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Wie aus 30.000 Menschen ein Mini-Deutschland wurde

 

Links: Ana Maria Weber, eine der 49. Rechts: Ein Ausschnitt der Gruppe der 49.

Am Anfang war es nur eine Idee: Wie wäre es, wenn man Deutschland im Kleinen nachbauen könnte? Eine Gruppe von 49 Personen, klein genug, damit sie auf einen Bildschirm der Videoplattform Zoom passt, aber groß genug, um die Facetten der deutschen Gesellschaft einzufangen. Eine Gruppe, in der alles ungefähr so wäre wie in Deutschland. Genauso viele Westdeutsche wie Ostdeutsche, Norddeutsche und Süddeutsche, Männer und Frauen und nicht binäre Menschen. Arme und Reiche. Studierte und Ausgebildete.

Worüber würde die Gruppe reden? Was wäre ihr im Jahr der Bundestagswahl wichtig? Die Gruppe aus nur 49 Menschen wäre alles andere als repräsentativ, aber sie wäre immerhin eine Annäherung an den Bundesdurchschnitt und ein Abbild der Vielfalt im Land. Eine quotentreue Stichprobe, wie es in der Soziologie heißt.

Es war noch Corona-Winter, als wir begannen, Statistiken zu sammeln. Die Lebenswelten der Menschen in Deutschland sind gut dokumentiert. Alter, Geschlecht, Wohnort, Haushaltsgröße – die meisten Daten sammelt das Statistische Bundesamt in Wiesbaden. Im Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaft und mit der Hilfe des Bremer Soziologen Olaf Groh-Samberg fanden wir Angaben zur Einkommensverteilung. Für die politische Ausrichtung nutzten wir die repräsentative Meinungsumfrage Allbus des Mannheimer Instituts Gesis. So erstellten wir eine Liste mit statistischen Merkmalen, nach denen wir die Gruppe zusammenstellen wollten. Am Ende wurden es 20 Dimensionen mit 78 Ausprägungen.

Im März veröffentlichten wir einen Anmeldebogen auf ZEIT ONLINE, in dem wir all die Fragen stellten, die die Statistiker zuvor den Deutschen gestellt hatten: Wie lautet Ihre Postleitzahl? Haben Sie einen Migrationshintergrund? Wie lautet Ihr Haushaltseinkommen? Sogar nach der sexuellen Orientierung fragten wir und ob sich eine Person als Person of Color definiert.

30.000 Anmeldungen in wenigen Tagen

Wir rechneten mit ein paar Hundert Antworten, schließlich war der Fragebogen ziemlich umfangreich. Doch binnen weniger Stunden meldeten sich mehr als 10.000 Menschen an. Nach drei Wochen waren es 30.000 – so viel Zuspruch hat es für eine Aktion von ZEIT ONLINE zuvor selten gegeben.

Schnell lernten wir, dass die Teilnehmenden alles andere als durchschnittlich waren. Kein Wunder: Die meisten dürften Leserinnen und Leser von ZEIT ONLINE sein – und diese unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht vom Durchschnitt der Bevölkerung in Deutschland. Hier liegt ein Grundproblem unseres Experiments: Wir hatten es von Anfang an mit Menschen zu tun, die aktiv geworden sind,  mitreden wollen und die Leserinnen und Leser von ZEIT ONLINE sind.

Ein solcher Bias findet sich schon beim Geschlecht. Etwas mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland, rund 51 Prozent, ist laut Statistik weiblich, aber die meisten Anmeldungen kamen von Männern: 63 Prozent. Unter den Kandidaten waren auch doppelt so viele Selbstständige wie in der Bevölkerung und doppelt so viele Menschen aus Städten. Dafür waren Menschen aus Dörfern, Kleinstädten und Großstädten deutlich unterrepräsentiert, mit Ausnahme von Berlin: Zehn Prozent der Bewerberinnen kamen aus der Hauptstadt, die in Wirklichkeit gerade mal vier Prozent der Bevölkerung ausmacht. Ältere Menschen waren ebenfalls weniger vertreten. Vor allem aber waren unsere Kandidatinnen zu akademisch. Es bewarben sich elfmal mehr Master- und doppelt so viele Diplomabsolventen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Und siebenmal so viele Promovierte.

 

Ein Ausschnitt aus dem Programm, mit dem wir Die 49 berechnet haben

Aus all diesen 30.000 Menschen mussten wir nun 49 Personen so auswählen, dass diese Verzerrung möglichst wieder verschwindet. Wir definierten daher für jede Dimension eine Zahl der Menschen, die in den 49 vertreten sein sollte. Sieben Menschen sollten etwa auf dem Dorf wohnen, acht Menschen ein Haushaltsnettoeinkommen von weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens beziehen. Genau ein Ratsmitglied sollte einen Masterabschluss haben und vier einen Fachschulabschluss. Um die Altersstruktur nachzubauen, gingen wir von einer Bevölkerung ab 16 Jahren aus – das war das Mindestalter, um teilnehmen zu können.

Uns war außerdem wichtig, möglichst unterschiedliche Haltungen unserer Gesellschaft abzubilden, zum Beispiel beim Thema Migration. Wir orientierten uns dabei an den repräsentativen Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) des Mannheimer Instituts Gesis. Dieses befragt seit den Achtzigerjahren regelmäßig die Menschen in Deutschland zu politischen Themen und Wertefragen. Wir wählten fünf Fragen aus dem Fragebogen aus unterschiedlichen Themenfeldern: Flucht und Migration, Umweltschutz, das Verhältnis von Staat und Wirtschaft, Umverteilung und Gerechtigkeit sowie die Gleichstellung von Frauen. Auch hier versuchten wir, die Verteilung der Antworten in der Gesamtbevölkerung in unserem Rat nachzubilden. Einfacher gesagt: Die 49 sollten möglichst auf die Fragen genauso antworten wie die deutsche Bevölkerung. Demnach sollten 16 dem Satz zustimmen: „Der Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland sollte möglichst unterbinden werden.“ 24 sollten gegen diese Aussage sein. Und so weiter.

Je länger wir über eine Lösung nachdachten, desto mehr Probleme ergaben sich. Eines lautet: Wie gehen wir mit Korrelationen und Abhängigkeiten um? Kann die Gruppe auch den korrekten Anteil an reichen und männlichen Menschen abdecken oder an Frauen mit Migrationshintergrund, die auch noch in Dörfern leben? Die Antwort: Nein, das geht nicht. Es gibt gar nicht das Zahlenmaterial dazu, und selbst wenn: Die Gruppe wäre dafür zu klein. Wir mussten uns daher auf die reinen Anteile konzentrieren. Das hat allerdings zur Folge, dass wir die Soziodemografie sicherlich nicht immer ganz korrekt abbilden. Zum Beispiel kann es passieren, dass die Menschen mit Migrationshintergrund in den 49 wohlhabender sind als der Durchschnitt der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland.

Eine weitere Frage: Wie gehen wir mit kleinen Prozentwerten um? Wie mit Rundungsfehlern? Ein Mensch repräsentiert in einer Gruppe von 49 Personen einen Anteil von etwa zwei Prozent. Schon deshalb können die Anforderungen nur auf plus oder minus ein Prozent genau erfüllt werden, ansonsten schlägt die Rundungsfalle zu. Aus rechnerisch 0,59 Menschen mit Doktortitel wurde beispielsweise am Ende ein ganzer Mensch. Ein Männeranteil von 46,94 Prozent kann bestenfalls zu entweder 48 Prozent oder 46 Prozent genau aufgehen. Und unser Plan, jeweils 50 Prozent Menschen aus Nord- und Süddeutschland beizumischen, kann bei einer ungeraden Anzahl von Menschen ebenfalls nicht exakt funktionieren.

Deshalb verzichteten wir auch von vornherein darauf, die Bundesländer nach Proporz abzubilden: Das Saarland wäre ein halber Mensch gewesen, Bremen noch mal knapp ein halber und Brandenburg eineinhalb. Wir haben uns deshalb auf Nord, Süd, Ost und West beschränkt – und Berlin in dieser Betrachtung herausgerechnet, weil diese Stadt ein Zwitter aus Ost und West ist. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass im Rat zwar aus fast jedem Bundesland eine Person sitzt, nicht aber aus Bremen oder Sachsen-Anhalt.

Kriterium Quelle Vorgaben für Anteile
Alter Statistisches Bundesamt 2019. Es wird jeweils der Anteil der Gruppe an der Bevölkerung ab 16 berechnet. 16–17: 2.2 %, 18–20: 3.6 %, 21–24: 5.6 %, 25–39: 22.3 %, 40–59: 33.3 %, 60–64: 8 %, 65+: 25.5 %
Nord-Süd Statistisches Bundesamt, Gemeindeverzeichnis. Wir sortieren die Postleitzahlen nach ihren Geoschwerpunkten von Süden nach Norden. Anschließend summieren wir die Einwohnerzahlen der Bezirke auf, bis Gleichstand erreicht ist. Norden: 50 %, Süden: 50 %
Ost-Berlin-West Statistisches Bundesamt, Gemeindeverzeichnis Westen: 81 %, Berlin: 4 %, Osten: 15 %
Gender DIW/SOEP weiblich: 24, männlich 23, divers: 1, trans: 1
Stadt/Land Statistisches Bundesamt, Gemeindeverzeichnis Dorf: 13.85 %, Kleinstadt: 26.53 %, Stadt: 27.49 %, Großstadt: 32.14 %
Unternehmerinnen Institut für Mittelstandsforschung/Statistisches Bundesamt 2019: Es gibt ca. 2.2 Millionen Solo-Selbstständige und 1.8 Millionen Unternehmerinnen. zwei Solo-Selbstständige, ein:e Unternehmer:in
Migration Statistisches Bundesamt D, MH: 13.6 %, D, kein MH 74 %, nicht D, MH: 12.4 %
Schwerbehinderung Schwerbehinderung unter 55: 1
sexuelle Orientierung DIW/SOEP LGBTIQ: 1, ohne Angabe: 2
Person of Color Statistisches Bundesamt, eigene Abschätzung (siehe Text) POC: 5
Einkommen SOEP (Umrechnung auf bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen), Socium Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik < 60 % vom Medianeinkommen: 15.4 %, 60–80% vom Median: 16.28 %, 80–120 % vom Median: 34.08 %, 120–200 % vom Median: 27.43 %, > 200 % vom Median: 6.82 %
Bildung Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2019 Fachschulabschluss: 8.5 %, Master: 1.8 %, Bachelor: 2.6 %, Lehre: 47.2 %, Promotion: 1.2 %, Diplom: 13.0 %, noch in Ausbildung 8.9 %, ohne Ausbildung 16.5 %
Frage 1 Allbus. „Der Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland sollte unterbunden werden.“ Zustimmung: 32 %, neutral: 19.2 %, Ablehnung: 48.7 %
Frage 2 Allbus. „Zum Schutz der Umwelt sollten härtere Maßnahmen getroffen werden.“ Zustimmung: 84.9 %, neutral: 8.1 %, Ablehnung: 7 %
Frage 3 Allbus. „Einkommen und Wohlstand sollten zugunsten der einfachen Leute umverteilt werden.“ Zustimmung: 62.6 %, neutral: 17.9 %, Ablehnung: 19.5 %
Frage 4 Allbus. „Die Politik sollte sich aus der Wirtschaft heraushalten.“ Zustimmung: 31.2 %, neutral: 17.3 %, Ablehnung: 51.5 %
Frage 5 Allbus. „Frauen sollten bei gleicher Eignung bei Bewerbungen und Beförderungen bevorzugt behandelt werden.“ Zustimmung: 18.6 %, neutral: 28.8 %, Ablehnung: 52.6 %
Anzahl Kinder im Haushalt (nach Haushalten) Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2019 0: 80.2 %, 1: 10 %, 2: 7.4 %, 3: 1.8 %, 4: 0.4 %, 5+: 0.1 % (siehe Anmerkung unten)
Haushaltsgröße (nach Haushalten) Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2019 1: 42.3 %, 2: 33.2 %, 3: 11.9 %, 4: 9.1 %, 5+: 3.5 % (siehe Anmerkung unten)
Arbeitslosigkeit Bundesanstalt für Arbeit, aktuelle Arbeitslosenzahlen (Mai) pro Bevölkerung ab 16 arbeitslos: Anteil von 3.7 % an der Bevölkerung ab 16 Jahren, also zwei Menschen

Anmerkung Update 22.06: Bei der Berechnung der 49 weichen wir in zwei Dimensionen von unserer Methodik ab. Sowohl bei der Haushaltsgröße als auch bei der damit verbundenen Zahl an Kindern berücksichtigen wir nicht die Verteilung nach Personen, sondern nach Haushalten. Allerdings haben wir nach einigen Überlegungen und Diskussionen mit Wissenschaftlern gelernt, dass dieses Vorgehen möglich ist. Da jeder und jede der 49 aus einem anderen Haushalt stammen – und praktisch ausgeschlossen ist, dass zwei Personen des gleichen Haushaltes mitmachen – bilden wir in diesen beiden Dimensionen jeden Teilnehmer als Vertreter oder Vertreterin eines Haushaltes ab. Allerdings müssen wir dadurch die Methodik modifizieren: In 18 Dimensionen wurden die Teilnehmenden mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in die Gruppe gemischt, mit der sie auch in der Gesamtbevölkerung auftreten. In zwei Eigenschaften aber agieren die Teilnehmenden als Vertreterinnen ihrer Haushalte. Die Verteilung der Haushaltsgrößen wird in diesem Sinne dann perfekt wiedergegeben.

Grundsätzlich haben wir versucht, die Anteile in der Bevölkerung so genau abzubilden wie möglich. Die Abschätzung des Anteils von LBTIQ-Menschen etwa basiert auf Daten des SOEP. Weil der Anteil der Menschen, die nicht über ihre Sexualität sprechen wollen, sogar noch größer ist als derer, die sich der LBTIQ-Community zurechnen, haben wir diesen Anteil aufgerundet und mit zwei Ratsmitgliedern nachgebildet. Die Aufteilung in Nord- und Süddeutschland bestimmen die Bevölkerungsanteile der Postleitzahlgebiete (nach denen wir die Teilnehmer lokalisiert haben): Alle Postleitzahlgebiete des Südens enthalten zusammen genauso viele Einwohner wie die Postleitzahlgebiete des Nordens.

Nur in drei Fällen mussten wir auf Schätzungen zurückgreifen. Unter den Ratsmitgliedern ist ein trans Mensch – was den Anteil der trans Menschen in der Bevölkerung vermutlich etwas überschätzt. Wir haben zudem eine schwerbehinderte Person im Alter von unter 55 unter Die 49 gemischt. In beiden Fällen wollten wir die Perspektive dieser Gruppen in den 49 abbilden.

Außerdem haben wir auf Basis von Daten des Statistischen Bundesamts den Anteil der Menschen geschätzt, die sich selbst als Schwarz, als Person of Color oder als nicht weiße Personen einstufen könnten. Dem Mikrozensus 2019 zufolge haben 26 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund. Das sind per Definition Personen, die entweder selbst ohne deutsche Staatsangehörigkeit geboren wurden oder die mindestens ein Elternteil haben, das ohne deutsche Staatsangehörigkeit geboren wurde. Darunter fallen streng genommen auch Menschen aus Österreich oder Dänemark – Menschen also, die die Mehrheit oft gar nicht als Menschen mit Migrationshintergrund erkennt.

Um zu vermeiden, dass ausschließlich hellhäutige, europäische Menschen mit Migrationshintergrund in unserer Auswahl landen, haben wir nach sichtbaren Merkmalen gefragt – also konkret, ob sich die Teilnehmenden selbst als Schwarz, of Color oder nicht weiß definieren würden. Dadurch wollten wir auch potenziell durch Rassismuserfahrungen geprägte Perspektiven einschließen.

Bei der Schätzung, wie viele People of Color und nicht weiße Menschen unter den 49 sein sollten, haben wir uns an groben Richtwerten aus dem Mikrozensus orientiert. Demnach kommen etwa 2,8 Millionen Menschen aus der Türkei, 4,6 Millionen aus Asien sowie dem Nahen und Mittleren Osten und eine Million Menschen aus Afrika. Diese zusammengerechnet ergeben einen Anteil von mindestens 40 Prozent an wahrscheinlich (aber natürlich nicht selbstverständlich) erkennbarem Migrationshintergrund innerhalb der allgemeinen Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund. Aufgrund dieser Abschätzung haben wir uns entschieden, fünf Menschen in Die 49 zu mischen, die sich selbst als nicht weiß verorten.

Ein System von Gleichungen und Ungleichungen

Für die Einkommensverteilung haben wir uns Unterstützung aus dem SOEP und vom Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik in Bremen geholt. Dabei wendeten wir dieselbe Methode an, die auch in unserem ZEIT-ONLINE-Klassenrechner zum Einsatz kommt. In einem ersten Schritt baten wir alle Teilnehmenden, das Haushaltsnettoeinkommen und die Zahl der Erwachsenen und Kinder im Haushalt anzugeben. Dieses Nettoeinkommen wird dann durch die Zahl der Personen und Kinder geteilt, die in einem Haushalt leben, wobei Kinder und Erwachsene mit unterschiedlichen Gewichten in die Rechnung eingehen – nach einer Skala der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die dem ersten Haushaltsmitglied den Wert 1, jedem weiteren Haushaltsmitglied den Wert 0,5 5 und jedem weiteren Kind den Wert 0,3 zuweist.

Dahinter steht der Gedanke, dass sich mehrere Personen, die in einem Haushalt zusammenleben und wirtschaften, laufende Ausgaben wie Miete, die Nutzung von Bad und Küche oder die Anschaffung von Möbeln teilen. Bei dem Verfahren gibt es nur eine Unschärfe: Der OECD-Wert definiert Kinder als Menschen unter 14 Jahren, wir gehen bis 18 Jahre. Das bedeutet, dass wir bei den acht Teilnehmerinnen mit Kindern möglicherweise ein geringfügig anderes Einkommen schätzen, falls Kinder zwischen 14 und 18 Jahren im Haushalt leben.

Das bedarfsgewichtete Nettoeinkommen wird dann mit dem bedarfsgewichteten Median-Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland verglichen und auf diese Weise in fünf Prozentklassen eingeteilt. Die jeweilige Anzahl der Gruppenmitglieder pro Einkommensklasse wurde dann nach ihrem Anteil in Deutschland laut dem SOEP festgesetzt.

Wie haben wir schließlich die perfekte Gruppe gefunden? Mathematisch gesprochen kam dabei ein ganzzahliges lineares Programm zum Einsatz, eine Methode, die unsere Vorgaben in ein System von Gleichungen und Ungleichungen übersetzt (und mit der man übrigens auch Puzzle lösen kann). Für unser Puzzle erzeugten wir für jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer Dutzende Bedingungen dieser Art: „Falls diese Person in die Endauswahl kommt, steigt die Anzahl der Ratsmitglieder im Alter zwischen 60 und 64 Jahren um 1.“ Oder: „Diese Person wird die Anzahl der Ratsmitglieder aus dem Süden um 1 erhöhen.“

Zugleich führten wir Beschränkungen ein: „Nur zwischen 23 und 26 Personen dürfen in der Endauswahl aus dem Süden kommen.“ Manchmal machten wir sogar exakte Vorgaben: „Genau zwei Personen sollten Solo-Selbstständige sein.“ Und: „Genau fünf Menschen sollen von sich sagen, nicht weiß zu sein.“ Am Ende kamen wir so auf mehrere Millionen Gleichungen und Ungleichungen, mit denen die Software in wenigen Minuten Rechenzeit genau jene 49 Menschen herausfilterte, die nicht nur alle Bedingungen erfüllten, sondern obendrein möglichst wenige Abweichungen erzeugten.

Das klappte auf Anhieb erstaunlich gut: Die erste Lösung, die unsere Software ausgab, stimmte exakt mit den Vorgaben überein. Das hat uns überrascht, denn wir waren davon ausgegangen, dass wir es schwer haben würden, einige Bevölkerungsgruppen im richtigen Maße abzubilden: Menschen ohne Ausbildung etwa oder mit sehr geringem Einkommen. Diese Gruppen waren schließlich sehr stark in den Anmeldungen unterpräsentiert. Dass das Ergebnis dennoch so gut ausfiel, hängt mit der großen Zahl der Anmeldungen zusammen. In den 30.000 waren einige Gruppen zwar stark unterrepräsentiert, doch es gab dennoch genug Kandidatinnen und Kandidaten mit diesen Eigenschaften, die wir in Die 49 einladen konnten.

Dann allerdings musste sich die mathematische Rechnung an der Wirklichkeit messen. Über mehrere Wochen haben Redakteurinnen und Redakteure mit den Teilnehmenden telefoniert und gemailt. Manche mussten anschließend ihre Angaben leicht korrigieren, andere nahmen ihre Bewerbung wieder zurück. Einige konnten wir auch nach mehreren Versuchen nicht erreichen. Mehr als zehnmal musste unser Programm neue Namen ausspucken.

Am Ende war die Lösung nicht mehr ganz perfekt. Im Mittel weichen die Anteile 1,9 Prozentpunkte ab, die höchste Abweichung liegt bei sechs Prozentpunkten; bei der Haushaltsgröße natürlich höher.

Das Beste aber ist: Die 49 sind in der Welt!

30 Kommentare

  1.   Büro für Handstreiche

    Cooles Projekt.
    Diese Leute hätte ich dann gerne in einem Parlament, als tatsächliche Abbildung der Gesellschaft mit Entscheidungsbefugnis, und nicht eine Sammlung latent narzisstischer Machtmenschen, die nahezu geschlossen der Oberschicht angehörend.

  2.   Klaus Lachshammer

    „Am Anfang war es nur eine Idee: Wie wäre es, wenn man Deutschland im Kleinen nachbauen könnte?“

    Jetzt bleibt nur die Frage nach dem „Warum?“. Was bringt mir dieses Runterrechnen auf 49 Menschen, wenn doch selber direkt eingestanden wird, dass diese Zahl natürlich nicht repräsentativ sein kann? Ich will hier eigentlich gar nicht groß rumnörgeln, aber mir erschließt sich der Sinn dieser Statistik-Onanie einfach nicht. Was habe ich dadurch gewonnen, wenn ich über 80 Millionen Menschen auf 49 reduziere? Also mal losgelöst von der (hoffentlich) kostenlosen Werbung für Zoom.

  3.   Ieldra

    Ein faszinierendes Experiment. Ich bin neugierig, was bei der Kommunikation der 49 so herauskommt.

    Auch finde ich die Transparenz des Vorgehens bei der Auswahl beispielhaft. Ganz nebenbei vermittelt der Artikel dadurch auch grundlegende Aspekte von Statistik – und man kann aus meiner Sicht heute kaum sinnvoll über Politik reden ohne solche Kenntnisse.

  4.   Philip Faigle

    Lieber Klaus Lachshammmer,

    danke für Ihre Feedback. Die 49 sind ein journalistisches Projekt, wozu es dient und warum wir es machen, lesen Sie hier: http://www.zeit.de/die49. Herzlicher Gruß, Philip Faigle

  5.   Jupp_Zupp

    Ein interessantes Experiment :-). Wenn man sich diesen Querschnitt betrachtet, versteht man auch, was „Identitätspolitik“ eigentlich bedeutet: manche Minderheit ist eben keine Mehrheit, und wenn sie noch so lautstark ist. Und eigentlich müssten auch irgendwo zwischen drei und fünf AfD-Wählern dabei sein – upps :-#.
    Natürlich ist klar, dass es einen scharfen Bias gibt, wenn EINE Zeitung ihre Leser zu einem Experiment aufruft. Diesen irgendwie halberwegs zu eliminieren und aus den ZEIT/ZON-Lesern eine halbwegs heterogene Gruppe zu destillieren ist mit Sicherheit eine schwere Aufgabe – wie wäre es denn, wenn sich Zeitungen einmal regional und überregional zu so einem Experiment zusammentäten? Die Gruppe muss ja nicht auf ein und denselben Zoom-Bildschirm passen….

  6.   Ph. Reiß

    Eine interessante Darstellung. Vor allem wird einem klar, in was für einer Blase man selbst lebt. Beispielsweise konnte nur einer von 49 promoviert sein, bei mir im Bekanntenkreis ist der Anteil sicher bei einem Drittel und Personen ohne Uni-Abschluss kenne ich so gut wie keine. Das sorgt sicher für verzehrte Wahrnehmungen und deswegen bin ich auf die Ergebnisse gespannt.

  7.   _annoyed

    Das klingt soweit nach einer witzigen Idee, dürfte aber daran scheitern, dass intersektionale Zusammenhänge stark verzerrt abgebildet werden, und kleine Minderheiten gar nicht.

    So macht Wohlstand alles besser. Wohlhabende Homosexuelle, Frauen, PoC oder Soloselbstständige werden weit weniger benachteiligt, und haben es weit einfacher sich zu wehren als arme.
    Arbeitslose MINT-Akademiker sind entweder nicht offiziell arbeitslos, sondern „selbstständig“ oder unterhalb ihrer Qualifikationen beschäftigt, oder so selten, dass sie nicht berücksichtigt werden können.

    Auf der anderen Seite dürften Rechsspinner, Quer“denker“ und andere Leute, die nur Medien trauen die ihnen nach dem Munde reden und allen anderen misstrauen, weil die frecherweise Fakten weniger streng für einen kleinen ideologisch homogenen Personenkreis ausfiltern weit unterrepresentiert sein, auch wenn sie ab und zu hier in den Kommentaren auftauchen.

    Aber gehen wir mal ergebnisoffen an die Sache heran und schauen, was es bringt.

  8.   Frage

    Eine kleine Frage: Die Haushaltsgrößen scheinen sich auf die Anzahl der Haushalte zu beziehen, nicht jedoch auf die darin lebenden (erwachsenen) Menschen? Repräsentativer sollte es sein Letzteres zu betrachten (one man, one vote). Dann leben laut Destatis nur 20% der Bevölkerung in Einpersonenhaushalten und 30% in Zweipersonenhaushalten. Etwas Ähnliches könnte bei den Haushalten mit Kindern passieren. Es leben zwar nur in 20% der Haushalte Kinder, aber in diesen Haushalten leben natürlich mehr Menschen (vor allem Kinder aber im Durchschnitt auch mehr Erwachsene) als in kinderlosen Haushalten. Stimmen die Überlegungen oder gibt es einen Denkfehler?

  9.   Fool of a Took

    Soo pfft, ich bin trotzdem beleidigt, daß ich nicht mitmachen kann.
    Blöder Rechner, blöde Algorithmen. Bääh. Ich hätte mich so gefreut. Hmph.

    Okay hey, geiles Projekt. Bin gespannt wie das so läuft.

  10.   Klaus Lachshammer

    @Philip Faigle: Vielen Dank für den Hinweis, aber so richtig erschließt sich mir die Reduzierung auf 49 Personen noch immer nicht. Schon bei 100 wird es schwierig mit der Repräsentativität, aber bei 49 ist es dann endgültig vorbei und viel zu viel geht im statistischen Rauschen unter.

    Aber genug genörgelt, viele Leser stören sich offenkundig nicht daran, von daher bin ich hier vielleicht auch einfach etwas überkritisch.

 

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