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Europas trauriges Kurfürstentum

Europa hat zum 1. Januar 2010 zwei der renommiersten Arbeitsplätze zu vergeben, die die Weltgeschichte je gesehen hat. Ein permanenter europäischer Präsident sowie ein europäischer „Außenminister“ sollen nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages den größten Verbund von rechtsstaatlichen Demokratien der Erde vertreten.

Aber wie läuft die Benennung auf diese würdigen Ämter ab? Leider ungefähr so transparent und diskussionsfreudig wie politische Bestallungen in Pjöngjang.

Diese Übertreibung muss erlaubt sein, um deutlich zu machen, wie – eben –  unwürdig die Europäische Union sich ihre bedeutendsten Vertreter herbeischachert. Am Donnerstag und Freitag kommen die 27 EU-Staats- und Regierungschefs zu einem Gipfel in Brüssel zusammen. Am Rande von Debatten über Klimapolitik, die Neuaufstellung der EU-Kommission und der Finanzkrise wird es – hinter den Kulissen – auch um Frage gehen, wer wen für welchen Posten unterstützt.

Die Entscheidung wird vermutlich erst am 12. November auf einem Sondergipfel fallen, aber der Beschluss dürfte schon jetzt vorbereitet werden.

Doch ebenfalls schon jetzt drängt sich der Eindruck auf, dass es nicht in erster Linie darum geht, welche Wahl die beste für Europa wäre. Sondern darum, wie sich am besten Streit vermeiden lässt.

England schickt Tony Blair als Ratspräsidenten ins Rennen. Frankreich wollte ihn auch einmal – ist jetzt aber nicht mehr so sicher. Der Luxemburger Jean-Claude Juncker wirft ebenfalls seinen Hut in den Ring. Die Österreicher pushen Wolfgang Schüssel, die Belgier Guy Verhofstadt und die Niederländer Jan Peter Balkenende. Und Deutschland?

Vor einigen Monaten war aus Berlin noch zu hören, Angela Merkel unterstütze Juncker. Mittlerweile hört man gar nichts mehr. Das größte Land Europas hält es offenbar nicht für nötig, öffentlich seine Kandidaten vorzuschlagen. Das passt in ein Muster. Erst lässt sich Kanzlerin – recht unbegeistert – José Manuel Barroso als Kommissionspräsidenten gewähren. Dann schiebt sie den missliebigen Ministerpräsidenten Günther Oettinger nach Brüssel. Und jetzt? Die Besetzung Europas scheint Berlin keinen Gedanken zu viel wert zu sein. Als könne man sich in der EU-Arena nur mit überflüssigen Konflikten beladen statt etwas zu gewinnen.

Es ist traurig. Die Vertreter der höchstentwickelten Demokratien der Erde treten in Brüssel wie zu einem mittelalterlichen Treffen von Kurfürsten zusammen, um hinter geschlossenen Türen über einen primus inter pares zu verhandeln. Dieses Prozedere ist sowohl dem Gewicht wie auch der Rolle der beiden europäischen top jobs schlicht unangemessen.

Von beiden, Ratspräsident und EU-Außenminister, wird man erwarten, dass sie Europas Interessen und Werte in aller Welt vertreten. Aber was antworten sie, wenn sie ein russischer oder chinesischer Staatschefs fragt, wie demokratisch sie eigentlich an die Macht gelangt sind? – Infolge eines Beschlusses demokratisch gewählter Regierungschefs, sicher.

Aber wenn ihre demokratische Legitimation schon derart mittelbar ist, hätten die Europäer dann nicht die Chance verdient, sich zuvor wenigstens ein kritisches Bild machen zu können von denen, die sie vertreten sollen? Wäre es nicht lohnenswert gewesen, die Kandidaten zunächst einmal über ihre wichtigsten Visionen und Ziele Auskunft geben zu lassen? Wäre es nicht ein Gebot der Transparenz, genau zu wissen, wer hinter welchem Kandidaten steht? Wenigstens eine nachvollziehbare öffentliche Debatte zu führen, mit anderen Worten?

Ganz selbstverständlich wird die Kanzlerin an der Wahl und der Leistung ihrer Bundesminister gemessen. Doch wen werden die Europäer für die Wahl der Brüsseler Chefposten zur Rechenschaft ziehen können?

 

„Ein Akt der Selbstzerstörung“

Die Libertas-Partei des Iren Declan Ganley will die Europawahlen zum Referendum gegen die EU machen.
Doch sie wird zum Opfer ihres eigenen Ehrgeizes

Brüssel/Duisburg
Das Hauptquartier der Freiheitskämpfer liegt inmitten feindlicher Gemäuer. Gegenüber hat der „Europäische Personalauswahl-Dienst“ sein Büro, und durch die Häuserlücken schimmert die Glasfassade der EU-Kommission. „Libertas? Nein, das sind wir nicht!“, stellt die Dame an der Gegensprechanlage klar. „Fahren Sie hoch in den siebten Stock.“ Ein Klingelschild fehlt der neuen Partei kurz nach ihrem Einzug in Brüssel noch. Wie überhaupt vieles etwas provisorisch wirkt für eine Bewegung, die sich vorgenommen hat, bei den Europawahlen am 7. Juni „die politische Landschaft des Kontinents zu verändern.“

Oben, in einer loftartigen Etage, wartet der Anführer der Rebellen, ein Mann, dem seine Anhänger magische Eigenschaften nachsagen. „Unglaublich energetisch“, sagt einer seiner Wahlkampfmitstreiter. Er habe, schwört ein anderer, jahrelang in der Industrie gearbeitet, aber „keinen vergleichbaren Menschen kennen gelernt“. Declan Ganley, 40, Ire, millionenschwerer Telekommunikationsunternehmer, bürgerlicher Heiland für die einen, populistischer Rattenfänger für die anderen, hat es im vergangenen Juni in seiner Heimat fertig gebracht, für ein knappes Nein beim Referendum über den EU-Reformvertrag zu sorgen. Jetzt will er das Brüsseler Establishment das Fürchten lehren, indem ganz Europa gegen die EU mobilisiert.

Europa, sagt er, das liebe er. Die EU hingegen, die ist seiner Ansicht nach zu einer anti-demokratischen, gesichtslosen und entrückten Gesetzesmaschine degeneriert.

„Es ist doch mugabeesk, was hier passiert“, sagt Ganley in Anspielung auf den Diktator vom Simbabwe und zeigt hinüber Richtung Kommission. „Wenn ein Abstimmungsergebnis diesen Eliten nicht passt, dann wird eben noch mal abgestimmt.“ Damit diese Kommissare („ungewählte, arrogante Bürokraten, die achtzig Prozent der Gesetze in Europa erlassen“) nicht noch mächtiger werden, will Ganley die Europawahlen zu einem Referendum über den Lissabon-Vertrag machen, und er findet dafür eine wachsende Schar Anhänger in immer mehr Ländern.

Libertas hat schon Ableger in Frankreich, Großbritannien, Spanien, Dänemark, Schweden, Polen, Ungarn, Tschechien und einer ganzen Reihe kleinerer Länder gegründet. Die Gegenbewegung, die da sprießt, ist bemerkenswerter Weise die erste wirklich pan-europäische Partei, und selbst in Brüssel gibt manch ein Beamter hinter vorgehaltener Hand zu, es sei in Tat an der Zeit für mehr gesunden Widerspruch gegen den Wildwuchs von Kompetenten in der EU-Zentrale. Keine Frage, Ganley hat eine politische Marktlücke entdeckt: Er will all jenen, die am scheinbar unumstößlichen Integrationskurs der EU stören, eine ideologisch unverseuchte Wahlalternative zu den links- und rechtsextremen Europahassern bietet. Ein zweistelliges Ergebnis, glaubt er, könnte Libertas schon einfahren am 7. Juni. „Und dann können sie“, Kopfbewegung aus dem Fenster, „die Bürger nicht mehr ignorieren.“

Die Absicht, die Brüsseler Geschäftsführerdemokratie mit konstruktiver Opposition aufzumischen, nobel sein. Doch in der EU-Apo des Declan Ganley zeichnet sich bereits der Schicksalszug der klassischen Tragödie ab. Je mehr die Neuropäer tun, um ihrem Scheitern zu entrinnen, nämlich als obskure EU-Feinde abgeschrieben zu werden, desto zielstrebiger gehen sie ihm entgegen.

Es ist ein Abend im April, an dem sich zeigt, dass Libertas zum Opfer eines überspannten Einzelkämpferethos zu werden droht. Was freilich auch an der Aggressivität liegt, mit der das etablierte Brüssel Kräfte abstößt, die es als Spielverderber identifiziert hat. Es ist der Abend der „Big Debate“, einem Ereignis, das schon wochenlang vorher wie ein Ringkampf angekündigt wurde. Declan Ganley trifft Daniel Cohn-Bendit, EU-Guerillero contra Ex-Guerillo. Hunderte Gäste aus der Europa-Community strömen herbei, erwarten einen der spannendsten Schlagabtausche des Jahres. Was sie erleben, ist ein Big Debakel. Ganley hält ein Buch in die Höhe, in dem Cohn-Bendit schildert, wie er als Erzieher in den siebziger Jahren Kinder gestreichelt habe. Die Botschaft: Ein Kinderschänder! Cohn-Bendit hält Ganley vor, er unterhalte Geschäftsbeziehungen in die USA. Will sagen: Ein neokonservativer Einflussagent! Die Chance, darüber zu reden, ob es eine bessere, bürgernähere EU geben kann, zerstiebt im emotionalen Sperrfeuer.

Genau das Gleiche passiert innerhalb von Libertas selbst. Zwar versichern ihre PR-Beauftragten, Hitzköpfe von der Partei fernzuhalten, aber auf Libertas-freundlichen Websites finden sich Stellungnahmen wie: „Unsere Kandidaten müssen einen absoluten Hass auf die EU haben, nicht, dass wir unwissentlich Maulwürfe wählen, die weitermachen wie bisher“ oder „Wir werden von deutschlandfeindlichen Politikern regiert“. Kein Wunder, dass sich gestandene EU-Kritiker, die im Wahlkampf als Zugkräfte dienen könnten, von Libertas fernhalten. Der CSU-Mann Peter Gauweiler, der vorm Bundesverfassungsgericht gegen den Lissabon-Vertrag klagt, sagt, er halte die Arbeit von Libertas zwar für „verdienstvoll“, aber deswegen aus der Bayern-Partei austreten? I wo.

Ebenso wenig wollen die prominentesten Brüsseler Abweichler-Abgeordneten Hans-Peter Martin (Österreich) und Jens-Peter Bonde (Dänemark) auf der Libertas-Liste kandidieren. Er berate Declan Ganley gern, sagt Martin, „aber die Unabhängigkeit ist ein hohes Gut.“ Genauso wie der gute Ruf. In Frankreich führt der als rechtsgerichtet geltende Philippe de Villiers Libertas an, in Polen kamen Gerüchte über Antisemiten in den Reihen der neuen Partei auf, in Prag unterstützt der von Kritikern als „Tschechischer Berlusconi“ gescholtene Medienunternehmer Vladimir Zelezny die Gruppe. Und in Großbritannien, dort wo Libertas mit großen Sympathien rechnen könnte, beugen ihr die bürgerlichen Tories vor, indem sie selbst ein Referendum über den Lissabon-Vertrag fordern.

Und im größten europäischen Land? Da gibt es einen Rechtsanwalt in Duisburg, der vor wenigen Monaten noch Feuer und Flamme für Libertas war. Mittlerweile bezeichnet er seine kurze Präsidentschaft von Libertas Deutschland als „meinen One Night Stand mit der Politik“. Hinter dem Schreibtisch von Carlos A. Gebauer hängen zwei große Fotos; eines zeigt ihn einer Sabine-Christiansen-Sendung, wo er einmal über Gesundheitspolitik mitdiskutierte. Von dem anderen lächelt die Crew der RTL-Sendung „Strafgericht“ herunter. Gebauer spielte dort nebenberuflich jahrelang den Strafverteidiger.

Den smarten Advokaten und Ex-FDP-Mitglied (nicht mehr liberal genug) trieb die Lust des intellektuellen Tabubruchs, und in der EU fand er einen Fetisch. Beim Treffen im März zitierte er noch, mit einigem Fug, Luhmanns Theorie von den selbstschöpfenden Systemen, wenn er über Brüssel redete, und als nächstes Declan Ganley, der ihm am Telefon überzeugte, Deutschland-Chef zu werden, und mit den schlichten Worten: „It has to be done.“ – „Der Satz hat etwas in mir getroffen.“

Was folgte, waren schmerzhafte Tiefschläge. Zur Libertas-Gründungs-Pressekonferenz in Berlin kamen gerade einmal zwei Journalisten, und als Gebauer seine Kandidatenliste im Brüsseler Hauptquartier einreichte, sagten ihm „die internationalen Wahlkampfexperten“ dort, 16 Namen sei viel zu wenig. „Damit blamiere man sich in der Presse, hieß es.“ Also rekrutierte Gebauer in aller Eile nach, aber um die notwendigen 4000 Unterschriften für die Parteizulassung zusammenzubekommen, blieb gerade noch eine gute Woche Zeit. „Tja, und bei 3500 sind wir dann verhungert.“ Libertas wird in Deutschland nicht zur Wahl antreten.

„Es war ein Akt der Selbstzerstörung“, sagt Gebauer.

Doch vielleicht hat der ihn vor einer längeren Selbstzerfleischung bewahrt. Denn auf die Frage, was die Libertas-Abgeordneten denn eigentlich nach der Wahl tun wollen, hat keiner von ihnen eine überzeugende Antwort. Im EuropäischenParlament sitzen und motzend ein System mittragen, dessen Teil sie nie sein wollten? Carlos Gebauer jedenfalls ist noch nicht vollends abgeschreckt. „Es gibt ja noch die Bundestagswahlen“, sagt er. „Das stelle ich mir spannend vor.“

 

Propaganda für den Reformvertrag?

Einen kleinen Spuk veranstaltete heute morgen vor dem Gebäude der EU-Kommission eine versprengte Gruppe von Anhängern der paneuropäischen Organisation Libertas. Ihr Protest richtet sich gegen den Lissabon-Vertrag im allgemeinen und – heute – gegen das Vorhaben der Kommission, 1,8 Millionen Euro für eine neue „Informationskampagne“ über den Lissabon-Vertrag in Irland auszugeben.

Wir erinnern uns: Die Iren hatten das Reformwerk im vergangenen Juni mit knapper Mehrheit abgelehnt. Voraussichtlich im September sollen sie nun ein zweites Mal an die Wahlurne gebeten werden.

Libertas wirft der Kommission vor, dass nicht nur dieses Vorgehen, sondern auch die geplante Bereitstellung von Steuergeldern für eine Pro-Lissabon-Kampagne „anti-demokratisch und unakzeptabel“ sei.

In der Tat stellt sich die Frage, ob sich die Kommission nicht den Vorwurf der Propaganda gefallen lassen muss.

Oder handelt es sich schlicht um Information und Aufklärung, wenn mit EU-Geldern in Irland Broschüren und Plakate für den Lissabon-Vertrag gedruckt werden?

Bedienen wir uns zur Begriffsklärung der Definition von Propaganda aus Wikipedia: „Propaganda bezeichnet einen absichtlichen und systematischen Versuch, Sichtweisen zu formen, Erkenntnisse zu manipulieren und Verhalten zu steuern, zum Zwecke der Erzeugung einer vom Propagandisten erwünschten Reaktion.“

Dass die Kommission absichtlich und systematisch vorgeht, darf man annehmen. Dass sie einen Zweck verfolgt ebenfalls, namentlich die Iren zu einem Ja zum Lissabon-Vertrag zu bewegen.
Sicher ist zudem, dass sie eine Sichtweise formen will, nämlich die, dass der Lissabon-Vertrag eine gute Sache sei.

Manipuliert sie zu diesem Zweck aber auch Erkenntnisse? Werfen wir dazu einen Blick auf die Webseite „Der Lissabon-Vertrag“ der Kommission. Dort verbreitet die Kommission sicher keine Unwahrheiten. Aber Manipulation ist auch möglich durch das gezielte Weglassen von Informationen. So findet sich auf der Homepage kein einziger kritischer Satz über den Vertrag. Vielmehr folgen die Inhalte dem eingangs formulierten Mantra: „Nur so kann die EU effizient und wirkungsvoll die Herausforderungen von heute angehen.“ Daran kann man ebenso zweifeln wie an der Behauptung, der Lissabon-Vertrag mache die EU demokratischer.

Legt man den Begriff der Manipulation also weit aus, im Sinne des gezielten Unterschlagens wesentlicher Kritik, trifft dies auf die Öffentlichkeitsarbeit der Kommission zu.

Aber: Darf sie das nicht? Politik, könnte man entgegnen, wirbt doch regelmäßig für ihre Ideen. Wenn das Bundesgesundheitsministerium beispielsweise über den Gesundheitsfonds Auskunft gibt, soll das etwa Propaganda sein? Oder wenn der Bundestag an Reichtagsbesucher Broschüren herausgibt, die das Regierungssystem Deutschlands erklären – Propaganda?

Sicher nicht. Aber beide Fälle unterscheiden sich von den Aktionen der EU. Wenn ein Ministerium über komplexe Gesetzesinhalte informiert, dann hat dieses Gesetz bereits die Feuertaufe der kritischen öffentliche Debatte bestanden. Das hat der Lissabon-Vertrag nicht. Er wurde noch nicht überall ratifiziert und sogar schon einmal abgelehnt. Und wenn die Bundesregierung über das deutsche Regierungssystem informiert, ist das auch etwas anderes. Denn dann informiert sie über Institutionen, die seit langem Bestand haben und an deren Legitimität und Akzeptanz durch jahrzehntelange Staatspraxis keine Zweifel bestehen. Im Falle des Lissabon-Vertrag aber geht es darum, Institutionen und Kompetenzen erst zu schaffen. Das eine ist ein faktischer Zustand, das andere ist ein Prozess.

Und über eben diesen Prozess – eine immer tiefere europäische Integration – kann man unterschiedlicher Meinung sein. Wenn die EU Steuergelder dafür ausgibt, eine bestimmte Position in diesem Meinungsstreit zu stärken, und das tut sie, hat das mit neutraler Information nichts zu tun.

Fazit: Ja, die Kommission muss sich den Vorwurf der Propaganda gefallen lassen – vorausgesetzt, wir legen den Begriff der Manipulation weit aus.

 

Nach dem EU-Unfall: Kollektives Wegschauen

Drei Fragen und Gegenfragen zu Europa

Die EU sei nicht bürgernah, schallt es nach dem irischen Nein zum Lissabon-Vertrag aus vielen Ecken. Das mag sein. Aber das ist auch nicht Zweck einer supranationale Organisation. Aufgabe der EU ist es vor allem, Sachpolitik mit Staaten zu machen, keine Gefallpolitik für den Bürger.

„Das Raumschiff Brüssel wird nie landen“, formuliert es der Pressesprecher der FDP im Europaparlament, Axel Heyer. „Es muss schließlich die Übersicht über 27 Länder behalten. Wir brauchen diesen, wenn man so will, Supercomputer, damit das schöne und bunte Europa, das der 27 Flaggen, funktioniert. Dass so ein Raumschiff nicht menschelt, ist doch klar. Es muss allerdings besuchbar bleiben. Und die Journalisten müssen seinen Funkverkehr abhören können.“

Das ist sicher alles sehr zutreffend. Und trotzdem: Es gibt ein Entfremdungsproblem. Uns sogar eines, das mit „mangelnder Bürgernähe“ nur unzureichend beschrieben ist. Das Bild von Europa, an dem die Eurokraten in Brüssel hängen, erscheint gefährlich abgehoben von der Wahrnehmung vieler europäischer Bürger. Besonders augenfällig öffnet sich diese Schere soeben in der Nachlese der irischen Referendums gegen den Lissabon-Vertrag.

Es ist beeindruckend, wie frei sich ein Großteil der europäischen Führungselite nach dem französischen, niederländischen (2005) und irischem Nein noch immer von jedem Selbstzweifel gibt. Die Analysen, die nach dem „No“ aus Dublin in Brüsseler Runden angestellt werden, drohen deswegen in eine Richtung zu gehen, die die Distanz der EU vom Bürger eher noch vergrößern dürfte.

Vollkommen unbeirrrt von der Meinungsäußerung der Iren zeigte sich etwa der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok. In seinen Augen erscheinen Kritiker schlicht als „Europagegner“. Im Europäischen Parlament sagte er gestern: „Mit dem Hinweis auf Schwächen, die aus dem Vertrag von Lissabon resultieren sollen, wollen Europagegner die demokratischen Fortschritte des EU-Reformvertrags verhindern.“ Und: „Mit Lügen versuchten diese Kräfte es, die Bürger zu irritieren.“

Die Iren sind also keine mündigen Bürger, sondern Bauernopfer europafeindlicher Propagandisten. Diese paternalistische Attitüde zieht sich leider quer durch die europäische Führungsetagen. Beispielhaft seien hier drei weitere Zitate wiedergegeben, die in den vergangenen drei Wochen in mein Notizblock wanderten. Sie sollen hier einmal – Achtung: ohne eingebaute Europafeindschaft! – hinterfragt werden.

1. „Wenn 27 Regierungen sich jahrelang Gedanken um den Lissabon-Vertrag gemacht haben und er von vielen Experten ausgearbeitet wurde, dann, finde ich, sollten Sie davon ausgehen, dass die Sache schon in Ordnung ist.“
Deutsche Diplomatin in Dublin

Dazu die Gegenfrage: Könnte man nicht auch genau das Gegenteil für wahrscheinlich halten? Bisweilen fällt es schließlich schon einzelnen Regierungen schwer, Gesetze zu erlassen, die handwerklich sauber und interessengerecht gestaltet sind. Sicher, angesichts des Flickenteppichs, den die EU darstellt, ist es schon eine enorme Errungenschaft, dass sich 27 Nationalstaaten überhaupt auf einen Vertragstext einigen können. Aber haben sich die Regierungen wirklich auf das Bestmögliche geeinigt? Oder waren sie nicht auch von dem Wunsch getrieben, die neue europäische Bedienungsleitung möglichst schnell und störungsfrei durch ihre Parlament zu bekommen – um bloß keine Grundsatzdiskussionen über Europa aufkommen zu lassen?

2. „Das Nein der Iren ist kein Anlass zu Depression. Politik braucht eben auch Führungsstärke. Oder glauben Sie, die Leute hätten dem Gesundheitsfond, der Abschaffung der Pendlerpauschale oder der Einführung des Euro zugestimmt, wenn darüber in Referenden abgestimmt worden wäre?“
Erfahrener EU-Politiker

Gegenfrage: Natürlich ist es richtig, dass es in der repräsentativen Demokratie die gewählten Volksvertreter übernehmen sollen, komplexe Sachverhalte zu durchleuten und anschließend die ihrer Meinung nach richtige Entscheidung zu treffen. Dafür sollte der Wähler den Experten im Parlament in aller Regel sogar dankbar sein. Es gibt nämlich durchaus so etwas wie „rationale Ignoranz“, wie es Meinungsforscher nennen. Sprich: Für den Bürger macht es keinen Sinn, sich mit bestimmten komplexen Fragen auseinanderzusetzen, wenn ihm letztlich Zeit oder Expertise fehlen, sie bis zur Urteilsreife zu durchdringen. Dann ist es besser, sich auf bewährte Sachwalter zu verlassen.
Die Frage ist bloß, ob im Falle das Lissabon-Vertrages (beziehungsweise von Europa-Fragen insgesamt) die repräsentative Demokratie in dieser gewohnten Form funktioniert. Zur Gesundheitsreform oder zum Steuerrecht gibt es Fachleute in jeder Bundestagsfraktion, die sich akribisch mit den Detailfragen der entsprechenden Gesetzgebung auseinander setzen – und die ihre Meinungen gegenüber der Öffentlichkeit kontrovers zum Ausdruck bringen.

Wo aber sind die streitlustigen Fraktionsfachleute für EU-Fragen? Wo sind die Abgeordneten, die sich eingehend mit dem Lissabon-Vertrag auseinander gesetzt und ihre Haltung der Kritik oder Zustimmung aus anderen Fraktionen entgegengesetzt hätten? Wann gab es zuletzt eine Sonntag-Abend-Talkshow über Sinn und Grenzen europäischer Integration – mit (man stelle sich einmal vor!) unterschiedlichen Positionen?

Abgesehen von der Linkspartei (deren Interpretationen des Lissabon-Vertrages schlicht hanebüchen sind) und dem CSU-Abgeordneten Gauweiler (der eher als Outlaw denn als Experte gilt), sind keine Parlamentarier in Erscheinung getreten, die mehr als den üblichen Werbetext über den Lissabon-Vertrag („Mehr Demokratie, mehr Effizienz, mehr Transparenz“) zum Besten gegeben hätten.
Wenn der Bundestag sich also bestenfalls oberflächlich mit wichtigen EU-Grundsatzfragen beschäftigt, ist es dann ein Wunder, wenn viele Bürger den Eindruck gewinnen, das Europäische werde an ihren Sorgen und Interessen vorbei entschieden?

Das Schlimme daran ist, dass die Unlust von Redaktionen und Parlamenten, sich mit dem Lissabon-Vertrag genauer auseinander zu setzen, in gewisser Weise sogar verständlich ist. Schließlich fließt die Meinung des Bundestags letztlich nur in einen Pool von 27 Parlamentsmeinungen ein, ebenso wie ein deutscher Zeitungskommentar nur einen Bruchteil der europäischen Öffentlichkeit erreicht. Brüsseler Angelegenheiten gelten, mit anderen Worten, schon als fait accompli, sobald sie gesetzgeberische Frühreife erreicht haben. Das führt dazu, dass sich jeder einzelne Mitgliedsstaat machtlos wähnt gegenüber dem antizipierten Übergewicht der 26 anderen. Oder sich zumindest nicht in der Pflicht sieht, Widerspruch zu äußern.

Die Verantwortlichkeit für den Lissabon-Vertrag lag, mit anderen Worten, gefühlt nie beim Bundestag. Sondern in der geteilten Verantwortung aller EU-Clubmitglieder. Das ist demokratisch ungesund. In der Sozialpsychologie gibt es ein verwandtes Phänomen, das „kollektive Wegschauen“. Sobald eine größere Menge von potentiell Verantwortlichen bereitsteht (etwa als Helfer bei einem Überfall in der U-Bahn), greift niemand ein, weil jeder denkt, es sei an anderen, etwas zu unternehmen. Experten erklären solche Untätigkeit mit dem „Bystander-Effekt“. Dem Unglück wird nicht abgeholfen, wenn es zu viele potentielle Retter gibt. Wenn sich niemand persönlich gefordert wird, und keiner auf Notsignale reagiert, setzt sich die Einschätzung durch, es liege kein Notfall vor.

Also: Wäre es nicht heilsam, wenn die nationalen Parlamente sich mehr Zivilcourage erlauben würden, um die Anonymität der Veranstaltung EU zu durchbrechen? Sicher, prinzipiell ist die EU ein gutes Projekt. Aber wenn sie als politisch heilig gilt, führt das zu einem gefährlichem Kontroll- und Akzeptanzverlust. Als „verselbständigte Macht der Exekutivgewalt“ hat Karl Marx 1852 den Bonapartismus unter Napoleon III. bezeichnet. Die EU scheint auf dem Weg, eben diese Dynamik zu entfalten.

3. „Auf dem Ratstreffen haben wir uns darauf geeinigt, dass die Betroffenen, die Iren, selbst noch einmal nachdenken sollen.“
Der deutsche EU-Botschafter Edmund Duckwitz

Gegenfrage: Wer sind die Betroffenen des irischen Neins? Bei nüchterner Betrachtung sind es nicht nur die Iren, sondern vor allem die europäischen Staatschefs. Anders gefragt: Müssen wirklich die Iren nachdenken, ob sie etwa falsch gemacht haben? Oder muss nicht zumindest auch das institutionalisierte Europa nachdenken, was es falsch gemacht hat?
Ja, was wäre am Ende, wenn die Iren nicht Nein gesagt haben, weil sie so schlecht über den Vertrag informiert waren, sondern obwohl sie besser als die meisten Kontinenaleuropäer über seine Inhalte Bescheid wussten? Falls es so war, werden sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich auch in einem zweiten Referendum mit „Nein“ stimmen. Wer das nicht möchte, der sollte baldmöglichst eine wirklich wichtige Grundsatzfrage zulassen: Kann man ein überzeugter Europäer sein, ohne vom neuen EU-Vertrag überzeugt zu sein?

 

Finger weg von meinen Fingern! – Juli Zehs Anklage gegen die EU und Otto Schily

Vielleicht wird den meisten Bundestagsabgeordneten erst auffallen, wozu sie am 23. Mai 2007 die Hand gehoben haben, wenn sie sie demnächst selbst auf den Scanner senken müssen. Jeder Deutsche, der einen neuen Reisepass beantragt, muss seit November vergangenen Jahres im Behördenzimmer zwei Fingerabdrücke hinterlassen. Die Fingerabdrücke werden in Form eines flachen Abdrucks im elektronischen Speichermedium des Passes gespeichert. So will es Absatz 4 Satz 1 des neuen Passgesetzes. Aber wollte dies tatsächlich auch die Mehrheit des Parlaments? Oder haben sich die Volksvertreter einwickeln lassen von einem raffinierten Gespinst aus Antiterror-Rhetorik, scheinbar unentrinnbaren europarechtlichen Zwängen und Geschäftsinteressen des damaligen Innenministers Otto Schily (SPD)?

So sieht es die Schriftstellerin Juli Zeh. Deswegen hat sie am Mittwoch dieser Woche, zusammen mit dem Leipziger Rechtsanwalt Frank Selbmann, beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen den biometrischen Pass eingereicht. Für sie sei es, abgesehen von den zahlreichen Missbrauchsmöglichkeiten, die der „ePass“ eröffne, schlicht „eine entwürdigende Vorstellung“, ihre Fingerabdrücke abgeben zu müssen wie eine Kriminelle.

Zehs Verfassungsbeschwerde verspricht nicht nur wegen der Jeanne d’Arc’schen Konstellation – Juli gegen Schily – Dramatik. Sie stellt auch einer immer mächtiger werdenden Europäischen Union die überfällige Frage: Wie hältst Du’s mit den Bürgerrechten? Denn gerade bei den heiklen Fragen der inneren Sicherheit hat sich in Brüssel eine Rechtssetzungspraxis qua Minister-Ukas etabliert, die an nationalen Parlamenten und Öffentlichkeiten vorbei oft unliebsame Tatsachen schafft. Und die damit, wie es die gelernte Juristin Zeh sieht, „den Grundsatz der Gewaltenteilung auf den Kopf stellt.“

Minister hebeln das Parlament aus

So geschehen sei dies etwa am 26. Oktober 2004. Die Innenminister der EU, unter ihnen Otto Schily, treffen sich in Straßburg. Abgeschottet von jeder Opposition, beschließt die Versammlung der Antiterrordenker, biometrische Daten, also Gesichtsfelddaten und Fingerabdrücke, künftig in die Reisepässe aller Mitgliedsstaaten aufzunehmen. Begründet wird dies unter anderem mit der „Harmonisierung der Sicherheitsmerkmale“ in europäischen Reisedokumenten.

Das Europäische Parlament stimmt dem Beschluss am 2. Dezember mit 471 zu 118 Stimmen zu. Auch die deutsche Vorzeige-FDP-Abgeordnete Silvana Koch-Mehrin hebt die Hand zum Ja, im Reigen mit der Mehrheit der europäischen Liberalen.
Fragt man deren Vertreter heute, warum sie eine Entscheidung mittrugen, die im krassen Gegensatz zu ihren Parteigrundsätzen steht, heißt es, die Mitgliedsstaaten hätten „Druck“ gemacht. Gefragt, warum die Liberalen dann nicht wenigsten in Berlin Alarm schlugen, um auf ein brennendes Bürgerrechtsthema aufmerksam zu machen, antwortet ein EP-Abgeordneter: „Brüssel schreit ja durchaus manchmal. Aber wie das bei kleinen Kindern eben so ist – man überhört das Schreien manchmal.“

Dann fragt sich bloß, wozu sich Europa überhaupt ein Parlament als vermeintlichen Watchdog über Vorschläge aus der Kommission leistet. Alexander Alvaro, der sich als FDP-Abgeordneter im Europaparlament damals immerhin der Stimme enthielt, erinnert sich daran, dass seine Einwände auch zuhause, im Berliner Apparat, „nicht recht durchdrangen“. Zum einen sicher, weil kiloschwere Papiere aus der EU-Zentrale ohnehin selten geeignet sind, die Gemüter entfachten. Zum anderen aber, weil, wie es Alvaro formuliert, „wir doch wissen, wie Otto Schily auf Kritik reagiert.“

Die Pass-Verordnung jedenfalls ist nach der Zustimmung des Europaparlaments nicht mehr aufzuhalten. Sie entfaltet laut Artikel 62 EG-Vertrag für alle Mitgliedsländer bindende Wirkung.

Gutachter warnen – ohne Erfolg

Erst jetzt, nachdem eigentlich nichts mehr zu stoppen ist, warnen im Innenausschuss des Bundestages eine Reihe von Gutachtern, der biometrische Pass bringe mehr Unsicherheit als Sicherheit. Kriminelle könnten die Fingerabdruckdaten ausspähen und an Tatorten falsche Spuren hinterlassen, warnt Professor Andreas Pfitzmann von der TU Dresden:

„Fingerabdrücke in Pässen helfen Kriminellen und nicht nur Strafverfolgern. (…) Sie werden polizeiliche Ermittlungen deutlich erschweren. Die Schlussfolgerung aus dieser Sache ist, keine Fingerabdrücke in Pässe. Ich weiß, dass das nicht konform ist zu manchen Dingen, die auf EU-Ebene bereits beschlossen sind. Aber ich halte die Sache für dermaßen kritisch, dass ich denke, dass Sie als nationaler Gesetzgeber einen großen Fehler, den die EU gemacht hat, nicht auch vollziehen sollten. Warum? Die Aufnahme des biometrischen Merkmals ,Fingerabdruck‘ in Pässe und insbesondere seine Prüfung werden Menschen daran gewöhnen, ihre Fingerabdrücke an von ihnen nicht kontrollierbaren Geräten in hoher Qualität abzugeben. Die Menschen werden ihren Fingerabdruck bei vielerlei Gelegenheit abgeben. Damit werden Fingerabdrücke vielen Akteuren zugänglich, z.B. Grenzbeamten, Hoteliers, Läden. Alle diese werden sich dieser Technik anschließen, selbst dann, wenn sie Geräte zur Erfassung von Fingerabdrücken haben, die überhaupt nicht mit dem Pass zusammenarbeiten. Sie werden dort ein Gerät hinstellen und die Fingerabdrücke abnehmen und die Bundesbürger werden ihre Fingerabdrücke dort abgeben, denn sie sind entsprechend konditioniert. Damit haben fremde Geheimdienste und auch Kriminelle nach kurzer Zeit eine große Sammlung von deutschen Fingerabdrücken, und sie werden natürlich von diesen Mitteln in ihrem Sinne Gebrauch machen. Gebrauch machen bedeutet – sie finden die entsprechenden Videos im Internet, ich kann auch gerne die URLs vorlesen, wenn Sie darauf Wert legen -. Sie können mit Fingerabdrücken, mit Bildern von Fingerabdrücken so gute Fingerreplikate herstellen, dass gängige Fingerabdrucksensoren problemlos zu überlisten sind. Schlimmer noch ist, wenn Sie noch ein bisschen Biologie und Chemie kennen, und das ganze mit ein paar Aminosäuren anreichern, dann werden Sie damit am Tatort auch Fingerabdrücke hinterlassen können, die für die Forensik eine große Herausforderung darstellen, ob Sie die von natürlichen Fingerabdrücken unterscheiden können.“

Ausländische Geheimdienste könnten auf diese Weise Bürger anderer Staaten kompromittieren und zur Zusammenarbeit zwingen. Kein Mensch wisse, in welche Hände die Daten im Ausland gelangen könnten.

Es bestehe das Risiko, warnt der Sachverständige Lukas Grunwald, „dass Länder, mit denen die biometrischen Daten einmal geteilt worden sind, diese Zugangsschlüssel speichern können, und später, auch wenn ihnen der geteilte Zugriff auf die biometrischen Daten der Bürger des entsprechenden Schengen-Bereichs aberkannt wird, weiter unberechtigt auf die biometrischen Daten zugreifen können, weil kein Rückrufmechanismus existiert.“
Es müsse beachtet werden, „dass allein das optische Auslesen der maschinenlesbaren Zone genügt, um Informationen zu gewinnen, wie z.B. auch an das biometrische Template, um also an ein perfektes Bild nach biometrischen Maßstäben heranzukommen. Es hilft dabei nicht, wenn diese Informationen nur innerhalb der Bundesrepublik Deutschland sicher sind, schließlich sind ePässe auch dazu da, dass damit verreist wird und diese somit weltweit gewissen Risiken ausgesetzt sind.“

In den USA wäre ein ePass undenkbar

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und Informationsfreiheit, Peter Schaar, gab im Innenausschus des Bundestages zu Protokoll: „Es handelt sich dabei, wie sich das mittlerweile herausgestellt hat, um einen europäischen Sonderweg. Kaum ein Staat auf der Welt ist diesem Weg bisher gefolgt, und ich nehme auch an, dass sich daran nicht viel ändern wird. Selbst die Verfahren, die bei den europäischen ePässen verwendet werden, werden in anderen Staaten, in denen Fingerabdrücke in Pässe aufgenommen werden, nicht angewandt. In den USA wird die Verwendung der Fingerabdrücke aus den von Prof. Pfitzmann genannten Gründen ausdrücklich abgelehnt.“

Zudem räumt selbst die Bundesregierung ein, dass keiner der islamistischen Anschläge, weder der vom 11. September 2001, noch der von Madrid 2004 oder London 2005 sei mit biometrischen Pässen zu verhindern gewesen sei. In einer Parlamentarische Anfrage verlangte die Fraktion Die Linke im Mai 2007 Auskunft auf die Frage:

„Bei wie vielen der durchgeführten oder geplanten und aufgedeckten oder sonst verhinderten vermutlichen terroristischen Anschläge seit dem Jahre 2000 spielten bei Planung und Durchführung gefälschte deutsche Pässe oder Ausweise eine Rolle (bitte aufgeschlüsselt nach Jahren und Anlass darstellen)?“

Die Antwort der Bundesregierung:

„Der Bundesregierung sind keine derartigen Fälle bekannt.“

Trotzallem, das rot-grüne Berlin lässt Schilys Biometrie-Projekt passieren. Nach Schilys Ausscheiden aus dem Bundeskabinett geht der SPD-Abgeordnete zudem eine pikante Geschäftsbeziehung ein. Er steigt als Aufsichtsmitglied bei der bayerischen Firma byometric systems AG ein.

„Schriftsteller sind phantasiebegabt“, erwidert Otto Schily

Juli Zeh pocht in ihrer Verfassungsbeschwerde darauf, dass Schily bislang nicht die Einkünfte öffentlich gemacht habe, die er als Aufsichtsratsmitglied dieses Biometrie-start ups bezogen habe. Auch um die Hintergründe dieses Sachverhalts zu klären, schmiedet Zeh sie in ihrer Klageschrift in schweres juristisches Geschütz um. Sie schreibt:

„Bezüglich des deutschen Vertreters im Europäischen Rat, dem ehemaligen Bundesinnenminister Schily, besteht die Besorgnis der Befangenheit. Otto Schily ist mittlerweile Aufsichtsratsmitglied der Byometric Systems AG, die im Bereich der Grenzkontrolle durch biometrische Erkennung tätig ist. Es ist nicht auszuschließen, dass sich der damalige Innenminister (…) von einem eigenen wirtschaftlichen Interesse leiten ließ.“

Das sei „grotesk“, antwortet Schily. „Schriftsteller sollen bekanntlich besonders phantasiebegabt sein“, entgegnet er gegenüber der ZEIT. „Als Grundlage für Gerichtsentscheidungen taugen Phantasieprodukte aber nicht. Bei der Firma handelt es sich um ein kleines bayerisches start-up-Unternehmen, das sich durch meine Unterstützung bessere Chancen im Export versprochen hat. Eine Vergütung für meine Aufsichtsratstätigkeit habe ich nicht erhalten. Inzwischen bin ich aus dem Aufsichtsrat wieder ausgeschieden. Die Firma byometric systems AG hat außerdem mit dem biometrischen Pass nichts zu tun.“

Schily räumt allerdings ein, dass die Firma in einem Bieter-Verfahren zusammen mit der Firma Bosch den Auftrag erhalten hat, am Frankfurter Flughafen ein Pilotverfahren für eine beschleunigte Grenzabfertigung per Iris-Kontrolle einzurichten.

Und doch es bleibt zu fragen, ob Schily und seine europäischen Ministerkollegen die Kompetenzen der EU nicht überdehnten, als sie den ePass über die Brüsseler Bande in die Mitgliedsstaaten hinein dekretieren – oder ob sie damit gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstießen, sprich: nur das mit Hilfe Europas zu regeln, was tatsächlich europaeinheitlich geregelt werden muss.
Innerhalb der EU, argumentiert Juli Zeh in ihrer Verfassungsbeschwerde, brauche man doch gar keine Reisepässe, um vom einen Land ins andere zu gelangen. Damit „fehlt es vollständig an einem EU-spezifischen Bezug“ der Pass-Verordnung.

Schützt die EU die Grundrechte gut genug?

Interessant wird nun, ob das Bundesverfassungsgericht die Sache überhaupt annimmt. Denn seit 1986 geht das Gericht davon aus, dass der Grundrechtsschutz in der EU im wesentlichen dem deutschen Standard entspricht; solange sich dies nicht ändere, werde Karlsruhe Rechtsakte der EU nicht mehr überprüfen. 22 Jahre lang gingen die Richter also davon aus, die Grundrechte seien in Europa ganz gut aufgehoben. Der grundrechtliche Standard der EU sei dem in Deutschland »im wesentlichen gleichzuachten«, schrieben sie in ihrer berühmten »Solange II-Entscheidung«.

Doch das war eben 1986 – und damit lange vor dem 11. September 2001. Seit den Terrorattacken auf die USA hat sich einiges verändert im europäischen Rechtsdenken – nicht nur in etwa Großbritannien, wo Richter schon Folter und zeitliche unbegrenzte Haft ohne Anklage für hinnehmbar halten. Zugleich erklärte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Klage gegen den europäischen Haftbefehl ohne Umschweife, dass »die nationalstaatliche Schutzpflicht gegenüber dem eigenen Staatsangehörigen (…) zugunsten einer europäischen Zusammenarbeit zurückgenommen« wird.

Es sei für die Karlsruher Richter mithin längst an der Zeit, glaubt Juli Zeh, ihren „Solange“-Standpunkt zu überprüfen. Insbesondere bei Fragen der informationellen Selbstbestimmung böte die europäische Rechtssprechung bei weitem nicht den Standard, der in Deutschland herrsche, argumentiert sie.

Nach der rechtspolitischen Katalysatorwirkung des 11. September 2001 ist eines in der Tat deutlich geworden: Zwar arbeitet die EU immer stärker in der so genannten „Dritten Säule“ (Justiz und Inneres) zusammen, um Europa zu „einem Raum von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit zu machen“. Doch das bedeutet keineswegs, dass sich auch der Grundrechtsschutz veredelt. „Je mehr Kompetenzen wir nach Brüssel verlagern, desto schlimmer wird es“, glaubt Juli Zeh vielmehr – dies gelte umso mehr, als der kürzlich beschlossenen Lissabon-Vertrag in Zukunft mehr europäisches Durchregieren ermöglichen. Tatsächlich hat Karlsruhe sich in jüngerer Zeit schon recht EU-skeptisch gezeigt. 2005 verwarfen die Richter verwarfen sie den Europäischen Haftbefehl, weil er nicht den deutschen Rechtsstaatserfordernissen genügte. Und neben der Klage von Zeh ist derzeit auch eine Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung anhängig, die auf eine EU-Richtlinie zurückgeht

Der Rechtsanwalt Sönke Hilbrans, Vertreter der Deutschen Vereinigung Datenschutz, führt das zunehmende Unbehagen mit solchen Kontroll-Innovationen aus Brüssel auf ein offenkundiges Demokratiedefizit in der Europäischen Union zurück. Im Innenausschuss des Bundestages sagte er:

„Der ePass mit biometrischen Merkmalen einschließlich Fingerabdrücken auf einem RIFD-Chip wird kommen. Der Deutsche Bundestag und sein Innenausschuss zählen eher zu den letzten Gesetzgebungsorganen, die sich damit intensiv befassen können und sollen. Nun ist der ePass und vor allem die Verordnung (EG) Nr. 2252/04 nicht vom Himmel gefallen, sondern sie ist von der Bundesregierung im europäischen Rechtsetzungsprozess mit vorangetrieben worden. Sie erkennen daran, wie beispielsweise auch an der Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten, die ebenfalls auf Gemeinschaftsrecht beruhen soll, dass die Gesetzgebungsorgane in der Bundesrepublik Deutschland mit zu den letzten gehören, die brisante bürgerrechtlich bedeutende Entscheidungen mitverantworten sollen. Man kann das Demokratiedefizit in der Europäischen Union nennen, und dieses Demokratiedefizit bricht sich nicht erst seit der Stärkung der Dritten Säule in der Europäischen Union verstärkt Bahn.“

Der Bundestag lässt sich von Brüssel entmachten

Aber könnten die nationalen Parlamente ihren Ministern nicht Zügel anlegen, um zu verhindern, dass sie solche Prozesse in Europa überhaupt anschieben? Tragen die heimischen Parlamente nicht gehörige Mitschuld an dem fahrlässigen Ausverkauf von nationalen Hoheitsrechten an die Brüsseler Gesetzesschmiede? Im Maastricht-Urteil von 1993 stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass »Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht« weiterhin Sache des Bundestages bleiben müssten. Warum sind sie es nicht mehr? Die Legislative bleibt immerhin der Kontrolleur der Exekutiven, und das Grundgesetz sieht keine Einschränkung dieses Grundsatzes vor, bloß weil es um Fragen der europäischen Integration geht.

Natürlich könnten Bundestagsabgeordnete ihre Minister strenger an deutsche Interessen binden. Selbstverständlich könnte der Bundestag dem jeweiligen Fachminister Weisungen mit auf den Weg nach Brüssel geben. Bisher reisen sie allerdings meist mit Blankoschecks. Das Parlament könnte zudem, wenn sich der Minister an diese Weisungen nicht hielte, die Sache zum Politikum machen.

Doch um dies zu bewerkstelligen, fehlt den Parlamentarien in der Praxis an dreierlei. An der richtigen Information, am richtigen Willen und am richtigen Zeitpunkt. „Natürlich bekommen wir alle Vorlagen aus Brüssel, bevor dort etwas beschlossen wird“, berichtet der rechtspolitische Experte der FDP-Bundestagsfraktion, Max Stadtler. „Aber allein die Fülle dieses Materials erdrückt einen schon.“ Zudem mache es der sprachliche Duktus der Dokumente zu einer echten Herausforderung, das Wesentliche aus ihnen herauszufiltern. „Da gibt es Vorreden, Präambel, Zielbeschreibungen… es ist sehr schwierig herauszufinden, um was es eigentlich geht.“ Sicher, wer hat schon die Muße und die Disziplin, sich durch diese Aktenberge zu wühlen, wenn um einen herum die handfeste deutsche Politik tobt? Und selbst wenn einzelne Abgeordnete diese Mühe auf sich nähmen – wann, fragt Stadtler, wäre für sie eigentlich der Zeitpunkt, aufzuschreien? Wenn Beschlüsse in der Kommission vorbereitet werden, kann der Parlamentarier noch darauf bauen, dass sein nationaler Minister später im Rat die Vorlage abbiegen oder verändern wird. Was dann tatsächlich hinter den verschlossenen Türen des Brüsseler Ratsgebäudes geschieht, bekommt allerdings kein Volksvertreter mit.
Und nach einem dortigen Beschluss müsste es ein Bundestagsabgeordneter schon gegen den erklärten Willen von 27 Ministern der Europäischen Union auflehnen. Fast verständlich, dass auf ein solch quijotische Unterfangen kein Parlamentarier seine Energie verwenden möchte.

Der FDP-Mann Stadtler hält diese Zustände für ein „Kernproblem“ im Umgang mit Europa. „Eine unmittelbare Beteiligung im Sinne eines imperativen Mandats gibt es gegenüber Brüssel nicht.“ Was zu einem Gutteil selbstverschuldet sei. „Das Zeugnis, das ich dem Bundestag in der Europapolitik ausstellen würde, wäre: Er bemüht sich redlich“, bilanziert der Bayer. Auch Stadlers Kollege Wolfgang Bosbach, innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, hält den »marginalen Einfluss« des Bundestags für ein hausgemachtes Problem. »Mit europäischen Themen beschäftigen wir uns viel zu oberflächlich und zu selten«, räumt er ein. »Und dann tun wir so, als fielen Brüsseler Gesetze vom Himmel wie die Zehn Gebote.« Höchste Zeit also, dass die Berliner ihre irdische Instanz stärken.

Um in Zukunft nicht mehr derart überrumpelt zu werden wie es beim biometrischen Pass passierte, will der Bundestag in Brüssel nun ein eigenes Verbindungsbüro aufbauen. Von dort sollen Mitarbeiter, die sich deutschen, nicht europäischen Ideen verpflichtet sind, die relevanten Vorlagen durchforsten und Berlin vorwarnen, falls Unheil dräut. Genau dies wäre eigentlich Aufgabe der Europaparlamentarier. Doch diese sind ihren Berliner Pendants offenbar so suspekt wie eine Horde scheuklappenbewehrter EU-Lobbyisten. Die Kommunikation zwischen Bundestag und Europaparlament „gestört“ zu nennen, wäre noch eine wohlmeinende Übertreibung.

„Ich war immer ein großer Freund der europäischen Idee“, sagt Juli Zeh, die Autorin der bisher wohl schärfsten Anklage gegen die unkontrollierten Rechtsdurchgriffe der EU, „aber jetzt wird’s mir doch ein bisschen gruselig.“