In den Konferenzen von ZEIT ONLINE gibt es einen geflügelten Satz: “Wir nehmen das mit.” Er fällt oft am Ende von besonders leidenschaftlichen Debatten zu den großen Themen unserer Zeit, seien es Wohnen oder Mobilität, Ernährung oder Erziehung, Ungleichheit oder Geschlechterrollen. Mit „Wir nehmen das mit“ erklären Redakteurinnen und Redakteure, dass sie dieses wichtige Thema bald aufgreifen werden, mit einer großen Reportage etwa, einem umfassenden Spezial, vielleicht einer mehrteiligen Serie – eigentlich.
Über die Jahre hat der geflügelte Satz eine zweite, ironische Bedeutung erhalten und sorgt in unseren Konferenzen gelegentlich auch für Heiterkeit: weil die zuständigen Redakteure dasselbe große Thema eigentlich vor einem Vierteljahr schon einmal mitgenommen haben oder weil sie das große Thema eigentlich gerne mitnehmen würden, aber bereits eine längere Liste anderer wichtiger Themen mitgenommen haben. Im Alltag eines Onlinenachrichtenangebots, der von Minuten und Stunden bestimmt wird, fehlen gelegentlich die Wochen und Monate, um all jene Fragen, die uns eigentlich auch noch beschäftigen, umfassend aufzubereiten.
Das Ressort ohne Namen
Deshalb gründen wir X. Das neue Ressort wird sich um jene großen Themen unserer Gesellschaft kümmern, die wir oft so leidenschaftlich diskutieren und gerne noch viel öfter umfassend beleuchten würden. Als Namen hat es nur einen Platzhalter, weil es keinen festgelegten thematischen Fokus besitzt wie Wirtschaft oder Sport und deshalb auch keine eigene Rubrik auf ZEIT ONLINE erhält. Es wird stattdessen alle Redakteurinnen und Redakteure dabei unterstützen, Themen aus ihrem Fachgebiet mitzunehmen – und in kurzer Zeit aufwendig aufzubereiten. So wollen wir dem Satz „Wir nehmen das mit“ seine Eigentlichkeit austreiben.
Das Netflix-Prinzip
Alle paar Wochen werden aus der Zusammenarbeit des neuen X-Teams, das aus vier Redakteurinnen und Redakteuren besteht, mit den Kollegen der verschiedenen Ressorts Schwerpunkte auf ZEIT ONLINE entstehen. Nach der Regel, die digitale Plattformen wie Netflix etabliert haben, wird X die jeweilige Serie aus Features, Reportagen, Foto- und Videoessays und Datenvisualisierungen nicht nach und nach veröffentlichen – sondern auf einmal. Wer will, kann also einen ganzen Themenschwerpunkt binge-lesen.
Das Team
Zu X gehört Annabelle Seubert (33), die zuvor acht Jahre lang bei der taz am Wochenende gearbeitet hat, zuletzt als stellvertretende Ressortleiterin; Vanessa Vu (27), vor einem Jahr mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet, wechselt aus dem Politikressort von ZEIT ONLINE zu X; David Hugendick (39), Literaturredakteur im Ressort Kultur von ZEIT ONLINE, unterstützt das neue Team. Geleitet wird X von Philip Faigle (39). Er hat zuletzt unsere vielfach ausgezeichneten Sonderressorts #D17 und #D18 verantwortet, in denen unter anderem Projekte wie Deutschland spricht und Überland entstanden sind. Sein #D17-Kollege Christian Bangel (40) wird sich als Politischer Autor unseres Ressorts Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ebenfalls weiter um Schwerpunktthemen kümmern.
Der Start: Ost-West
Heute startet X mit sieben Beiträgen zu einer Frage, die unser Land die letzten 30 Jahre beschäftigt hat: Was ist mit den Ost- und den Westdeutschen geschehen, nachdem die Mauer gefallen war? Sie können alle Stücke nach dem X-Prinzip auf einmal lesen – oder im Laufe der kommenden Tage. Wir werden alle nach und nach auf unserer Homepage präsentieren.
Anhand von aufwendig aufbereiteten Daten des Statistischen Bundesamtes können wir jeden Umzug in Deutschland zwischen 1991 und 2017 nachvollziehen – und so die Geschichte der Wiedervereinigung ganz neu erzählen. Erstmals wird ersichtlich, wie dramatisch sich die Demografie in Ost- und Westdeutschland in dieser Zeit verschoben hat.
Julian Stahnke, Paul Blickle, Elena Erdmann, Andreas Loos und Sascha Venohr haben unter der Leitung von Julius Tröger aus dem Datensatz eine interaktive Geschichte entwickelt: Die Millionen, die gingen.
Der Reporter Martin Debes geht der Frage nach, wie es jenen Ostdeutschen heute geht, die in den Neunzigerjahren nach Bayern gezogen sind, um westdeutsche Prestigeprojekte wie den Münchener Flughafen aufzubauen. Annabelle Seubert war zu Besuch im thüringischen Ort Kleinbockedra, einem der wenigen Orte Ostdeutschlands, in den bis heute nicht ein einziger Westdeutscher gezogen ist. Christian Bangel beschreibt in einem Essay, warum die wachsende Zahl der „Wossis“ – also jener Menschen, die sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland sozialisiert wurden – eine Hoffnung für das wiedervereinte Deutschland sein könnten. Und Vanessa Vu erzählt die Geschichte der ostdeutschen Vietnamesen, die in Städten wie Cottbus die Leerstellen gefüllt haben, die die weggezogenen Ostdeutschen hinterlassen haben. Sie sind die neuen Ossis.
Hier finden Sie ab heute alle Texte unseres ersten X-Schwerpunktes.
Haben Sie Ideen für Themen, denen sich unser neues Ressort X widmen sollte? Sie erreichen es unter der E-Mail-Adresse x@zeit.de.
Daumen hoch für den gelungenen Start.
super! Bitte die dicksten Strukturwandelthemen Digitalisierung/KI und Klimawandel dringend aufarbeiten – und zwar visionär-lösungsorientiert. nicht problemfokussiert/verlustgeframed (Stichwort konstruktiver Journalismus).
Danke!
Hauptsache Ihr macht uns kein X für ein U vor…höhöhö
Super, das hört sich spannend an! Die Ost-West Visualisierung ist schon super gelungen!
Wechselt denn die Zusammensetzung des Ressorts ständig? Weil wenn ich mir so die Artikel der Autoren bzw. den generellen Background des Teams anschaue, dann wird es mit der Kompetenz in der Zukunft schwierig. Weil die ist doch recht „einseitig“.
Nur so für den Fall, dass es mal um so etwas wie Digitalisierung oder Klimawandel gehen sollte. Also irgendwas mit MINT. ;-)
“Warum wir X gründen”
Weil der (digitale) Journalismus schon seit Jahren in diese Richtung geht, und weil andere – wie die NYT – dies auch seit Jahren vormachen:
https://www.nytimes.com/interactive/2019/04/22/upshot/upshot-at-five-years.html
Kann mich hier nur anschließen, bitte Trennung von Fakten und Meinung, keine Empörung und Gesinnung, dafür objektive Schlußfolgerung.
Das heißt auch, nicht immer nur einen Datenpunkt zu präsentieren und sich dann darüber moralisch zu ereifern, sondern bitte im historischen Kontext und in Relation zu anderen vergleichbaren Ereignissen.
Wer „Relativierung“ als zensurwürdig betrachtet, will im schönsten 1984-Stil die Diskussion mit Gewalt in eine Richtung lenken. Relativierung ist wissenschaftlich.
Binge-lesen.
Schöne Zusammenfassung.
Eine Leserbitte: Der Themenkomplex „Geschlechtersidkrimnierung, Gleichstellung etc.“ sollte nicht mehr als ein Viertel der Beiträge umfassen.
Schöne Idee! Freue mich auf eine fundierte Lektüre.
Bitte etwas zu Integration, Behinderung, Pränataldiagnostik bringen.