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Die Aufweichung deutscher Rechtsstandards

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Teil III des Lissabon Watch

Was könnte sich mit dem Lissabon-Vertrag schon bei der nächste Fußballeuropameisterschaft ändern? Oder bei den Olympischen Spielen – sollten sie irgendwann einmal wieder in einem EU-Land stattfinden? Oder beim nächsten G8-Gipfel?
Vielleicht kommt ja die Regierung im Gastgeberland dankbar auf einen Dreh, den der neue EU-Vertrag eröffnet. Nämlich Polizisten aus dem Ausland, und zwar nicht nur aus dem unmittelbaren Nachbarland, im Inland einzusetzen. Gemäß dieser Möglichkeit aus dem Lissabon-Vertrag:

Der Rat legt gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren fest, unter welchen Bedingungen und innerhalb welcher Grenzen die in den Artikeln 82 und 87 genannten zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats in Verbindung und in Absprache mit dessen Behörden tätig werden dürfen. Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments.
(Artikel 89 AEUV)

Rumänische Polizisten in Deutschland? Italienische Carabinieri beim Oktoberfest? Das sind spannende Vorstellungen. Vor allem aber sind sie mit der Rechtsstaatsgarantie des Grundgesetzes unvereinbar. Ausländische Polizisten sind schließlich nicht im deutschen Polizeirecht ausgebildet. Das ist aber eine ebenso selbstverständliche wie unverzichtbare Bedingung, um mit Exekutivgewalt deutschen Bürgern in ihrem Heimatland gegenüberzutreten.

Polizeirecht ist nicht mit Miet-, Kauf- oder Reiserecht vergleichbar. Es enthalt zusammen mit dem Strafrecht die tiefsten Eingriffsbefugnisse in Bürgerrechte, die dem Staat erlaubt sind. Die Voraussetzungen und Grenzen dieser Eingriffe selbst zu definieren, gehört zu den vornehmsten Rechten des demokratischen Souveräns.

Weiß jemand, unter welchen Bedingungen in Italien eine Demonstration aufgelöst werden kann? Wann in Rumänien Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt werden dürfen? Wie in Frankreich der finale Rettungsschuss geregelt ist? Ob man in Spanien ein paar Gramm Haschisch dabei haben darf? Nein? Genauso wenig werden die ausländischen Beamten die deutsche Rechtslage kennen, zumal sie noch von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich ausgestaltet ist. Manch einer, der im Ausland schon einmal mit Polizisten zu tun hatte, weiß was er an den gründlich geschulten Beamten in Deutschland hat.

Natürlich, lässt sich einwenden, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sich im Europäischen Rat (der Versammlung der EU-Regierungschefs) eine einstimmige Mehrheit für einen Polizeiaustausch findet. Aber das muss auch gar nicht geschehen. Es reicht laut Lissabon-Vertrag aus, wenn sich ein Drittel aller Staaten über solche Austauschprogramme einig werden, also neun. Diese können dann beschließen, bei der „operativen Polizeizusammenarbeit“ eine „verstärkte Zusammenarbeit“ (im Sinne des Artikel 20 EUV) einzugehen. In diesem Fall entfällt auch die Zustimmungspflicht des Europäischen Parlaments.

Unter denselben Voraussetzungen kann der Rat zudem eine „Europäische Staatsanwaltschaft“ einsetzen. Mit anderen Worten: Findet sich eine Koalition aus einem Drittel der EU-Staaten, können diese ihre Polizeien und Strafverfolgungsbehörden verschmelzen.

Dies ist eine Konsequenz aus Wunsch der EU-Regierungschefs, die Justiz- und Innenpolitik weitgehend zu harmonisieren. Auf den ersten Blick entsprechen sich damit den Erwartungen vieler Bürger an die Europäische Union. 81 Prozent der Europäer möchten, dass sich die EU stärker der Terrorismusbekämpfung annimmt, 60 Prozent finden, sie könne bei der Verbrechensbekämpfung mehr tun. So steht es nun auch im neuen Vertrag. Die entsprechende Ermächtigungsnorm lautet:

Die Union wirkt darauf hin, durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung und Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den anderen zuständigen Behörden sowie durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.
(Art. 67 Abs. 3 AEUV)

Statt durch Rahmenbeschlüsse (= gesetzgeberische Anregung an die Einzelstaaten) kann die EU auf diesem Feld künftig durch Verordnungen (= unmittelbar geltendes Recht) und Richtlinien (= Beschlüsse, die von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssen) aktiv werden. Für die Zusammenarbeit in der Justiz und Innenpolitik wird die Mehrheitsentscheidung im Rat zur Regel („ordentliches Gesetzgebungsverfahren“). Dies bedeutet, dass einzelne Staaten künftig bei sensiblen Rechtssachverhalten überstimmt werden können. Zwar muss das Europäische Parlament zustimmen, bevor solche Gesetze in Kraft treten. Doch das Parlament agiert nicht als Interessenvertreter einzelner Länder. Selbst wenn alle 99 deutschen Parlamentarier gegen einen Vorschlag des Rats stimmen sollten – es blieben noch fast 700 Abgeordnete, von denen sie überstimmt werden könnten. Für kleinere Länder sieht es noch schlechter aus.

In einer Analyse des Lissabon-Vertrages kommt die Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) zu dem Ergebnis, mit diesen Regelungen werde die „schrittweise Supranationalisierung der europäischen Justiz- und Innenpolitik“ fortgeführt.

Das ist natürlich einerseits gut für Wirtschaft und Handel. Andererseits soll die Anerkennung von Urteilen nicht auf das Zivilrecht beschränkt bleiben, sondern auch auf das Strafrecht ausgedehnt werden. Und das ist schlecht für die Rechtssicherheit in Europa. Oder möchten wir wirklich, dass jedes in Italien, Bulgarien oder Rumänien erwirktes Strafurteil in Deutschland anerkannt wird? In allen drei Ländern erweisen sich Richter und Staatsanwälte bis heute als käuflich.

Falls der Lissabon-Vertrag, der ehemalige „Europäische Verfassung“ am 1. Januar 2009 in Kraft tritt, wird sich immerhin eines ändern: Die Ratssitzungen der Minister werden öffentlich. Überrollt werden von innovativer Rechtspolitik kann die Öffentlichkeit freilich dann auch weiterhin.

“Der Kommission fehlt einfach ein Überblick über die unterschiedlichen Rechtslagen in den 27 Mitgliedsländern”, sagt ein Experte für europäische Justizangelegenheiten in Brüssel. „Die übersehen dann schon mal Besonderheiten, die hier und dort herrschen.“

Natürlich kann die Bundesregierung solche Ideen aufhalten – Deutschlands Stimme hat im Rat schließlich Gewicht. Doch eine Intervention setzt voraus, dass die Bundesregierung auch mitbekommt, was sich in Brüssel anbahnt. Und dass sie es aufhalten möchte.

Bei europäischen Harmonisierungen der Rechtspolitik sieht der Lissabon-Vertrag zwar eine „Notbremse“ vor. Im Original heißt es:

Ist ein Mitglied des Rates der Auffassung, dass ein Entwurf einer Richtlinie nach Absatz 2 grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung beruhren wurde, so kann es beantragen, dass der
Europaische Rat befasst wird. In diesem Fall wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt.

(Art. 82 Abs.3 AEUV)

Doch was genau sind „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung“? Dies zu interpretieren, wäre eigentlich Sache der nationalen Parlamente. In Europa bleibt es den Fachministern im Rat vorbehalten – doch sind aller Erfahrung nach eher von Effizienzgedanken getrieben. Zudem, die Folge einer „Notbremsung“ in Brüssel bestünde lediglich darin, dass das Gesetzgebungsverfahren für höchstens vier Monate ausgesetzt würde.

Unklar ist auch noch, welche Rechtsschutzmöglichkeiten die EU dem Bürger parallel zu ihren wachsenden Kompetenzen, etwa bei der Terrorismusbekämpfung, einräumt. „Diese Frage wird in der Tat noch nicht richtig debattiert“, sagt Sarah Seeger vom Münchner CAP. „Ein Versuch, Schutz zu bieten, ist die Einrichtung eines europäischen Datenschutzbeauftragten. Aber hier gibt es aber Probleme – die parlamentarische Kontrolle muss weiter gestärkt werden.“

Weit auseinander gehen auch die Vorstellungen in den einzelnen Staaten darüber, welches Verhalten überhaupt strafbar sein soll. Der EU-Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung aus dem Jahr 2002 zum Beispiel sieht vor, auch so genannte „Aufforderungstaten“ unter Strafe zu stellen, also etwa die Billigung und Aufforderung zu Straftaten. Darunter sollen nach jüngsten Vorschlägen der slowenischen Ratspräsidentschaft auch “bestimmte Formen rassistischer Meinungsäußerungen und Fremdenfeindlichkeit“ gehören.

Derart normative Begriffe ins Strafrecht aufzunehmen, ist gefährlich. Denn nicht alles, was als Meinungsäußerung abstoßend ist, darf auch bestraft werden. Was ist rassistisch? Was ist fremdenfeindlich?Was ist einfach nur eine primitive Haltung? Das Strafrecht ist dazu da, Rechtsgüter zu schützen; die Würde und Unversehrtheit von Menschen, zum Beispiel. Es ist aber nicht dazu da, xenophobe Menschen für ihre Beschränkheit zu bestrafen. Das war bisher in Deutschland nicht so, und auch Großbritannien hielt die Meinungsfreiheit auch der Dummen für schwer einschränkbar. Künftig aber könnte aus Brüssel eine Anweisung an alle Mitgliedsstaaten ergehen, diese Einstellung zu ändern – durch einen, wie gesagt, Mehrheitsbeschluss im Rat.

Mit dem Vertrag von Lissabon erhält die EU desweiteren die Möglichkeit, über die Ausgestaltung von Pässen und Personalausweisen zu bestimmen. Dazu sind allerdings weiterhin ein einstimmiger Ratsbeschluss sowie eine Anhörung des Europäischen Parlaments erforderlich.

Erscheint zur Erleichterung der Ausübung des in Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe a genannten Rechts ein Tätigwerden der Union erforderlich, so kann der Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente erlassen, sofern die Verträge hierfür anderweitig keine Befugnisse vorsehen.
(Art. 77 Abs. 3 AEUV)

Das freilich ist eine fragwürdige Kompetenzzuordnung. Schließlich benötigt man innerhalb der EU doch gar keine Reisepässe mehr. Welchem Integrationsziel soll es also dienen, wenn die EU eine Zuständigkeit für das Passwesen reklamiert? Für einen Mitgliedsstaat, in dem es keine Personalausweise, sondern nur Pässe gibt, ergäbe das Sinn. Doch Großbritannien, auf den das zutrifft, ist ohnehin nicht Teil des Schengenraums.

„Bei der Justiz- und Innenpolitik zeigt sich eine ungeheure Integrationsdynamik“, sagt die EU-Expertin Sarah Seeger vom Münchner CAP. „Diese kann durchaus im Spannungsverhältnis zum Subsidiaritätsgedanken stehen.“

Bliebe als juristischer Watchdog der Europäische Gerichtshof (EUGH). Er überprüft bei Klagen unter anderem die Übereinstimmung von EU-Rechtsakten mit der Europäischen Grundrechtscharta. Ob er allerdings zu einer ähnlich vorbildlichen Interpretation der Grundrechte wie deutsche Bundesverfassungsgericht, muss er erst noch beweisen.

Von der EU sollte man im Bereich Inneres und Justiz eine Politik des höchsten Standards erwarten. Genau dies aber wird durch den Lissabon-Vertrag unwahrscheinlicher. Denn je gemeinsamer die Nenner werden, desto kleiner werden sie auch.

 

Selbstentmachtung der Nationen?

tropfen-eu-artikel-210.jpgTeil II des Lissabon Watch

Ein wichtiges Ziel des Lissabon-Vertrags war es, die Kompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedsländern klarer zu regeln. Das ist nicht gelungen. Stattdessen bekommt die EU die Möglichkeit, immer mehr Politikbereiche an sich zu ziehen.

Die Gesetzgebungsverteilung zwischen Mitgliedsländern und EU lässt sich in drei Bereiche einteilen. Da ist einmal das, was die EU ausdrücklich regeln darf („Ausschließliche Gesetzgebung“). Zum Zweiten das, was die EU regeln kann („Geteilte Gesetzgebung“). Und schließlich das, was die EU nicht darf, die ureigenen nationalen Bereiche (bisher beispielsweise die Steuer- und Sozialpolitik).

Besonders wichtig sind im Lissabon-Vertrag die Rechtssetzungsregelungen innerhalb der so genannten „Geteilten Kompetenzen“. Sie sehen vor, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten nur noch dann tätig werden können, wenn und soweit nicht bereits die EU tätig geworden ist.

Übertragen die Vertrage der Union für einen bestimmten Bereich eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit, so können die Union und die Mitgliedstaaten in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Die Mitgliedstaaten nehmen ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat.
(Art. 2 Abs.2 AEUV, Hervorhebung JB)

Diese Kompetenzzuweisung beschert der EU die Möglichkeit, ihre gesetzgeberische Prämisse beständig zu erweitern, denn sie ist eine, wenn man so möchte, Kompetenz qua Initiave.

Die „geteilte Kompetenz“ ist mit der der konkurrierenden Gesetzgebung in Deutschland, also der zwischen Bund und Ländern (Art. 72 Grundgesetz), vergleichbar. Laut Grundgesetz haben in vielen Feldern die Länder die Gesetzgebungskompetenz, solange und soweit der Bund nicht von ihr Gebrauch macht. Wie sich diese Regelung praktisch ausgewirkt hat, ist bekannt. Der Bund hat die allermeisten Kompetenzen an sich gezogen. Den Ländern blieb ein Minimum.

Tatsächlich ist die „geteilte Kompetenz“ nach dem Vorbild der konkurrierenden Gesetzgebung aus dem deutschen Grundgesetz in den Vertrag von Lissabon aufgenommen worden. „Das wurde entschieden, bevor wir in Deutschland gemerkt haben, dass wir eine Föderalismusreform brauchen“, sagt ein Abgesandter eines Bundeslandes in Brüssel. „Statt aus den deutschen Fehler zu lernen, hat Europa diesen deutschen Fehler in den Vertrag übernommen.“

Zwar listet der Lissabon-Vertrag ausdrücklich diejenigen Bereiche auf, in denen die „geteilte Kompetenz“ gelten soll. Eine rote Linie für die Brüsseler Gesetzgebung folgt daraus jedoch nicht. So kann die EU unter anderem das Ziel „wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ (Art. 4 Abs.2 Ziffer d AEUV) für sich reklamieren. Diese Formulierung ist derart generalklauselhaft, dass es schwerfällt, sich Sachverhalte vorzustellen, die mit ein bisschen politischer Phantasie nicht unter diese Definition fallen könnten.

Im Vertrag ausdrücklich aufgeführt sind des Weiteren der gemeinsame Binnenmarkt, die Sozialpolitik, „der gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, Kohäsion, Landwirtschaft, Umwelt, Verbraucherschutz, Transeuropäische Netze, Verbraucherschutz, Energie, öffentliche Gesundheit.

Damit wird das Feld der EU-Zuständigkeiten, einfach ausgedrückt, so weit abgesteckt, dass es eigentlich keinen Lebensbereich mehr gibt, der nicht erfasst wäre.

Ein Beispiel: Mit dem Gemeinschaftsziel „Binnenmarkt“ ließe sich auch ein Europäisches Zentralabitur rechtfertigen. Es würde Familien innerhalb der EU schließlich den Wechsel des Arbeitsortes erleichtern, wenn ihre Kinder sich in jedem Land gleichermaßen auf ihre Abschlüsse vorbereiten könnten und ihre Qualifikationen von Schweden bis Sizilien gleichermaßen anerkannt würden. Dies würde die Mobilität und Arbeitskräfteaustausch innerhalb Europas, ergo den Binnenmarkt, fördern.

Natürlich ist bei all dem zu bedenken, dass die Mitgliedsstaaten die Herren des Verfahrens und der Verträge bleiben. Die EU ist kein gespenstischer Akteur. Sie ist immer der erklärte Gemeinschaftswille ihrer Mitglieder. Von einer Selbstentmachtung zu sprechen, wäre daher übertrieben. Treffender ist es, davon zu sprechen, dass die Mitgliedstaaten sich darauf geeignet haben, immer größere Teile ihrer Souveränität gemeinsam auzuüben.
Der Gruppendruck auf jede Nation aber, ihre Souveränitätsrechte immer großzügiger in den Brüsseler Pool zu werfen, zum Wohle des großen europäischen Ganzen, nimmt mit dem Lissabon-Vertrag eher zu als ab.

Denn anders als mit dem Vertrag ursprünglich beabsichtigt, ergibt sich dem Lissabon-Vertrag auch weiterhin ,„kein ganz klares Bild der Kompetenzen der Europäischen Union“, resümiert die EU-Expertin am Münchner Centrum für angewandte Politikforschung (CAP), Sarah Seeger.

Viele Brüsseler Kommissionsbeamte lächeln schon heute nur noch freundlich über das Subsidiaritätsprinzip. Es besagt, dass die EU nur das regeln soll, was sie besser regeln kann als die einzelnen Mitgliedsstaaten. Mit dem Lissabon-Vertrag verabschiedet sich die EU mehr oder weniger offen von diesem Leitgedanken.

Die EU ist ein historisches Experiment, und bisher ist es beeindruckend erfolgreich verlaufen. Doch es scheint, die Union wolle einfach nicht inne halten, um die Ergebnisse des bisherigen Verlaufs zu analysieren. Stattdessen fällt es ihr immer schwerer, das Experiment abzubrechen – oder zumindest eine Denkpause einzulegen.

„Ich vergleiche die Wirkung der EU immer mit einem Kiesel, den man ins Wasser wirft“, sagt ein Brüsseler Diplomat. „Die Kreise werden immer größer. Je mehr man anfängt zu regeln, desto mehr Regelungsbedarf gibt es.“

 

Was Sie nie über das neue Europa wissen wollten. Aber sollten

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Mit dem Lissabon-Vertrag über die Europäische Union ist es wie mit der Bibel vor der Erfindung des Buchdrucks. Jeder hat schon einiges davon gehört und glaubt ungefähr zu wissen, was drinsteht. Aber weil die ganze dicke Schrift viel zu kompliziert ist um sie gänzlich zu verstehen, verlässt sich für die Interpretation jeder auf seine persönlichen Priester.

Für die einen ist es die Bundesregierung.
Für die anderen die EU-Kommission.
Für wieder andere die Tagespresse.
Oder der EU-Rebell Peter Gauweiler.

Dieser Blog will in einer kleinen Serie versuchen, einen eigenen, kritischen Blick auf das 450-Seitenwerk zu werfen, das die Europäische Union an Haupt und Gliedern straffen soll.

Denn der Countdown läuft.

Am 12. Juni stimmen die Iren in einem Referendum über den Vertrag ab. Sie sind das einzige Volk Europas, das nach seiner Meinung über den Lissabon-Vertrag gefragt wird. In den übrigen 26 Mitgliedsstaaten entscheiden die Parlamente. In Deutschland haben Bundestag und Bundesrat bereits zugestimmt. Anders als in Irland sind die meisten Festlandeuropäer völlig unterinformiert über die Auswirkungen der neuen Bedienungsanleitung für Europa. Das ist bedenklich, denn der Vertrag verändert eine Menge. Und vieles davon wäre es wert, dem Feuer einer kritischen öffentlichen Debatte ausgesetzt zu werden.

Um – wenn auch etwas verspätet – eine solche Diskussion anzustoßen, will sich dieser Blog in den kommenden Tagen folgender, durchaus provokant gemeinter Fragen annehmen:

I. Welche sind die grundlegenden Änderungen, die der Lissabon-Vertrag bringt?

II. Entmachten sich die Mitgliedsstaaten selbst, wenn sie den Vertrag unterzeichnen?

III. Droht mit dem Lissabon-Vertrag die Verwässerung deutscher Rechtsstandards?

IV. Stärkt der Lissabon-Vertrag die EU wirklich als Global Player?

V. Bringt der Lissabon-Vertrag wirklich mehr Demokratie?

Widerspruch ist willkommen.

Wir beginnen mit der ersten Frage:

I. Welche sind die grundlegenden Änderungen, die der Lissabon-Vertrag bringt?

Fangen wir mit den Veränderungen an, die der Lissabon-Vertrag an der demokratischen Architektur des Kontinents bewirkt. In zwei Sätzen lautet sie: Die horizontale Demokratie in Europa, also diejenigen zwischen den 27 Staaten, wird gestärkt. Die vertikale Demokratie, also die vom Bürger zur gesetzgebenden Instanz, wird geschwächt.

Im Europäischen Rat, also dort, wie die Staats- und Regierungschefs oder die Fachminister zusammenkommen, um verbindliche Beschlüsse für die EU zu fassen, soll künftig auch in Bereichen, die in Grundrechte eingreifen, mit Mehrheit entschieden werden. Bisher war die europäische Fortentwicklung in diesem Bereich auf Einstimmigkeit angelegt. Künftig aber kann eine Mehrheit von Staaten (die auch 65 Prozent der Einwohner Europas stellen müssen), verbindliche Entscheidungen treffen.

Denkbar ist daher, dass einzelne Länder in Bereichen überstimmt werden, die traditionell zu den Kernkompetenzen der Nationalstaaten gehörten. Namentlich in der Justiz- und Innenpolitik. Zwar neigt Brüssel traditionell zu einvernehmlichen Lösungen. Aber im Konfliktfall ist es denkbar, dass künftig fremde Staaten darüber entscheiden, ob der eigene Staat ein weiteres Stück Souveränität abgibt.

Möglicherweise bringt dieses Verfahren gerade für Deutschland mehr Nutzen als Schaden. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass das größte Gründungsland der EU überstimmt wird, ist gering. Gleichwohl setzt der Lissabon-Vertrag ein staatspolitischen Experiment in Gang, das historisch beispiellos ist.

Er sieht vor, dass die EU Staaten sich gegenüber einander so verhalten wie ein Demos, eine Bürgerschaft von Staaten. In dieser kann es ebenso Gewinner wie Verlierer geben.

Zwar versucht der Vertrag, diesen Effekt zu mildern, indem es jedem Staat bestimmte Einspruchsrechte gegen die neuen Verfahren an die Hand gibt. Über diese werden wir noch mehr erfahren. Doch diese Notbremsen reichen nicht aus, um Beschlüsse, die eine Ratsmehrheit unbedingt durchsetzen möchte, tatsächlich zu stoppen.

Mit dem Lissaboner Vertrag wird deutlicher, was die EU eigentlich ist, ja, vielleicht sein muss, wenn sie sich in der Welt beweisen will: Eine Demokratiendemokratie, eine Gouvermentaldemokratie oder schlicht: eine Polikratie, eine Herrschaft der Staaten.

Eine kleine und wichtig Einschränkung allerdings (die oft unterschlagen wird) gleich vorweg: Das Prinzip der doppelten Mehrheit im Rat tritt erst ab 2014 in Kraft – eine Folge polnischer Obstruktion während der Schlussphase der Verhandlungen. Die wichtigsten Auswirkungen des Lissabon-Vertrags werden also noch eine ganze Weile auf sich warten lassen. Wir tun in den nächsten Tagen aber einfach einmal so, als würde alles schon morgen passiert. Sonst wird’s wirklich viel zu kompliziert…