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Nach dem EU-Unfall: Kollektives Wegschauen

 

Drei Fragen und Gegenfragen zu Europa

Die EU sei nicht bürgernah, schallt es nach dem irischen Nein zum Lissabon-Vertrag aus vielen Ecken. Das mag sein. Aber das ist auch nicht Zweck einer supranationale Organisation. Aufgabe der EU ist es vor allem, Sachpolitik mit Staaten zu machen, keine Gefallpolitik für den Bürger.

„Das Raumschiff Brüssel wird nie landen“, formuliert es der Pressesprecher der FDP im Europaparlament, Axel Heyer. „Es muss schließlich die Übersicht über 27 Länder behalten. Wir brauchen diesen, wenn man so will, Supercomputer, damit das schöne und bunte Europa, das der 27 Flaggen, funktioniert. Dass so ein Raumschiff nicht menschelt, ist doch klar. Es muss allerdings besuchbar bleiben. Und die Journalisten müssen seinen Funkverkehr abhören können.“

Das ist sicher alles sehr zutreffend. Und trotzdem: Es gibt ein Entfremdungsproblem. Uns sogar eines, das mit „mangelnder Bürgernähe“ nur unzureichend beschrieben ist. Das Bild von Europa, an dem die Eurokraten in Brüssel hängen, erscheint gefährlich abgehoben von der Wahrnehmung vieler europäischer Bürger. Besonders augenfällig öffnet sich diese Schere soeben in der Nachlese der irischen Referendums gegen den Lissabon-Vertrag.

Es ist beeindruckend, wie frei sich ein Großteil der europäischen Führungselite nach dem französischen, niederländischen (2005) und irischem Nein noch immer von jedem Selbstzweifel gibt. Die Analysen, die nach dem „No“ aus Dublin in Brüsseler Runden angestellt werden, drohen deswegen in eine Richtung zu gehen, die die Distanz der EU vom Bürger eher noch vergrößern dürfte.

Vollkommen unbeirrrt von der Meinungsäußerung der Iren zeigte sich etwa der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok. In seinen Augen erscheinen Kritiker schlicht als „Europagegner“. Im Europäischen Parlament sagte er gestern: „Mit dem Hinweis auf Schwächen, die aus dem Vertrag von Lissabon resultieren sollen, wollen Europagegner die demokratischen Fortschritte des EU-Reformvertrags verhindern.“ Und: „Mit Lügen versuchten diese Kräfte es, die Bürger zu irritieren.“

Die Iren sind also keine mündigen Bürger, sondern Bauernopfer europafeindlicher Propagandisten. Diese paternalistische Attitüde zieht sich leider quer durch die europäische Führungsetagen. Beispielhaft seien hier drei weitere Zitate wiedergegeben, die in den vergangenen drei Wochen in mein Notizblock wanderten. Sie sollen hier einmal – Achtung: ohne eingebaute Europafeindschaft! – hinterfragt werden.

1. „Wenn 27 Regierungen sich jahrelang Gedanken um den Lissabon-Vertrag gemacht haben und er von vielen Experten ausgearbeitet wurde, dann, finde ich, sollten Sie davon ausgehen, dass die Sache schon in Ordnung ist.“
Deutsche Diplomatin in Dublin

Dazu die Gegenfrage: Könnte man nicht auch genau das Gegenteil für wahrscheinlich halten? Bisweilen fällt es schließlich schon einzelnen Regierungen schwer, Gesetze zu erlassen, die handwerklich sauber und interessengerecht gestaltet sind. Sicher, angesichts des Flickenteppichs, den die EU darstellt, ist es schon eine enorme Errungenschaft, dass sich 27 Nationalstaaten überhaupt auf einen Vertragstext einigen können. Aber haben sich die Regierungen wirklich auf das Bestmögliche geeinigt? Oder waren sie nicht auch von dem Wunsch getrieben, die neue europäische Bedienungsleitung möglichst schnell und störungsfrei durch ihre Parlament zu bekommen – um bloß keine Grundsatzdiskussionen über Europa aufkommen zu lassen?

2. „Das Nein der Iren ist kein Anlass zu Depression. Politik braucht eben auch Führungsstärke. Oder glauben Sie, die Leute hätten dem Gesundheitsfond, der Abschaffung der Pendlerpauschale oder der Einführung des Euro zugestimmt, wenn darüber in Referenden abgestimmt worden wäre?“
Erfahrener EU-Politiker

Gegenfrage: Natürlich ist es richtig, dass es in der repräsentativen Demokratie die gewählten Volksvertreter übernehmen sollen, komplexe Sachverhalte zu durchleuten und anschließend die ihrer Meinung nach richtige Entscheidung zu treffen. Dafür sollte der Wähler den Experten im Parlament in aller Regel sogar dankbar sein. Es gibt nämlich durchaus so etwas wie „rationale Ignoranz“, wie es Meinungsforscher nennen. Sprich: Für den Bürger macht es keinen Sinn, sich mit bestimmten komplexen Fragen auseinanderzusetzen, wenn ihm letztlich Zeit oder Expertise fehlen, sie bis zur Urteilsreife zu durchdringen. Dann ist es besser, sich auf bewährte Sachwalter zu verlassen.
Die Frage ist bloß, ob im Falle das Lissabon-Vertrages (beziehungsweise von Europa-Fragen insgesamt) die repräsentative Demokratie in dieser gewohnten Form funktioniert. Zur Gesundheitsreform oder zum Steuerrecht gibt es Fachleute in jeder Bundestagsfraktion, die sich akribisch mit den Detailfragen der entsprechenden Gesetzgebung auseinander setzen – und die ihre Meinungen gegenüber der Öffentlichkeit kontrovers zum Ausdruck bringen.

Wo aber sind die streitlustigen Fraktionsfachleute für EU-Fragen? Wo sind die Abgeordneten, die sich eingehend mit dem Lissabon-Vertrag auseinander gesetzt und ihre Haltung der Kritik oder Zustimmung aus anderen Fraktionen entgegengesetzt hätten? Wann gab es zuletzt eine Sonntag-Abend-Talkshow über Sinn und Grenzen europäischer Integration – mit (man stelle sich einmal vor!) unterschiedlichen Positionen?

Abgesehen von der Linkspartei (deren Interpretationen des Lissabon-Vertrages schlicht hanebüchen sind) und dem CSU-Abgeordneten Gauweiler (der eher als Outlaw denn als Experte gilt), sind keine Parlamentarier in Erscheinung getreten, die mehr als den üblichen Werbetext über den Lissabon-Vertrag („Mehr Demokratie, mehr Effizienz, mehr Transparenz“) zum Besten gegeben hätten.
Wenn der Bundestag sich also bestenfalls oberflächlich mit wichtigen EU-Grundsatzfragen beschäftigt, ist es dann ein Wunder, wenn viele Bürger den Eindruck gewinnen, das Europäische werde an ihren Sorgen und Interessen vorbei entschieden?

Das Schlimme daran ist, dass die Unlust von Redaktionen und Parlamenten, sich mit dem Lissabon-Vertrag genauer auseinander zu setzen, in gewisser Weise sogar verständlich ist. Schließlich fließt die Meinung des Bundestags letztlich nur in einen Pool von 27 Parlamentsmeinungen ein, ebenso wie ein deutscher Zeitungskommentar nur einen Bruchteil der europäischen Öffentlichkeit erreicht. Brüsseler Angelegenheiten gelten, mit anderen Worten, schon als fait accompli, sobald sie gesetzgeberische Frühreife erreicht haben. Das führt dazu, dass sich jeder einzelne Mitgliedsstaat machtlos wähnt gegenüber dem antizipierten Übergewicht der 26 anderen. Oder sich zumindest nicht in der Pflicht sieht, Widerspruch zu äußern.

Die Verantwortlichkeit für den Lissabon-Vertrag lag, mit anderen Worten, gefühlt nie beim Bundestag. Sondern in der geteilten Verantwortung aller EU-Clubmitglieder. Das ist demokratisch ungesund. In der Sozialpsychologie gibt es ein verwandtes Phänomen, das „kollektive Wegschauen“. Sobald eine größere Menge von potentiell Verantwortlichen bereitsteht (etwa als Helfer bei einem Überfall in der U-Bahn), greift niemand ein, weil jeder denkt, es sei an anderen, etwas zu unternehmen. Experten erklären solche Untätigkeit mit dem „Bystander-Effekt“. Dem Unglück wird nicht abgeholfen, wenn es zu viele potentielle Retter gibt. Wenn sich niemand persönlich gefordert wird, und keiner auf Notsignale reagiert, setzt sich die Einschätzung durch, es liege kein Notfall vor.

Also: Wäre es nicht heilsam, wenn die nationalen Parlamente sich mehr Zivilcourage erlauben würden, um die Anonymität der Veranstaltung EU zu durchbrechen? Sicher, prinzipiell ist die EU ein gutes Projekt. Aber wenn sie als politisch heilig gilt, führt das zu einem gefährlichem Kontroll- und Akzeptanzverlust. Als „verselbständigte Macht der Exekutivgewalt“ hat Karl Marx 1852 den Bonapartismus unter Napoleon III. bezeichnet. Die EU scheint auf dem Weg, eben diese Dynamik zu entfalten.

3. „Auf dem Ratstreffen haben wir uns darauf geeinigt, dass die Betroffenen, die Iren, selbst noch einmal nachdenken sollen.“
Der deutsche EU-Botschafter Edmund Duckwitz

Gegenfrage: Wer sind die Betroffenen des irischen Neins? Bei nüchterner Betrachtung sind es nicht nur die Iren, sondern vor allem die europäischen Staatschefs. Anders gefragt: Müssen wirklich die Iren nachdenken, ob sie etwa falsch gemacht haben? Oder muss nicht zumindest auch das institutionalisierte Europa nachdenken, was es falsch gemacht hat?
Ja, was wäre am Ende, wenn die Iren nicht Nein gesagt haben, weil sie so schlecht über den Vertrag informiert waren, sondern obwohl sie besser als die meisten Kontinenaleuropäer über seine Inhalte Bescheid wussten? Falls es so war, werden sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich auch in einem zweiten Referendum mit „Nein“ stimmen. Wer das nicht möchte, der sollte baldmöglichst eine wirklich wichtige Grundsatzfrage zulassen: Kann man ein überzeugter Europäer sein, ohne vom neuen EU-Vertrag überzeugt zu sein?