Dieser Text erscheint im Glashaus-Blog. Was es damit auf sich hat, erfahren Sie hier.
Der Spiegel hat am 19. Dezember in eigener Sache über einen Fall berichtet, der eine Diskussion über journalistische Standards ausgelöst hat. Der Spiegel-Reporter Claas Relotius hat eingeräumt, in diversen Fällen Geschichten erfunden, manipuliert oder zumindest verfälscht zu haben. Seine mehr als 50 Beiträge für den Spiegel sollen nun von einer unabhängigen Kommission überprüft werden. Das Magazin spricht von „hoher krimineller Energie“ und einem Tiefpunkt in seiner Historie. Claas Relotius hat inzwischen gekündigt.
Auch für ZEIT ONLINE und ZEIT WISSEN hat Relotius in der Zeit von 2010 bis 2012 als freier Autor insgesamt sechs Beiträge verfasst, die wir nun auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen. Hier in unserem Transparenz-Blog Glashaus dokumentieren wir unseren jeweils aktuellen Wissensstand.
Bevor er zum Spiegel wechselte, hat Claas Relotius, 33, die Hamburg Media School absolviert und zunächst als freier Journalist gearbeitet, unter anderem für Cicero, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die Welt, die Neue Zürcher Zeitung und auch ZEIT ONLINE. Seit 2014 schrieb er für den Spiegel, erst als freier Autor, seit 2017 fest angestellt. Seine Arbeit wurde mit etlichen Preisen ausgezeichnet, etwa dem CNN Journalist Award, dem Reemtsma Liberty Award, dem Peter-Scholl-Latour-Preis und mehrmals mit dem Deutschen Reporterpreis. Gegenüber dem Spiegel hat Relotius angegeben, auch in seiner Zeit vor seiner Tätigkeit für das Nachrichtenmagazin mit ähnlichen Methoden gearbeitet zu haben. Allerdings seien nur manche Texte verfälscht, nicht alle.
Für ZEIT ONLINE und ZEIT WISSEN hat Relotius im Einzelnen folgende Beiträge verfasst:
- eine Reportage aus einem italienischen Dorf, das Flüchtlingen eine Heimat bot (13. November 2012)
- eine Reportage über ein Dorf für Demenzkranke in den Niederlanden (11. Oktober 2011)
- einen Beitrag über ein Hamburger Ehepaar, das sich entschlossen hat, ein Trisomie-21-Kind nicht abtreiben zu lassen, obwohl es bereits ein behindertes Kind hat (15. Juli 2011)
- ein Interview mit dem Filmemacher Austin Lynch (11. März 2011)
- eine Rezension in unserem Blog Tonträger (9. Februar 2011)
- eine Reportage von der Müllkippe Bordo Poniente in Mexiko (12. November 2010)
Wir haben damit begonnen, die Fakten in den genannten Beiträgen zu überprüfen. Parallel zu den eigenen Recherchen haben wir auch Claas Relotius auf verschiedenen Wegen kontaktiert und Fragen zu den Details seiner Beiträge gestellt. Auf E-Mails und Anrufe hat Claas Relotius noch nicht reagiert. Auf eine begleitende SMS hat er am 19. Dezember um 19.27 Uhr lediglich geantwortet: „Alles korrekt“. Wir versuchen weiter, mit Claas Relotius zu sprechen. Folgendes hat unsere noch laufende Überprüfung bisher ergeben:
1. Es gibt natürlich das im Beitrag beschriebene Dorf Riace in Italien, auch den mehrfach zitierten Bürgermeister Domenico Lucano und seine flüchtlingsfreundliche Politik. Sie sind auch in vielen unabhängigen Medienberichten gut dokumentiert. Kürzlich erst machte das Dorf wieder Schlagzeilen, weil die italienische Polizei Bürgermeister Lucano unter Hausarrest stellte. Der Filmemacher Wim Wenders hat 2010 einen Kurzfilm über die Geschichte des Dorfes gedreht.
Mehrere Details aus dem Beitrag lassen sich derzeit jedoch schwer überprüfen. Ob Claas Relotius wirklich dort war, ob er mit allen Personen im Text persönlich gesprochen hat, ob alle Zitate so gefallen sind und ob diese Personen alle existieren, wissen wir derzeit noch nicht: die Flüchtlinge „Adama Kone“ und „Fatma“ etwa sowie die Lehrerin „Emilia“.
Einzelne Protagonisten und manche Details, die im Beitrag genannt sind, tauchen so oder so ähnlich auch in anderen Medienberichten und Blog-Beiträgen auf und könnten von dort inspiriert sein.
Der Artikel ist fast wortgleich auch in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht worden.
Update vom 20.12.2018: Das Büro des Bürgermeisters hat auf unsere Anfrage reagiert: Ein Mitarbeiter (der Bürgermeister selbst darf derzeit sein Dorf nicht betreten) teilt uns mit, dass sehr viele Journalisten Riace besucht hätten. Es sei also durchaus möglich, dass Relotius den Bürgermeister getroffen habe. Sicher ist dies gleichwohl nicht. Über die im Text zitierte Lehrerin namens Emilia sagt der Mitarbeiter: Tatsächlich habe es zu dem Zeitpunkt eine Lehrerin in dem Alter mit diesem Namen in Riace gegeben. Er habe aber keinen Kontakt zu ihr, da sie nach der Pensionierung ihres Mannes gemeinsam mit ihm weggezogen sei.
Update vom 9.7.2019: Wir haben uns dazu entschlossen, den Beitrag aus unserem Archiv zu entfernen, weil es uns bislang nicht gelungen ist, alle Zweifel auszuräumen.
2. Im Fall des Dorfes für Demenzkranke war gut ein Jahr nach Veröffentlichung des Beitrags, im Januar 2013, ein Reporter der ZEIT vor Ort und hat sich das Dorf erneut angeschaut. Seine Beobachtungen bestätigen Relotius’ Beschreibungen im Kern. Ob alle Protagonisten und beschriebenen Details des Beitrags exakt so stimmen, können wir noch nicht sagen. Wir haben den Betreiber des Heims, die Firma Vivium, um eine Stellungnahme gebeten, ob die von Claas Relotius beschriebenen Fakten zutreffen.
Update vom 7.1.2019: Die Heimbetreiber bestätigen in ihrer Antwort an uns die Eckpunkte des Artikels. Auch die Namen der zitierten Protagonisten seien korrekt.
Update vom 9.7.2019: Wir haben uns dazu entschlossen, den Beitrag aus unserem Archiv zu entfernen, weil es uns bislang nicht gelungen ist, alle Zweifel auszuräumen.
3. Im Fall des Beitrags über die Familie, die sich entschlossen hat, ein zweites Kind mit Down-Syndrom zu bekommen, haben wir bisher vergeblich versucht, die im Text erwähnten Protagonisten zu finden. Im Artikel wird die Familie namentlich erwähnt: Maja und Philipp Sand mit ihrem Sohn Dominik. Eine Suche nach diesen Namen führt auf eine einzige Quelle: den Artikel auf ZEIT ONLINE.
Das ist ungewöhnlich. Hätten sich nicht auch andere Medien für eine solche Familie interessiert, hätten nicht Selbsthilfegruppen das Beispiel aufgenommen? Denn anonymisiert wurden die Namen offenbar nicht: Nach unseren redaktionellen Regeln muss gekennzeichnet werden, wenn Namen von Personen in einem Artikel verändert werden.
Es gibt einen anderen Fall einer Familie mit zwei Trisomie-21-Kindern, Familie Friedrichs, zu dem sich auf Anhieb eine Reihe von Berichten und Videos finden lässt. Warum also nicht zu Familie Sand? Auch in den Leserkommentaren unter dem Artikel finden sich keine Hinweise; niemand scheint die Familie zu kennen.
Noch eine weitere Person wird in dem Artikel genannt, ein Entwicklungspädagoge namens Sven Dethmold. Auch hier wirft die Internetsuche nur einen einzigen Eintrag aus. Es gibt spezielle Datenbanken, in denen man nach Nachnamen suchen kann, beispielsweise vom Verein für Computergenealogie oder ahnenforschung.de. Sucht man dort, ob es den Nachnamen Dethmold in Deutschland in dieser Schreibweise gibt, erhält man gar kein Ergebnis.
Über Dethmold schreibt Relotius, er betreue Dominik „im örtlichen Förderkreis“. In Hamburg gibt es eine ganze Reihe von Einrichtungen und Selbsthilfegruppen, die sich um Kinder mit Trisomie 21 kümmern. André Zimpel forscht zu Trisomie 21 an der Universität Hamburg und ist ein renommierter Fachmann. Er kennt auch die Hamburger Therapeutenszene gut. Doch der Name Sven Dethmold ist ihm noch nie begegnet, ebenso wenig eine Familie Sand. Auch beim Kontakt- und Informationszentrum Down-Syndrom KIDS Hamburg e.V. sind die Namen unbekannt. Dort kennt auch niemand eine Familie im Großraum der Hansestadt, die zwei Kinder mit Trisomie 21 hat.
Eklatante wissenschaftliche Fehler enthält der Beitrag nicht, allerdings auch wenig konkrete Informationen. Alles, was darin zu lesen ist, könnte sich so abgespielt haben. Ob es tatsächlich so war, können wir zweifelsfrei erst sagen, wenn wir die Protagonisten gefunden haben.
Sollten Sie Hinweise für uns haben, etwa zu den genannten Protagonisten, freuen wir uns über eine E-Mail an hinweise@zeit.de.
Update vom 9.7.2019: Wir haben uns dazu entschlossen, den Beitrag aus unserem Archiv zu entfernen, weil es uns bislang nicht gelungen ist, alle Zweifel auszuräumen.
4. Im Fall des interviewten Filmemachers Austin Lynch haben wir seine Produktionsfirma angefragt, ob es 2011 einen Termin mit Claas Relotius gegeben habe.
Update vom 20.12.2018: Es ist mittlerweile belegt, dass sich Relotius für eine Pressekonferenz mit Austin Lynch und Jason S. akkreditiert und anschließend schriftliche Fragen eingereicht hat, die von den beiden auf Englisch beantwortet wurden. Schriftliche Interviews sind außerordentlich selten bei ZEIT ONLINE, es muss sehr triftige Gründe dafür geben. Ob diese damals vorlagen, ist derzeit noch unklar. Inwiefern die Originalaussagen mit dem übersetzten und schließlich veröffentlichten Interview übereinstimmten, versuchen wir zu überprüfen.
Update vom 21.12.2018: Claas Relotius hat am 12. Januar 2011 seine Interviewfragen an Austin Lynch und dessen Kameramann Jason S. schriftlich eingereicht und der vermittelnden Produktionsfirma eine nachträgliche Autorisierung zugesagt.
Am 18. Januar erhält Relotius über die Mitarbeiterin der Produktionsfirma den von den Künstlern ausgefüllten Fragebogen. Als er sich daraufhin nicht zurückmeldet, hakt die Mitarbeiterin zwei Tage später nach, ob er das Material erhalten habe und die Autorisierungsfassung schicken könne.
Am 26. Januar antwortet Claas Relotius der Produktionsfirma, das Material sei für ein Frage-Antwort-Interview nicht ausreichend. Er überlege nun, einen Artikel daraus zu machen. Tatsächlich verarbeitet Relotius das Material in Artikeln, die am 17. und 21. März in der Welt und der Financial Times Deutschland veröffentlich werden. Allerdings erscheint vorher, am 11. März 2011, ein sogenanntes Wortlautinterview mit Austin Lynch (ohne Jason S.) bei ZEIT ONLINE.
Leider liegt uns keine interne E-Mail-Korrespondenz aus diesem Zeitraum mehr vor, sodass nicht überprüft werden kann, wer mit Relotius welche Verabredungen zum Thema getroffen hat. Dennoch galt auch schon 2011, dass schriftlich geführte Interviews bei uns nur in Ausnahmefällen erscheinen können: Sie bilden keine reale Gesprächssituation ab und können allzu leicht für nicht hinterfragbare Marketingverlautbarungen missbraucht werden.
Im Rahmen der nachträglichen Überprüfung dieses Falls ist die schriftliche Interviewform jedoch sehr hilfreich. So sind nämlich die Originalantworten von Austin Lynch und Jason S. dokumentiert – die damalige Mitarbeiterin der Produktionsfirma hat uns jetzt die Datei zur Verfügung gestellt, die sie am 18. Januar 2011 an Claas Relotius übermittelt hat.
In der Tat wirken die Antworten der Künstler eher pflichtbewusst als motiviert oder gar inspiriert. Dass Relotius darin nicht viel Brauchbares zu finden glaubte, ist nachvollziehbar. Es passiert nicht selten in der journalistischen Praxis, dass nach der Autorisierung eines Interviews vom eigentlichen Gespräch nicht mehr viel übrig bleibt oder alle aus journalistischer Sicht interessanten Passagen gestrichen wurden.
Die Entscheidung, als Alternative nur wenige Interviewpassagen in einem Fließtext zu verarbeiten, ist in solchen Situationen durchaus üblich. Was allerdings absolut unüblich ist und jegliche Standards redlicher journalistischer Arbeit verletzt, ist die fiktionale Fortschreibung von Interviews. Vergleicht man das englische Original mit dem bei ZEIT ONLINE erschienenen Interview, wird deutlich, dass beide Fassungen sich nur wenig überschneiden. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die bei uns erschienenen Interviewaussagen zu etwa zwei Dritteln erfunden sind und zu einem Drittel zumindest sehr frei übersetzt. Offenbar hat Claas Relotius die Aussagen der Künstler nachempfunden, weiterentwickelt und dramatisiert.
Es geht in dem Interview um ein Dokumentarfilmprojekt, in dessen Rahmen Austin Lynch und Jason S. durch Deutschland gereist sind und Menschen auf der Straße nach deren Lebenssituation befragt haben.
Relotius möchte im publizierten Interview wissen: „Haben Sie die Menschen in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich wahrgenommen?“ Die Originalantwort lautet: „At this time we have not discerned any significant differences in the geographical regions. This question will be better suited to when we have finished the editing process.“ Ins Deutsche übertragen: „Bis jetzt haben wir keine signifikanten Unterschiede zwischen den geografischen Regionen festgestellt. Diese Frage wird besser zu beantworten sein, wenn wir den Schnittprozess abgeschlossen haben.“ Daraus macht Relotius folgende Antwort: „Es war seltsam: Als wir in den Osten fuhren, schien sich plötzlich eine dunkle Wolke über uns zu legen – es wollte sich einfach niemand mehr interviewen lassen. Wir dachten schon, die Menschen in Ostdeutschland wären möglicherweise wirklich ganz anders als im Rest des Landes. Aber dann trafen wir irgendwo auf einem Bauernhof eine fröhliche rothaarige Frau namens Heidemarie und wir konnten unseren ersten Eindruck zum Glück wieder über den Haufen werfen. Menschen sind eben doch überall gleich.“
Aus welchen Quellen Claas Relotius diese Aussage zusammenmontiert hat, können wir nicht mehr nachvollziehen. Klar ist nur, dass sie nicht aus dem schriftlich geführten Originalinterview stammt. Auch der letzte Satz des Interviews, gleichzeitig die Überschrift, ist offensichtlich erfunden: „Die unscheinbarsten Menschen erzählen oft die unglaublichsten Geschichten.“
Update vom 9.7.2019: Wir haben uns dazu entschlossen, den Beitrag aus unserem Archiv zu entfernen.
5. Unproblematisch scheint auf den ersten Blick die Rezension, die Claas Relotius für das Tonträger-Blog von ZEIT ONLINE verfasst hat. Die rezensierte CD gibt es, die Rezension ist natürlich Geschmackssache.
6. Die im Beitrag von 2010 beschriebene Müllkippe Bordo Poniente in Mexiko wurde vor Jahren geschlossen. Einer der Protagonisten der Geschichte, der Müllmafia-Boss Pablo Téllez, taucht in zahllosen Berichten über die Müllsammler in deutschen und internationalen Medien auf. Es ist auch breit dokumentiert, dass es die Müllkippe, die Abfallsammler, das Gift und die unerträglichen Zustände dort wirklich gegeben hat.
Wiederum: Ob Claas Relotius wirklich dort war, alle Protagonisten existieren und alle Zitate genau so gefallen sind, können wir derzeit noch nicht sagen.
Einen Monat nach der Veröffentlichung auf ZEIT ONLINE erschien dieselbe Geschichte von Claas Relotius auf welt.de.
Update vom 9.7.2019: Wir haben uns dazu entschlossen, den Beitrag aus unserem Archiv zu entfernen, weil es uns bislang nicht gelungen ist, alle Zweifel auszuräumen.
Sobald wir neue Erkenntnisse über die einzelnen Beiträge haben, werden wir diesen Blog-Eintrag aktualisieren und dies kenntlich machen. Sollten Sie Hinweise dazu haben, freuen wir uns über Ihre E-Mail an hinweise@zeit.de.
Jetzt seht ihr euch die Beiträge an? Jetzt? Naive Frage, warum seht ihr euch das Zeug nicht vorher an? Da wundert ihr euch dass sich solche Machenschaften Bahn brechen aus vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Blattlinie? Und überhaupt, wie wäre es mit zurück zum Ursprung? Sprich : Berichten! Und zwar objektiv. Wer eine Meinung hat soll einen Blog schreiben oder ein Buch. Ein echter Journalist hat keine Meinung zu haben. Danke.
Fein, wie die Kommentarspalten der Artikel jetzt schon voller Besserwisser sind, die vor 20 Stunden Kommentare nach dem Motto „Ich habe was auf SPON gelesen…“ geschrieben haben, und sofort die Suche hier angestoßen haben..
Einen Tag bevor der SPIEGEL den Skandal öffentlich machte, gab es dort einen Artikel über den „Reiseschriftsteller“ Kar May. Dass Karl May als er seine bekannten Romane schrieb noch nie an den entsprechenden Schauplätzen war, ist heute natürlich allgemein bekannt. Aber es war damals, als es rauskam, ein Skandal, der sich auch bei May niederschlug. Aber May war ein Kind seiner Zeit, und auch die Leser waren in ihrem Kontext gefangen, und glaubten nur zu gerne die Geschichte des deutschen Superhelden. Auch May hate psychische Probleme, und verstrickte sich immer mehr in seinen Lügengeschichten. Relotius ist sogesehen ein moderner Karl May. Er vermischte auch Realität mit Fiktion. Die „gute Geschichte“ ist allemal lesenswerter als die „wahre Geschichte“. So wie es damals nicht nur ein Problem von May war, so ist es heute nicht nur ein Problem von Relotius. Die Presselandschaft, vor allem im digitalen Zeitalter, verlangt immer schneller, immer bessere, immer „authentischere“ Reportagen und Geschichte. Geschichten, die sowohl die Erwartungshaltung der Redakteure als auch der Leser erfüllen. Und Erfolg, bei Relotius, wie auch bei May, kann tatsächlich „krank“ machen, kann die Psyche zersetzen. Vertrauen ist die Währung bei einer freien Presse. Gut, dass es Journalisten gibt, die teilweise gegen Widerstände, die Stories ihrer Kollegen checken, und gegebenenfalls Alarm schlagen, und auch gut, dass Zeit online sich hinterfragt, und die früheren Reportagen überprüft. Das schafft Vertrauen.
Jetzt hat einer mal „Haltung“ gezeigt, statt recherchiert, geliefer was erwartet und gerne gelesen wurde und dann ist es auch nicht recht.
Was wollt ihr eigentlich?
Entweder berichtet ihr was ist und wenn das nicht ins Narrativ passt, dann berichtet halt nicht davon.
Mich irritiert, dass die Zeit nicht mal weiß, ob Relotius wirklich vor Ort war, sei es in Mexiko oder Süditalien. Ab einem gewissen Level werden anscheinend keine Reisespesen mehr abgerechnet, sondern die Pauschale reicht für einen mehrwöchigen Urlaub in Übersee. Macht kein gutes Bild.
Zu diesem Vorgang habe ich zwei Anmerkungen:
1) Wenn über Probleme in irgendwelchen pressefremden Branchen (Post, Paketdienste, Einzelhandel, Fachhandel, …) berichtet wird, dann ist immer das Unternehmen schuld – niemals ein fauler, unaufmerksamer, unausgeschlafener oder sonstwie unmotivierter Mitarbeiter. Hier wird jetzt erstmal alles auf den Journalisten abgeschoben.
2) Ich finde die strukturelle Entwicklung in der Medienlandschaft höchst bedenklich. Immer mehr Journalisten leben in prekären Verhältnissen und müssen sich als Freelancer mit miesen Zeilenhonoraren über Wasser halten. Spiegel & Co. sind hier keinen Deut besser als der Rest der Wirtschaft, wo das normale Angestelltenverhältnis mehr und mehr ausstirbt.
Was erwarten wir von Medien, deren Mitarbeiter nur noch von Auftrag zu Auftrag leben und Futter fürs Click-Baiting liefern müssen? Für mich ist der jetzt bekanntgewordene Fall nur das Symtom eine Branche, die ein gravierendes strukurelles Problem hat, ein Problem, das die Glaubwürdigkeit mehr untergräbt, als ein fehlgeleiteter Mitarbeiter.
Es ist nun einmal so, dass es überall „Schwarze Schafe“ gibt. Und die Versuchung etwas hinzu zu dichten, ist ja relativ groß, weil kaum jemand ein Gespräch später nachrecherchieren kann und das auch nicht will. Es muss ein Vertrauensverhältnis zwischen Redaktion und Autor geben, sonst geht Journalismus gar nicht mehr. Und die Transparenz, die der Spiegel, die Zeit etc. öffentlich machen, ist ganz klasse. Das würden fakenews-Medien wie Fox oder Breitbart so wohl nicht publizieren. Insofern macht der Umgang mit dem Thema den Spiegel oder die Zeit absolut glaubwürdiger.
Ich finde es schon erheblich, dass ein Faktencheck, der offensichtlich innerhalb von 24h möglich ist, nicht schon vor Veröffentlichung geschehen ist. Wenn es weder Kontakgdaten zu der Familie Sand noch ihrem Therapeuten gibt, kann das wirklich erdt jetzt auffallen?
Da fehlt doch entweder eine Kontrolleinheit oder die hat bisher nicht verstanden, was ihr Job ist?
Dass es zu Reisen von freien Autoren bei den Medienhäusern keine Nachweise gibt – ok. Aber auch SPON schrieb, dass sie nicht wissen, ob Reisen wirklich stattfanden. Da ergibt sich sofort die Frage, ob Journalisten keine Reisekosten und Spesen abrechnen? Dazu braucht man doch Belege. Vielleicht mal das Finanzamt fragen, was die so kennen….
Wenn sich Herr Relotius in vielen anderen Fällen unlauterer Methoden bedient hat, könnte es dann nicht auch sein, dass er anonymisierte Namen nicht entsprechend Ihren Regeln gekennzeichnet hat? Damit wäre die Suche nach den betroffenen Personen Ihres Beitrags zur Familie mit Down-Syndrom zusätzlich erschwert.
Journalisten dürfen auch Meinungen haben. Es gibt nicht „das, was ist“, unabhängig von einer Sichtweise. Man kann sich der „Realität“ nur annähern, sollte aber gewissenhaft sein. Aber ich bin schon verwundert, dass niemals zuvor ein Faktencheck erfolgte, niemand sich in der Redaktion die Mühe machte, z. B. bei zitierten Personen nachzufragen.