schily – Dramatik. Sie stellt auch einer immer mächtiger werdenden Europäischen Union die überfällige Frage: Wie hältst Du’s mit den Bürgerrechten? Denn gerade bei den heiklen Fragen der inneren Sicherheit hat sich in Brüssel eine Rechtssetzungspraxis qua Minister-Ukas etabliert, die an nationalen Parlamenten und Öffentlichkeiten vorbei oft unliebsame Tatsachen schafft. Und die damit, wie es die gelernte Juristin Zeh sieht, „den Grundsatz der Gewaltenteilung auf den Kopf stellt.“

Minister hebeln das Parlament aus

So geschehen sei dies etwa am 26. Oktober 2004. Die Innenminister der EU, unter ihnen Otto Schily, treffen sich in Straßburg. Abgeschottet von jeder Opposition, beschließt die Versammlung der Antiterrordenker, biometrische Daten, also Gesichtsfelddaten und Fingerabdrücke, künftig in die Reisepässe aller Mitgliedsstaaten aufzunehmen. Begründet wird dies unter anderem mit der „Harmonisierung der Sicherheitsmerkmale“ in europäischen Reisedokumenten.

Das Europäische Parlament stimmt dem Beschluss am 2. Dezember mit 471 zu 118 Stimmen zu. Auch die deutsche Vorzeige-FDP-Abgeordnete Silvana Koch-Mehrin hebt die Hand zum Ja, im Reigen mit der Mehrheit der europäischen Liberalen.
Fragt man deren Vertreter heute, warum sie eine Entscheidung mittrugen, die im krassen Gegensatz zu ihren Parteigrundsätzen steht, heißt es, die Mitgliedsstaaten hätten „Druck“ gemacht. Gefragt, warum die Liberalen dann nicht wenigsten in Berlin Alarm schlugen, um auf ein brennendes Bürgerrechtsthema aufmerksam zu machen, antwortet ein EP-Abgeordneter: „Brüssel schreit ja durchaus manchmal. Aber wie das bei kleinen Kindern eben so ist – man überhört das Schreien manchmal.“

Dann fragt sich bloß, wozu sich Europa überhaupt ein Parlament als vermeintlichen Watchdog über Vorschläge aus der Kommission leistet. Alexander Alvaro, der sich als FDP-Abgeordneter im Europaparlament damals immerhin der Stimme enthielt, erinnert sich daran, dass seine Einwände auch zuhause, im Berliner Apparat, „nicht recht durchdrangen“. Zum einen sicher, weil kiloschwere Papiere aus der EU-Zentrale ohnehin selten geeignet sind, die Gemüter entfachten. Zum anderen aber, weil, wie es Alvaro formuliert, „wir doch wissen, wie Otto Schily auf Kritik reagiert.“

Die Pass-Verordnung jedenfalls ist nach der Zustimmung des Europaparlaments nicht mehr aufzuhalten. Sie entfaltet laut Artikel 62 EG-Vertrag für alle Mitgliedsländer bindende Wirkung.

Gutachter warnen – ohne Erfolg

Erst jetzt, nachdem eigentlich nichts mehr zu stoppen ist, warnen im Innenausschuss des Bundestages eine Reihe von Gutachtern, der biometrische Pass bringe mehr Unsicherheit als Sicherheit. Kriminelle könnten die Fingerabdruckdaten ausspähen und an Tatorten falsche Spuren hinterlassen, warnt Professor Andreas Pfitzmann von der TU Dresden:

„Fingerabdrücke in Pässen helfen Kriminellen und nicht nur Strafverfolgern. (…) Sie werden polizeiliche Ermittlungen deutlich erschweren. Die Schlussfolgerung aus dieser Sache ist, keine Fingerabdrücke in Pässe. Ich weiß, dass das nicht konform ist zu manchen Dingen, die auf EU-Ebene bereits beschlossen sind. Aber ich halte die Sache für dermaßen kritisch, dass ich denke, dass Sie als nationaler Gesetzgeber einen großen Fehler, den die EU gemacht hat, nicht auch vollziehen sollten. Warum? Die Aufnahme des biometrischen Merkmals ,Fingerabdruck‘ in Pässe und insbesondere seine Prüfung werden Menschen daran gewöhnen, ihre Fingerabdrücke an von ihnen nicht kontrollierbaren Geräten in hoher Qualität abzugeben. Die Menschen werden ihren Fingerabdruck bei vielerlei Gelegenheit abgeben. Damit werden Fingerabdrücke vielen Akteuren zugänglich, z.B. Grenzbeamten, Hoteliers, Läden. Alle diese werden sich dieser Technik anschließen, selbst dann, wenn sie Geräte zur Erfassung von Fingerabdrücken haben, die überhaupt nicht mit dem Pass zusammenarbeiten. Sie werden dort ein Gerät hinstellen und die Fingerabdrücke abnehmen und die Bundesbürger werden ihre Fingerabdrücke dort abgeben, denn sie sind entsprechend konditioniert. Damit haben fremde Geheimdienste und auch Kriminelle nach kurzer Zeit eine große Sammlung von deutschen Fingerabdrücken, und sie werden natürlich von diesen Mitteln in ihrem Sinne Gebrauch machen. Gebrauch machen bedeutet – sie finden die entsprechenden Videos im Internet, ich kann auch gerne die URLs vorlesen, wenn Sie darauf Wert legen -. Sie können mit Fingerabdrücken, mit Bildern von Fingerabdrücken so gute Fingerreplikate herstellen, dass gängige Fingerabdrucksensoren problemlos zu überlisten sind. Schlimmer noch ist, wenn Sie noch ein bisschen Biologie und Chemie kennen, und das ganze mit ein paar Aminosäuren anreichern, dann werden Sie damit am Tatort auch Fingerabdrücke hinterlassen können, die für die Forensik eine große Herausforderung darstellen, ob Sie die von natürlichen Fingerabdrücken unterscheiden können.“

Ausländische Geheimdienste könnten auf diese Weise Bürger anderer Staaten kompromittieren und zur Zusammenarbeit zwingen. Kein Mensch wisse, in welche Hände die Daten im Ausland gelangen könnten.

Es bestehe das Risiko, warnt der Sachverständige Lukas Grunwald, „dass Länder, mit denen die biometrischen Daten einmal geteilt worden sind, diese Zugangsschlüssel speichern können, und später, auch wenn ihnen der geteilte Zugriff auf die biometrischen Daten der Bürger des entsprechenden Schengen-Bereichs aberkannt wird, weiter unberechtigt auf die biometrischen Daten zugreifen können, weil kein Rückrufmechanismus existiert.“
Es müsse beachtet werden, „dass allein das optische Auslesen der maschinenlesbaren Zone genügt, um Informationen zu gewinnen, wie z.B. auch an das biometrische Template, um also an ein perfektes Bild nach biometrischen Maßstäben heranzukommen. Es hilft dabei nicht, wenn diese Informationen nur innerhalb der Bundesrepublik Deutschland sicher sind, schließlich sind ePässe auch dazu da, dass damit verreist wird und diese somit weltweit gewissen Risiken ausgesetzt sind.“

In den USA wäre ein ePass undenkbar

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und Informationsfreiheit, Peter Schaar, gab im Innenausschus des Bundestages zu Protokoll: „Es handelt sich dabei, wie sich das mittlerweile herausgestellt hat, um einen europäischen Sonderweg. Kaum ein Staat auf der Welt ist diesem Weg bisher gefolgt, und ich nehme auch an, dass sich daran nicht viel ändern wird. Selbst die Verfahren, die bei den europäischen ePässen verwendet werden, werden in anderen Staaten, in denen Fingerabdrücke in Pässe aufgenommen werden, nicht angewandt. In den USA wird die Verwendung der Fingerabdrücke aus den von Prof. Pfitzmann genannten Gründen ausdrücklich abgelehnt.“

Zudem räumt selbst die Bundesregierung ein, dass keiner der islamistischen Anschläge, weder der vom 11. September 2001, noch der von Madrid 2004 oder London 2005 sei mit biometrischen Pässen zu verhindern gewesen sei. In einer Parlamentarische Anfrage verlangte die Fraktion Die Linke im Mai 2007 Auskunft auf die Frage:

„Bei wie vielen der durchgeführten oder geplanten und aufgedeckten oder sonst verhinderten vermutlichen terroristischen Anschläge seit dem Jahre 2000 spielten bei Planung und Durchführung gefälschte deutsche Pässe oder Ausweise eine Rolle (bitte aufgeschlüsselt nach Jahren und Anlass darstellen)?“

Die Antwort der Bundesregierung:

„Der Bundesregierung sind keine derartigen Fälle bekannt.“

Trotzallem, das rot-grüne Berlin lässt Schilys Biometrie-Projekt passieren. Nach Schilys Ausscheiden aus dem Bundeskabinett geht der SPD-Abgeordnete zudem eine pikante Geschäftsbeziehung ein. Er steigt als Aufsichtsmitglied bei der bayerischen Firma byometric systems AG ein.

„Schriftsteller sind phantasiebegabt“, erwidert Otto Schily

Juli Zeh pocht in ihrer Verfassungsbeschwerde darauf, dass Schily bislang nicht die Einkünfte öffentlich gemacht habe, die er als Aufsichtsratsmitglied dieses Biometrie-start ups bezogen habe. Auch um die Hintergründe dieses Sachverhalts zu klären, schmiedet Zeh sie in ihrer Klageschrift in schweres juristisches Geschütz um. Sie schreibt:

„Bezüglich des deutschen Vertreters im Europäischen Rat, dem ehemaligen Bundesinnenminister Schily, besteht die Besorgnis der Befangenheit. Otto Schily ist mittlerweile Aufsichtsratsmitglied der Byometric Systems AG, die im Bereich der Grenzkontrolle durch biometrische Erkennung tätig ist. Es ist nicht auszuschließen, dass sich der damalige Innenminister (…) von einem eigenen wirtschaftlichen Interesse leiten ließ.“

Das sei „grotesk“, antwortet Schily. „Schriftsteller sollen bekanntlich besonders phantasiebegabt sein“, entgegnet er gegenüber der ZEIT. „Als Grundlage für Gerichtsentscheidungen taugen Phantasieprodukte aber nicht. Bei der Firma handelt es sich um ein kleines bayerisches start-up-Unternehmen, das sich durch meine Unterstützung bessere Chancen im Export versprochen hat. Eine Vergütung für meine Aufsichtsratstätigkeit habe ich nicht erhalten. Inzwischen bin ich aus dem Aufsichtsrat wieder ausgeschieden. Die Firma byometric systems AG hat außerdem mit dem biometrischen Pass nichts zu tun.“

Schily räumt allerdings ein, dass die Firma in einem Bieter-Verfahren zusammen mit der Firma Bosch den Auftrag erhalten hat, am Frankfurter Flughafen ein Pilotverfahren für eine beschleunigte Grenzabfertigung per Iris-Kontrolle einzurichten.

Und doch es bleibt zu fragen, ob Schily und seine europäischen Ministerkollegen die Kompetenzen der EU nicht überdehnten, als sie den ePass über die Brüsseler Bande in die Mitgliedsstaaten hinein dekretieren – oder ob sie damit gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstießen, sprich: nur das mit Hilfe Europas zu regeln, was tatsächlich europaeinheitlich geregelt werden muss.
Innerhalb der EU, argumentiert Juli Zeh in ihrer Verfassungsbeschwerde, brauche man doch gar keine Reisepässe, um vom einen Land ins andere zu gelangen. Damit „fehlt es vollständig an einem EU-spezifischen Bezug“ der Pass-Verordnung.

Schützt die EU die Grundrechte gut genug?

Interessant wird nun, ob das Bundesverfassungsgericht die Sache überhaupt annimmt. Denn seit 1986 geht das Gericht davon aus, dass der Grundrechtsschutz in der EU im wesentlichen dem deutschen Standard entspricht; solange sich dies nicht ändere, werde Karlsruhe Rechtsakte der EU nicht mehr überprüfen. 22 Jahre lang gingen die Richter also davon aus, die Grundrechte seien in Europa ganz gut aufgehoben. Der grundrechtliche Standard der EU sei dem in Deutschland »im wesentlichen gleichzuachten«, schrieben sie in ihrer berühmten »Solange II-Entscheidung«.

Doch das war eben 1986 – und damit lange vor dem 11. September 2001. Seit den Terrorattacken auf die USA hat sich einiges verändert im europäischen Rechtsdenken – nicht nur in etwa Großbritannien, wo Richter schon Folter und zeitliche unbegrenzte Haft ohne Anklage für hinnehmbar halten. Zugleich erklärte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Klage gegen den europäischen Haftbefehl ohne Umschweife, dass »die nationalstaatliche Schutzpflicht gegenüber dem eigenen Staatsangehörigen (…) zugunsten einer europäischen Zusammenarbeit zurückgenommen« wird.

Es sei für die Karlsruher Richter mithin längst an der Zeit, glaubt Juli Zeh, ihren „Solange“-Standpunkt zu überprüfen. Insbesondere bei Fragen der informationellen Selbstbestimmung böte die europäische Rechtssprechung bei weitem nicht den Standard, der in Deutschland herrsche, argumentiert sie.

Nach der rechtspolitischen Katalysatorwirkung des 11. September 2001 ist eines in der Tat deutlich geworden: Zwar arbeitet die EU immer stärker in der so genannten „Dritten Säule“ (Justiz und Inneres) zusammen, um Europa zu „einem Raum von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit zu machen“. Doch das bedeutet keineswegs, dass sich auch der Grundrechtsschutz veredelt. „Je mehr Kompetenzen wir nach Brüssel verlagern, desto schlimmer wird es“, glaubt Juli Zeh vielmehr – dies gelte umso mehr, als der kürzlich beschlossenen Lissabon-Vertrag in Zukunft mehr europäisches Durchregieren ermöglichen. Tatsächlich hat Karlsruhe sich in jüngerer Zeit schon recht EU-skeptisch gezeigt. 2005 verwarfen die Richter verwarfen sie den Europäischen Haftbefehl, weil er nicht den deutschen Rechtsstaatserfordernissen genügte. Und neben der Klage von Zeh ist derzeit auch eine Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung anhängig, die auf eine EU-Richtlinie zurückgeht

Der Rechtsanwalt Sönke Hilbrans, Vertreter der Deutschen Vereinigung Datenschutz, führt das zunehmende Unbehagen mit solchen Kontroll-Innovationen aus Brüssel auf ein offenkundiges Demokratiedefizit in der Europäischen Union zurück. Im Innenausschuss des Bundestages sagte er:

„Der ePass mit biometrischen Merkmalen einschließlich Fingerabdrücken auf einem RIFD-Chip wird kommen. Der Deutsche Bundestag und sein Innenausschuss zählen eher zu den letzten Gesetzgebungsorganen, die sich damit intensiv befassen können und sollen. Nun ist der ePass und vor allem die Verordnung (EG) Nr. 2252/04 nicht vom Himmel gefallen, sondern sie ist von der Bundesregierung im europäischen Rechtsetzungsprozess mit vorangetrieben worden. Sie erkennen daran, wie beispielsweise auch an der Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten, die ebenfalls auf Gemeinschaftsrecht beruhen soll, dass die Gesetzgebungsorgane in der Bundesrepublik Deutschland mit zu den letzten gehören, die brisante bürgerrechtlich bedeutende Entscheidungen mitverantworten sollen. Man kann das Demokratiedefizit in der Europäischen Union nennen, und dieses Demokratiedefizit bricht sich nicht erst seit der Stärkung der Dritten Säule in der Europäischen Union verstärkt Bahn.“

Der Bundestag lässt sich von Brüssel entmachten

Aber könnten die nationalen Parlamente ihren Ministern nicht Zügel anlegen, um zu verhindern, dass sie solche Prozesse in Europa überhaupt anschieben? Tragen die heimischen Parlamente nicht gehörige Mitschuld an dem fahrlässigen Ausverkauf von nationalen Hoheitsrechten an die Brüsseler Gesetzesschmiede? Im Maastricht-Urteil von 1993 stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass »Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht« weiterhin Sache des Bundestages bleiben müssten. Warum sind sie es nicht mehr? Die Legislative bleibt immerhin der Kontrolleur der Exekutiven, und das Grundgesetz sieht keine Einschränkung dieses Grundsatzes vor, bloß weil es um Fragen der europäischen Integration geht.

Natürlich könnten Bundestagsabgeordnete ihre Minister strenger an deutsche Interessen binden. Selbstverständlich könnte der Bundestag dem jeweiligen Fachminister Weisungen mit auf den Weg nach Brüssel geben. Bisher reisen sie allerdings meist mit Blankoschecks. Das Parlament könnte zudem, wenn sich der Minister an diese Weisungen nicht hielte, die Sache zum Politikum machen.

Doch um dies zu bewerkstelligen, fehlt den Parlamentarien in der Praxis an dreierlei. An der richtigen Information, am richtigen Willen und am richtigen Zeitpunkt. „Natürlich bekommen wir alle Vorlagen aus Brüssel, bevor dort etwas beschlossen wird“, berichtet der rechtspolitische Experte der FDP-Bundestagsfraktion, Max Stadtler. „Aber allein die Fülle dieses Materials erdrückt einen schon.“ Zudem mache es der sprachliche Duktus der Dokumente zu einer echten Herausforderung, das Wesentliche aus ihnen herauszufiltern. „Da gibt es Vorreden, Präambel, Zielbeschreibungen… es ist sehr schwierig herauszufinden, um was es eigentlich geht.“ Sicher, wer hat schon die Muße und die Disziplin, sich durch diese Aktenberge zu wühlen, wenn um einen herum die handfeste deutsche Politik tobt? Und selbst wenn einzelne Abgeordnete diese Mühe auf sich nähmen – wann, fragt Stadtler, wäre für sie eigentlich der Zeitpunkt, aufzuschreien? Wenn Beschlüsse in der Kommission vorbereitet werden, kann der Parlamentarier noch darauf bauen, dass sein nationaler Minister später im Rat die Vorlage abbiegen oder verändern wird. Was dann tatsächlich hinter den verschlossenen Türen des Brüsseler Ratsgebäudes geschieht, bekommt allerdings kein Volksvertreter mit.
Und nach einem dortigen Beschluss müsste es ein Bundestagsabgeordneter schon gegen den erklärten Willen von 27 Ministern der Europäischen Union auflehnen. Fast verständlich, dass auf ein solch quijotische Unterfangen kein Parlamentarier seine Energie verwenden möchte.

Der FDP-Mann Stadtler hält diese Zustände für ein „Kernproblem“ im Umgang mit Europa. „Eine unmittelbare Beteiligung im Sinne eines imperativen Mandats gibt es gegenüber Brüssel nicht.“ Was zu einem Gutteil selbstverschuldet sei. „Das Zeugnis, das ich dem Bundestag in der Europapolitik ausstellen würde, wäre: Er bemüht sich redlich“, bilanziert der Bayer. Auch Stadlers Kollege Wolfgang Bosbach, innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, hält den »marginalen Einfluss« des Bundestags für ein hausgemachtes Problem. »Mit europäischen Themen beschäftigen wir uns viel zu oberflächlich und zu selten«, räumt er ein. »Und dann tun wir so, als fielen Brüsseler Gesetze vom Himmel wie die Zehn Gebote.« Höchste Zeit also, dass die Berliner ihre irdische Instanz stärken.

Um in Zukunft nicht mehr derart überrumpelt zu werden wie es beim biometrischen Pass passierte, will der Bundestag in Brüssel nun ein eigenes Verbindungsbüro aufbauen. Von dort sollen Mitarbeiter, die sich deutschen, nicht europäischen Ideen verpflichtet sind, die relevanten Vorlagen durchforsten und Berlin vorwarnen, falls Unheil dräut. Genau dies wäre eigentlich Aufgabe der Europaparlamentarier. Doch diese sind ihren Berliner Pendants offenbar so suspekt wie eine Horde scheuklappenbewehrter EU-Lobbyisten. Die Kommunikation zwischen Bundestag und Europaparlament „gestört“ zu nennen, wäre noch eine wohlmeinende Übertreibung.

„Ich war immer ein großer Freund der europäischen Idee“, sagt Juli Zeh, die Autorin der bisher wohl schärfsten Anklage gegen die unkontrollierten Rechtsdurchgriffe der EU, „aber jetzt wird’s mir doch ein bisschen gruselig.“