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Abschied von den Lebenslügen

 

Ich habe einen Leitartikel für die aktuelle Nummer der Bundestags-Zeitschrift Das Parlament geschrieben:


Auf einmal sagen es alle: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Einwanderungsland. Haben nun also diejenigen gewonnen, die diese Tatsache länger schon anerkannt haben – und diejenigen verloren, die viele Jahre mit ihrer Leugnung zugebracht haben? So einfach ist die Sache nicht. Es sind vielmehr die Lebenslügen beider politischen Lager an ihr Ende gekommen: Denn ohne Zweifel ist der naive Multikulturalismus mancher Linken gescheitert, die sich Integration als Selbstläufer vorstellten. Wir zahlen aber auch einen hohen Preis dafür, dass die Konservativen zwar einst die Anwerbepolitik in Gang setzten, zugleich aber den Menschen vorgaukelten, mit regelrechter Einwanderung hätte das nichts zu tun…

Insofern liegt eine gewisse historische Gerechtigkeit darin, dass nun die Christdemokraten in der Bundesregierung die Verantwortung für die Integrationspolitik tragen. Und es ist erstaunlich, wie umstandslos sie das falsche Bewusstsein hinter sich gelassen haben und pragmatisch ans Werk gehen. Die Bundeskanzlerin hat im Sommer – als erste in diesem Amt – eine große Gruppe von Migrantenvertretern feierlich im Kanzleramt zum Integrationsgipfel begrüßt. Das war ein wichtiger symbolischer Akt, der signalisierte: Ihr seid willkommen! Also kommt aus der Minderheitennische und arbeitet mit!

Nach der Sommerpause setzte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ein zweites lange fälliges Zeichen mit der „Deutschen Islamkonferenz“ im Charlottenburger Schloss in Berlin. Repräsentanten der Muslime – immerhin die zweitgrößte religiöse Gruppe im Lande – sahen sich endlich von oberster Stelle beherzt willkommen geheißen. Und die Staatsministerin für Integration im Kanzleramt, Maria Böhmer, nutzt seither bei jeder Gelegenheit die Würde ihres neugeschaffenen Amtes, um zu betonen: „Wir sind ein Einwanderungsland.“ Gut so!

Und nun? Anzuerkennen, dass wir ein Einwanderungsland sind, ist ja wohl kaum mehr als der erste Schritt zu einer neuen Politik.

Wir stehen vor den Trümmern der alten Integrationspolitik, die im Rückblick als eine Kette von Fehlentscheidungen, Illusionen und Augenwischereien erscheint. 50 Jahre deutsche Migrationspolitik haben ein orwellsches Neusprech irreführender und unbrauchbarer Begriffe hinterlassen.

Der „Gastarbeiter“ täuschte nicht nur die Deutschen, sondern auch die Neuankömmlinge über den Vorgang der Einwanderung hinweg. Das „Rotationsprinzip“, das die Heimischwerdung der Gäste verhindern sollte, wurde von Anfang an sabotiert – vor allem von der Wirtschaft. Was 1973 „Anwerbestopp“ hieß, brachte mehr Migranten als vorher. Die Politik behauptete, die „Rückkehrorientierung“ der Einwanderer stützen zu wollen, unterminierte diese aber zugleich durch „Familienzusammenführung“ (noch ein Deckwort für die tabuisierte Einwanderung). Die „Kettenduldung“ abschiebepflichtiger Flüchtlinge und Asylbewerber sanktionierte die Zuwanderung in die Sozialsysteme, die angeblich verhindert werden sollte. Auch die „Green Card“ war eine Mogelpackung – eine kurzfristige Maßnahme zum IT-Fachkräftenachschub ohne klaren Weg zur Staatsbürgerschaft. Und das „Zuwanderungsgesetz“ von 2005 entpuppte sich – ausweislich der letzten statistischen Erhebungen – als Zuwanderungsverhinderungsgesetz. Denn seit seinem Inkrafttreten ist die Einwanderung nach Deutschland nahezu zum Erliegen gekommen. „Wir haben in Deutschland heute mehr eine gefühlte Einwanderung“, sagt Bundesinnenminister Schäuble treffend. Die Zuwanderung ist nur noch gefühlt, doch die Integrationsprobleme der bereits Eingewanderten und ihrer Kinder sind echt. Die Große Koalition wurde gleich nach ihrer Amtsübernahme von den Ereignissen in den Pariser Banlieues überrascht. In Frankreich geborene, auf französischen Schulen erzogene französische Staatsbürger ließen einen schockierenden Hass auf die Gesellschaft heraus. Der Besitz der Staatsangehörigkeit und aller formalen Rechte eines Bürgers war offenbar keine ausreichende Bedingung für erfolgreiche Integration. Die frustrierte Hoffnung auf republikanische Teilhabe schlug in blinde Zerstörungswut um.

Schnell waren Gründe aufgezählt, warum dies so bei uns nicht passieren würde: keine Kolonialgeschichte mit unseren Einwanderern (und also keine entsprechenden Hassgefühle), keine (so großen) Ghettos am Rand der Städte, keine gebrochenen Gleichheitsversprechen (weil wir nie etwas versprochen hatten).

Aber die deutsche Selbstberuhigung klang wie das Pfeifen im Walde. Die brennende Banlieue wurde von Schäuble und Böhmer als Menetekel gesehen – zu Recht. Denn auch bei uns wachsen unübersehbar die „ethnischen Kolonien“ in den Städten, wie der Politologe Stefan Luft es nennt. Im Bildungssystem macht es sich zuerst bemerkbar. Beispiel Berlin: An der Neuköllner Rütli-Schule gaben die Lehrer auf; an der Eberhard-Klein-Schule in Kreuzberg – mit nunmehr 100 Prozent Schülern nichtdeutscher Herkunft – riet der Direktor deutschen Eltern, ihre Kinder anderswo einzuschulen; die Weddinger Hoover-Schule musste sich eine Deutschpflicht verordnen, um eine Verkehrssprache zu etablieren.

Die Segregationstendenzen in den deutschen Städten schreiten fort. Jeder dritte Deutschtürke zwischen 25 und 35 hat keine Ausbildung. Jeder zweite 15-Jährige geht auf die Hauptschule. Jeder Fünfte verlässt die Schule ohne Abschluss. Die Machokultur türkischer Jungs und Männer kompensiert das Loser-Gefühl. Die Arbeitslosigkeit unter Deutschtürken beträgt 25 Prozent. Und selbst wer in dieser Gruppe Arbeit hat, ist in der Regel schlecht bezahlt oder hält sich durch Selbstständigkeit, die in Wirklichkeit Selbstausbeutung ist, über Wasser. Das Prekariat hat, was meist verschwiegen wird, eine immer stärkere ethnische Einfärbung. Die schlechten Pisa-Ergebnisse Deutschlands gehen nicht zuletzt auf die im Bildungssystem abgehängten Migranten zurück.

Es ist zu einfach, dies pauschal dem Versagen des deutschen Erziehungswesens zuzurechnen. Denn so ist nicht zu erklären, warum vor allem Türken und Italiener so schlecht abschneiden, während etwa Vietnamesen und Spanier bei gleicher sozialer Ausgangslage gut zurechtkommen. Neben sozialen spielen offenbar auch kulturelle Faktoren eine Rolle. Und über sie muss endlich frei von Rassismusverdacht debattiert werden.

Auf Bildung kommt es an

Es ist richtig, dass die Integrationsdebatte am Ende immer bei Bildungsfragen landet. Wir erhoffen uns Besserung durch verpflichtende Integrationskurse, Sprachtests im Kindergarten, gebührenfreie Kitas, Durchsetzung der Koedukation im Sport, Deutschkurse für Mütter, Sprachtests für Zuwanderer schon im Auswanderungsland, mehr Ausbildungschancen für Migrantenkinder, Islam-Unterricht nach deutschem Curriculum, Imam-Ausbildung an deutschen Universitäten und den Ausbau der Ganztagsschule.

Ob Bildungsangebote aber schließlich integrationsfördernd wirken können, hängt auch von anderen Faktoren ab: von der Wertschätzung des Individuums, seiner Eigeninitiative und seiner Entscheidungsfreiheit (auch in religiösen Dingen), von der Verankerung des Pluralismus und vom Respekt für Bildung per se und nicht zuletzt von der Gleichberechtigung der Geschlechter.

Der freiheitliche Staat muss solche Rechte durchsetzen, nötigenfalls auch innerhalb der Familie. Er muss gegen Zwangsehen vorgehen und die Teilnahme von Mädchen am kompletten Schulunterricht – Schwimmen und Biologie eingeschlossen – erzwingen. Nur, wenn er so konsequent vorgeht, kann er über Bildung Teilhabe ermöglichen, Werte vermitteln und Grundrechte durchsetzen.

Wir bleiben dabei jedoch – wenn wir eine liberale Gesellschaft bleiben wollen — auf das Entgegenkommen der Einwanderer angewiesen, diesen Staat als den ihren anzunehmen. Der Staat kann Integration weder befehlen noch erzwingen. Ob sie gelingt, ist schließlich der Verantwortung des Einzelnen überlassen.

Zur Panik gibt es (noch) keinen Anlass: Die Verfehlungen der bundesdeutschen Ausländerpolitik liegen heute immerhin offen zutage. Und es macht Mut, dass Integration politisch nicht mehr unter „Gedöns“ läuft, sondern als Schicksalsfrage und Querschnittsaufgabe erkannt ist. Mit der Erkenntnis, dass wir ein Einwanderungsland sind, in dem sich eingespielte Verhältnisse von Mehrheit und Minderheit auflösen – 2010 bereits werden 40 Prozent unter 35 Jahren einen Migrationshintergrund haben -, gerät nicht nur die Mehrheitsgesellschaft unter Druck, ein neues Selbstbild zu entwickeln. Auch die Migranten müssen an ihre Lebenslügen heran, die an den Integrationsproblemen mitschuldig sind. Wer auf Dauer bleibt und eine gute Zukunft für seine Kinder wünscht, muss sich zu diesem Land bekennen, muss Selbstabschottung durchbrechen, muss aufhören, sich immer bloß als Opfer verfehlter Politik zu sehen und sein Leben in die eigenen Hände nehmen.

Noch sind wir von französischen Verhältnisse weit entfernt. Wir werden sie aber auf Dauer nur gemeinsam verhindern können.