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Norwegen-Tour: Bei minus 30 Grad durch den Schnee

 

© Overnighter
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Mit minus 36 Grad ist heute der kälteste Tag Norwegens in diesem Jahr, meldeten die Reporter vom staatlichen TV-Sender NRK am 13. Januar in den Abendnachrichten. Gemessen haben die Journalisten diese Temperaturen in Folldal. Dort hatten sie am Morgen auch Walter Lauter und Gunnar Fehlau in einer gut geheizten Holzhütte getroffen. Die beiden Deutschen waren auf ihrer Fatbike-Tour von Oslo nach Trondheim und hofften, dass die Temperatur an diesem Morgen noch etwas steigen würde. Am liebsten auf minus 25 Grad – wie am Vortag. Aber den Gefallen tat ihnen das Wetter nicht.

Dabei hatten sich die minus 22 Grad an ihrem vierten Norwegentag bereits sehr arktisch angefühlt. Noch vor Sonnenaufgang waren die beiden losgeradelt. Als die Sonne aufging, befanden sie sich auf einem hügeligen Hochplateau. Die Luft war klar, der Himmel blau, Büsche und Sträucher steckten unter einer dicken Schneedecke. Das festgefahrene Weiß knirschte unter ihren Stollen. Sie waren allein unterwegs – fast allein. Etwa einmal in der Stunde überholte sie ein Auto, ansonsten war es ruhig. Nur der Wind blies ihnen aus Norden konstant ins Gesicht.

Mit 10 km/h radelten die beiden durch die menschenleere Landschaft. Für Radfahrer waren die zwei dick verpackt. Die vielen Lagen machten sie steif. Das bereitete ihnen Unbehagen. Aber was war schon die Alternative zu zwei Lagen Merinowolle-Unterwäsche, einer warmen Softshellhose, Softshelljacke und einer dreilagigen Regenjacke? Frieren? Das taten sie auch so immer mal wieder.

Unterwegs auf dem Hochplateau © Walter Lauter
Unterwegs auf dem Hochplateau © Walter Lauter

Mit dem Fatbike "Pilger" auf Pilgertour in Norwegen © Walter Lauter
Mit dem Fatbike „Pilger“ auf Pilgertour in Norwegen © Walter Lauter

„Normalerweise hasse ich Anstiege und liebe Abfahrten“, sagt Gunnar Fehlau. Nicht so in Norwegen. Dort war er nach drei bis vier Kehren mit einem Gefälle von zehn Prozent völlig durchgefroren. Für ihn war das besonders lästig, denn er hat leichte Durchblutungsstörungen in den Händen. Trotz zwei Paar Handschuhen und BarMitts – am Lenker befestigte übergroße Neoprenfäustlinge – waren seine Finger nach so einer Abfahrt weiß und eiskalt. Um sie wieder zu spüren, ließ er beim Fahren die Arme kreisen und bewegte 15 Minuten lang ununterbrochen Finger und Hände.

Walter Lauter hatte zwar warme Finger, dafür aber durch die eingeschränkte Bewegung auf dem Rad leichte Rückenschmerzen. Die störten ihn besonders morgens. Für ihn, der etwa 16.000 Kilometer im Jahr Fahrrad fährt, ein unangenehmes Novum.

Vom warmen Sofa aus betrachtet, sind derlei Beschwerden vielleicht Kleinigkeiten. Bei minus 20 Grad und einer 70 Kilometer langen Strecke, auf der es weder ein Haus noch eine Tankstelle oder gar ein Restaurant zum Einkehren gibt, können kalte Glieder und Rückenschmerzen schnell ein echtes Problem werden oder zum Streit führen.

„Einen Tag hatte ich keine Lust zu fahren und habe das auch gesagt“, erzählt Fehlau. Ein Kommentar wie „Stell dich nicht so an“ wäre von Lauter undenkbar. „Walter ist tiefenentspannt“, hat mal eine gute Freundin über ihn gesagt. Das ist in solchen Momenten von Vorteil. Er ließ seinen Tourpartner zunächst in Ruhe, dann versuchte er ihn abzulenken und ihn durch ein Späßchen wieder aufzumuntern.

Für Fehlau passte das. Sie kennen einander und haben bereits Extrem-Touren wie die Grenzsteintrophy oder eine einwöchige Querfeldein-Mountainbiketour auf Mallorca gemeinsam bestritten. Jeder weiß, wie der andere tickt – insbesondere wenn er seine Komfortzone verlässt. Und da beide auf etwa demselben Leistungslevel sind, ahnt der andere stets recht gut, wie es dem Tourpartner gerade geht.

© Walter Lauter
© Walter Lauter

In Norwegen waren sich die beiden stets einig, wenn es um die aktuelle Planung ging. Das ist nicht selbstverständlich. Schließlich verlief die Tour etwas anders als gedacht. Eigentlich wollten sie häufig draußen übernachten. Geklappt hat das aber nur einmal. Gleich in der ersten Nacht. Gegen 16 Uhr fuhren die beiden im Nieselregen aus dem Flughafen Oslo heraus. Es war bereits dunkel, der Verkehr auf der direkten Route zum Pilgerweg – den Wanderweg, den sie fahren wollten – höllisch. „Der Weg und der Verkehr ließen gar nicht zu, dass uns die Autos mit ausreichend Abstand überholten“, sagt Fehlau. Das Wissen darum machte die Lage nicht besser.

Sobald sie konnten, bogen die beiden mit ihren Fatbikes auf den Pilgerweg für Wanderer ab. Schnell zeigte sich: Dieser Weg war für sie unpassierbar. Zwar lag kein Schnee, aber an der sonnenabgewandten Seite waren Wege und Brücken gefroren, die Eispassagen gefährlich. Die Gefahr zu stürzen war ständig präsent. „Das ist anstrengend“, sagt Lauter, „man ist sehr angespannt.“ Schließlich wichen sie auf kleinere Seitenstraßen aus.

Bald war es stockdunkel, und beim Radeln durch den Nieselregen überzogen sich ihre Helme mit einer feinen Eisschicht. Nach 60 Kilometern fanden sie eine offene Biwakhütte. „Ein größerer Briefkasten“, wie Fehlau erklärt. 1,1 Meter breit, 1,4 Meter lang. Das reichte ihnen als Nachtlager. Zusätzlich spannten sie noch ein Tarp (eine Art segelförmige Plane) vor die Hütte, um ihre Beine vor Neuschnee zu schützen.

In ihren dicken Schlafsäcken schliefen sie gut. Zur Not hatten sie noch einen dünnen Schlafsack im Gepäck, doch den brauchten sie nicht.

Aber das war auch erst der Anfang. Von nun an nahm die Kälte stetig zu. Am zweiten Tag erreichten sie bei herbstlich frostigen minus 5 Grad nach 135 Kilometern den Schnee, hinter Lillehammer. Am nächsten Tag zeigte ihr Thermometer bereits 10 Grad unter Null an, am vierten Tag waren es in Spitzen minus 26 Grad. Der Schweiß gefror beim Fahren an der Innenseite ihrer Regenjacken. Das merkten sie allerdings erst, als sie sie abends auszogen.

Lauter und Fehlau radelten von Sonnenaufgang bis abends zwischen 19 und 22 Uhr. Dann bunkerten sie in Supermärkten oder Tankstellen Lebensmittel und suchten sich eine Hütte für die Nacht. Mal logierten sie feudal mit Kamin und Flatscreen-Bildschirm, um in der nächsten Nacht wieder in einer spartanischen Hütte zu schlafen, in der nicht mal der Ofen funktionierte.

© Overnighter
Lebensmittel bunkern © Overnighter

Nachtlager in einer Hütte © Walter Lauter
Nachtlager in einer Hütte © Walter Lauter

 

© Overnighter
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Als Glücksfall erwies sich für die beiden am dritten Tag die Einladung eines begeisterten Radfahrers zum Mittagessen. Bei einer deftigen Portion Elchhackfleisch empfahl er ihnen, über die B 27 zu fahren. Sie entpuppte sich als landschaftlich reizvolle Strecke, von der sie später viele andere schöne Wege über einsame Hochplateaus nahmen. Hier kamen sie fernab vom Autoverkehr gut voran.

Die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der wenigen Norweger, die sie unterwegs trafen, begleitete die beiden durch ihre Tage. Nur eines konnten auch sie nicht ändern: Der bis dahin kälteste Tag Norwegens 2014 blieb kalt. Bei minus 33 Grad sattelten die beiden schließlich auf und fuhren los. „Minus 20 Grad ist kalt, aber minus 30 Grad ist sehr kalt, eine völlig andere Dimension“, sagt Lauter. Das Kälteempfinden steigere sich nicht linear, sondern exponentiell, es werde also viel schneller sehr viel kälter.

Aber die beiden Extremradler haben es geschafft. Was bleibt, ist die Faszination: „Jeder Tag war anders, die Varianz zwischen den einzelnen Touren enorm“, sagt Fehlau. „Mit der richtigen Ausrüstung und ein bisschen Cleverness ist aber viel mehr auszuhalten, als man denkt.“ Der Körper sei extrem anpassungsfähig. „Nach einiger Zeit geht man ohne mit der Wimper zu zucken bei minus 7 Grad im Merinoshirt hinaus und holt etwas vom Rad“, sagt Fehlau.

Trotz Faszination und Gewöhnung steht jedoch fest: Ihre nächste Tour geht in die Sonne und zwar dorthin, wo sie nicht nur scheint, sondern auch wärmt.

Heimreise mit dem Fatbike. Der Fluglinie reicht die Plastikfolie © Walter Lauter
Heimreise mit dem Fatbike. Der Fluglinie reichte die Plastikfolie als Verpackung © Walter Lauter