Es gibt nur wenige journalistische Projekte bei ZEIT ONLINE, die mehr Zeit benötigt haben als dieses: Heute startet das Glashaus, unser neues Transparenz-Blog. Seit vielen Jahren wünscht sich unsere Redaktion einen Ort, an dem wir die internen Debatten über unsere Arbeit hin und wieder nach außen tragen können. Dann etwa, wenn wir nach ausführlicher Diskussion in unserer Konferenz wieder einmal *nicht* über ein Thema berichten. Die Liste der Nachrichten, die wir bewusst ignorieren, ist lang.
Ab sofort werden wir im Glashaus gelegentlich erklären, wann ein Thema für uns relevant genug ist, um es aufzugreifen. Wann eine Information uns so valide erscheint, dass wir sie veröffentlichen. Warum wir Bilder von Toten meist nicht zeigen, in seltenen Fällen aber doch. Warum wir uns nicht grundsätzlich verpflichten wollen, die Namen von Terroristen nicht zu nennen und ihre Porträts nicht zu zeigen. Wann wir die Herkunft eines Tatverdächtigen nennen, wann seinen vollen Namen. Wie sich eine Nachricht bei uns von einem Kommentar unterscheidet. In welchen Fällen wir Beiträge in unserem Archiv grundlegend verändern und wie wir diese Veränderungen transparent machen. Vor welche neuen Probleme uns der sogenannte konstruktive Journalismus stellt, der die Welt aktiv besser machen will.
Im Glashaus sammeln wir ab sofort auch unsere Fehler: alle Fälle, in denen wir uns gravierend korrigieren mussten – bisher werden Korrekturen nur in den Beiträgen selbst kenntlich gemacht.
Es gibt seit jeher viele Fragen zu unserer Arbeit, die wir uns täglich selbst stellen und die wir gerne mit Ihnen diskutieren würden. Dass es das Glashaus nicht schon längst gibt, hat deshalb vor allem einen Grund: Wir waren uns nicht sicher, ob Sie ein solches Redaktionsblog wirklich interessiert – oder ob die darin behandelten Themen höchstens unsere Kollegen in anderen Redaktionen bewegen.
Mit der zunehmenden Kritik an der Arbeit von Journalisten hat, so merken wir, auch das aufrichtige Interesse daran zugenommen. Haben Sie Fragen, die wir in den nächsten Beiträgen aufgreifen sollen? Dann schicken Sie sie bitte an glashaus@zeit.de. Meine Kollegin Natalie Wuebbolt betreut dieses neue Postfach bei ZEIT ONLINE.
Unser erster Glashaus-Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, warum auch wir, wie die Tagesschau, zunächst nicht über den Freiburger Mordfall berichtet haben, wohl aber über die Debatte zur Berichterstattung darüber.
P.S.: Die Wände des Berliner Newsrooms von ZEIT ONLINE sind übrigens tatsächlich aus Glas – siehe Foto.
Eine Redaktion, die in Dialog mit den Lesern tritt? Die sich erklärt und auf Lerneffekte auf beiden Seiten hofft? Ja doch, das kann funktionieren.
Können die Antworten von Euch zwecks Übersichtlichkeit bitte dunkel unterlegt werden?
Und „Sie schreiben zu schnell“ ist mehr als nervig!
Vielen Dank für die vielen positiven und auch für die kritischen Kommentare. Eine kurze Antwort auf zwei davon:
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Betawolf, #7
„Hat das etwas damit zu tun?: Sie verlassen den Fachverband vdz“
Nein, werter Betawolf. (Das ist eine Initiative unseres Verlags, hier schreibt die Redaktion. :-)
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Tinto rosso#30
„Aufhänger für dieses Projekt scheint der Vorfall in Freiburg gewesen zu sein.“
Nicht wirklich, wir spielen seit Jahren mit der Idee, Auslöser war letztlich der Amoklauf in München, siehe hier:
http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-07/online-journalismus-medien-amoklauf-muenchen/komplettansicht
Wir sind nur manchmal etwas langsam. Die Tat in Freiburg bot sich dann als erstes Thema zum Start an, insofern haben Sie Recht.
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Ein Feigenblatt, mehr nicht.
@tinto rosso
Stimmt, es waren drei Artikel zu diesem bestimmten Thema (17.01, und zwei vom 22.01). Den ersten hatte ich nicht gesehen: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-01/dresden-mannheim-demonstration-khaled-toleranz-vielfalt-no-pegida
Nur, die Berichterstattung hält sich an exakt das, was in dem Blogeintrag erklärt wird – ZON berichtet dann, wenn es eine politische und gesellschaftliche Relevanz hat. Und die kann man schwerlich abstreiten, wenn Menschen einen Gedenkmarsch mit tausenden Teilnehmern organisieren. Vielleicht sollten Sie im Vorliegenden Fall weniger die Berichterstattung kritisieren, als die Menschen, die Märsche organisieren, ohne genug über die Hintergründe der Tat zu wissen.
Berichte über sexuelle Belästigung und Vergewaltigungen und deren gesellschaftliche Folgen gibt es auch bei ZON regelmäßig. Auch im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise. Sehr interessant ist auch der Fall eines linken Kulturzentrums in Leipzig, das Probleme mit Flüchtlingen im Zusammenhang mit sexueller Belästigung offen aussprach. Die Frage ist, ob sich Frauen in Freiburg und anderswo tatsächlich unsicherer fühlen als vorher – und warum.
„Vor welche neuen Probleme uns der sogenannte konstruktive Journalismus stellt, der die Welt aktiv besser machen will.“ Ich denke, das ist der Kern des Problems. Wie will der konstruktive Journalismus das machen? Nachrichten unterdrücken oder auf die Titelseite heben, Namen und Taten bringen oder verschweigen, Bewertungen und Empfehlungen aussprechen? Ist das die Aufgabe des Journalismus?
Wenn das die Antwort der Zeit auf die immer lauter werdende „Luegenpresse“-Diskussion sein soll, ist das ziemlich schwach. Anstatt sich fuer einige Blueten, die der „konstruktive Journalismus“ treibt, zu rechtfertigen, sollte der Ansatz selbst kritisch durchleuchtet und ad acta gelegt werden.
Die Idee des „konstruktiven Journalismus“ ist auf einer heute eigentlich ueberholten, arrogant-paternalistischen Weltsicht gegruendet. Die Annahme, man muesste (als Journalist) Fakten selektieren, modulieren, verstaerken, abschwaechen, etc. pp., damit sich der (dumme oder zumindest unmuendige) Leser die richtige, die bessere, die wahre Meinung bildet, damit die Welt „besser“ wird, ist Wahnsinn. Die einzige Rchtfertigung fuer so eine Sicht ist doch, dass man selbst das Licht gesehen hat, ein Erleuchteter unter Blinden ist. Das macht aber eben nicht nur der Journalist, der mitte-links steht so, sondern auch der, der mitte-rechts steht. Ergebnis: Info-Wars. Wer hat Recht, wer hat die Deutungshoheit, wer dominiert das Narrativ?
„Konstruktiver Journalismus“ ist doch nur ein Euphemismus fuer (unterschwellige) Propaganda. In meinen Augen ist diese Art des Journalismus eine straefliche Vernachlaessigung des Auftrags an die Presse in einer Demokratie – und der ist ganz einfach: Fakten berichten. Wird diese Aufgabe nicht mehr erfuellt, geraet Demokratie ins Wanken. Der konstruktive Journalismus ist der wichtigste Grund, warum Trump, LePen, Wilders, AfD, etc. derzeit so erfolgreich sind.
Die allergische Reaktion auf diese Art von Journalismus ist in erster Linie ein Ausdruck der Frustration, nicht mehr herausfinden zu koennen, was die „Wahrheit“ ist, keinem der ehemals vertraeuenswuerdigen Outlets mehr vertrauen zu koennen.
Am Ende wird eine Beleuchtung, warum eine Zeitung sich fuer diese oder jene Strategie der Berichterstattung entscheidet, zu nichts fuehren. Meinungsmache, Populismus, und Propaganda werden nicht dadurch akzeptabel, dass man die Hintergruende dafuer erklaert. Was noetig waere, um das Vertrauen in die Presse wieder herzustellen, waere eine Abkehr vom „konstruktiven Journalismus“ und hin zu einer ehrlichen, faktenorientierten Berichterstattung. Die allermeisten Leute koennen den Unterschied sehr klar erkennen.
gutes gelingen! alle ideen, dem lügenpresse-meme etwas konstruktives entgegenzusetzen, sind unterstützenswert. jetzt wird’s spannend, ob die umsetzung funktioniert.
Dieser Transparanz-Blog ist eine sehr gute Idee.
Man muss zwar nicht unbedingt zustimmen, ob die einzelnen Fälle in Hinsicht auf die Erfüllung der Kriterien richtig beurteilt wurden.
Aber immerhin wird so transparant gemacht, welche Kritierien überhaupt zugrunde gelegt werden.
@Reza Rosenbaum:
Also wenn sie schon Infowars und ZEIT auf eine Stufe stellen:
So ganz geht das nicht auf, oder? Ihre Kritik am konstruktiven Journalismus in allen Ehren, aber völlig frei erfundene Geschichten finden Sie hier m.E. nur sehr, sehr selten –, dagegen bei Infowars…
Der „wichtigste Grund“ für LePen, Wilders und Co. ist, dass manche Menschen es nicht akzeptieren können, dass es die einfachen Antworten die sie fordern so nicht geben kann.
@RezaRosenbaum
man kann „konstruktiven journalismus“ auch völlig anders verstehen, z.b. wie es ‚perspective daily‘ versucht, und dann braucht der begriff keine anführungszeichen. mehr. und was die ZEIT hier mit diesem blog versucht, ist ebenfalls konstruktiver journalismus (ohne anführungszeichen).